J. Wietschorke: Soziale Mission im dunklen Berlin 1911–1933

Cover
Titel
Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin 1911–1933


Autor(en)
Wietschorke, Jens
Reihe
Campus Historische Studien 67
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
451 S.
Preis
€ 51,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Urs Hardegger, Zürich

Jens Wietschorke, derzeit am Lehrstuhl für Europäische Ethnologie an der Universität Wien tätig, zeichnet in der vorliegenden, gut lesbaren Untersuchung die Tätigkeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost (SAG) im Zeitraum von 1911 bis 1933 nach. Dem Autor stand im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin umfangreiches Quellenmaterial der SAG zur Verfügung, welches er methodisch fundiert bearbeitet hat. Damit liegt nun erstmals eine umfangreiche Studie zu dem Gegenstand vor.1

Die Arbeit ist in zehn Kapitel unterteilt, der chronologische Aufbau wird durch thematische Überblicksdarstellungen durchbrochen, die sich im Wesentlichen auf den gesamten Untersuchungszeitraum beziehen. Mit der Unterteilung in drei Phasen nimmt Wietschorke eine zwar zeitlich etwas ungleiche, aber thematisch sinnvolle Periodisierung des Untersuchungszeitraumes vor. Lesenswerte „Nahaufnahmen“ mit biografischen Informationen über wichtige Exponenten des Projekts ergänzen die Darstellung.

Die Untersuchung ist detailreich, trotzdem gehen die großen Zusammenhänge nicht verloren. Es wird deutlich, wie Wietschorke durch die Kontextualisierung der soziokulturellen Phänomene die Handlungslogik und die dahinterliegende „praktische Vernunft“2 herausarbeiten möchte. Gemeint sind „religiöse, künstlerische und ökonomische“ Faktoren (S. 24), oder anders gesagt, das „Ensemble von Dispositionen, Kompetenzen und Praktiken“3, welche die Regeln des Spiels vorgeben. Im Fokus stehen bürgerliche Studenten, Theologen und Pädagogen, die – inspiriert von der englischen Settlementbewegung – für sich beanspruchten, mit ihrer Tätigkeit die geografischen und sozialen Demarkationslinien in Berlin aufzubrechen. Christoph Sachße hat angesichts der Tatsache, dass die englische Settlementbewegung bereits in den 1880er-Jahren in Deutschland rezipiert worden war, von der „Spätimplementation eines etwas angegrauten Reformkonzeptes“4 gesprochen.

Das Elend lässt sich geografisch lokalisieren, es ist das „dunkle Berlin“ um den Schlesischen Bahnhof mit seinen Mietskasernen, billigen Kneipen, Lichtspieltheatern und Varietés, wahrgenommen, wie eine Mitarbeiterin es ausdrückte, als „Schauplatz wüstesten Treibens“ mit „schmutzigen Straßen, zerlumpten blassen Menschen, schreienden Straßenjungen“ (S. 36). Wietschorke arbeitet in seiner Studie das normative Fundament dieser Wirklichkeitsbeschreibung wie auch ihren Bezug zum protestantischen Missionsgedanken, zu bürgerlichen Elitekonzepten und ihrer Legitimierungsfunktion überzeugend heraus. Je dunkler das Missionsgebiet, desto heller konnte die eigene Tätigkeit erstrahlen. Orientierungspunkt der Beurteilung war ein bildungsbürgerliches Selbstverständnis, in dem der irregeleitete, rohe Arbeiter auf den richtigen Weg gebracht werden musste.

Die Wahrnehmung des Arbeiterquartiers als gefährlicher Ort der Desintegration und Degeneration und die damit verbundene bürgerliche Zivilisationskritik sind bereits früher nachgezeichnet worden, aber Wietschorke gelingt es, diese Position am Beispiel der „Arbeiterfreunde“, wie sich die Mitarbeitenden gerne selber bezeichneten, plausibel nachzuweisen. Interessant ist, dass Wietschorke den Blick nicht in erster Linie auf die Adressaten, sondern auf die Selbst- und Fremdbilder richtet, welche in den Praktiken sichtbar werden, auf klassenspezifische kulturelle Codes, die aus ihnen hervorscheinen, und auf Rückspiegelungseffekte, die auf die Akteure zurückfallen.

Im zweiten Kapitel erläutert Wietschorke die Umstände, die zur Gründung des Settlements führten. Wie so oft bei privaten Gründungen brauchte es eine Gründungsfigur, welche mit Charisma, Durchhaltewillen und Beziehungsnetz dem Unternehmen zum Erfolg verhelfen kann. In der SAG war der Theologe Friedrich Sigmund-Schultze diese charismatische Persönlichkeit. Er wollte den Arbeitern die Kirche zurückbringen, auf sie zugehen und so den sozialistischen Ideen ein eigenes Angebot entgegen setzen. Vor dem Hintergrund der Angst, dass die Gesellschaft an Klassenwidersprüchen und einer sozialistischen Revolution zerbrechen könnte5, sollten bürgerliche Studenten zu den Arbeitern gehen, sie an den Segnungen der bürgerlichen Kultur teilhaben lassen und dadurch die Klassengegensätze auf zwischenmenschlicher Ebene überwinden. Gleichzeitig bot sich der bürgerlichen Studentenschaft Gelegenheit zur praktischen Bewährung.

In den Kapiteln 3–5 analysiert Wietschorke das bürgerlich-protestantische Selbstverständnis, das Studierende aus der bürgerlichen Bildungsschicht dazu führte, sich als residents unter die Arbeiter zu mischen. Es ging darum, das „wirkliche Leben“ (S. 159) kennen zu lernen und soziale „Naherfahrung[en]“ (S. 165) zu machen. Dieser Anspruch konnte allerdings nur teilweise eingelöst werden, denn Arbeiterfreunde blieben vor allem „eine Gemeinschaft der ‚Siedler‘ untereinander“ (S. 88).

Dazu schreibt Wietschorke treffend: „Praxis und Selbstverständnis der Bildungsbürger sind nur in Bezug auf eine Arbeiterschaft zu begreifen, die als Klientel der sozialen Arbeit, als Projektionsfläche neuer intellektueller Selbstbilder und als Legitimationsfigur auf dem Feld innerbürgerlicher Deutungskonkurrenz in den Blick kamen “ (S. 35). Ein in der Krise befindliches Bildungsbürgertum, das befürchtete, die eigene geistige kulturelle Eliteposition durch Oberflächlichkeit, Nutzdenken und moralischen Niedergang zu verlieren, benötigte demnach das Proletariat zur eigenen Selbstvergewisserung (S. 35). Wie andere sozialpädagogische Einrichtungen kam auch die SAG ohne die Unterscheidung von rough und respectable, von „heruntergekommenen“ und „anständigen“ Arbeitern nicht aus. Das unterprivilegierte Milieu, das sich resistent gegenüber den Verbesserungsbemühungen der Residents zeigte, musste ausgeschlossen werden, damit überhaupt Erfolge vorgewiesen werden konnten. Aus den Berufsangaben der Teilnehmer einer Ferienfahrt schließt Wietschorke, dass die meisten Teilnehmenden aus relativ soliden Elternhäusern stammten. Damit stimmen seine Ergebnisse mit Untersuchungen bei ähnlich gelagerten Institutionen überein. Seine Folgerungen auf die weltanschauliche Ausrichtung der Klientel (konservativ, liberal und kirchennah) erscheinen dagegen weniger nachvollziehbar (S. 119).

Die SAG entfaltete für ihre Klientel ein erstaunliches Maß an Aktivitäten. Diese reichten von Stenographiekursen über Unterhaltungsabende, Expertenvorträge, theologische Übungen, Arbeitsbesprechungen bis hin zu sportlichen Aktivitäten und Kegeln. Darüber hinaus bot eine „Frauenkolonie“ diverse Aktivitäten für junge Mädchen an. Hier sieht Wietschorke durchaus positive Effekte des Engagements der Arbeiterfreunde, wenn er auch im achten Kapitel auf die disziplinierenden Anteile hinweist. Hilfe und Kontrolle überlagerten sich dort, wo zum Beispiel das „Schlechte“ durch das „Gute“ substituiert werden, der Club die Bande, der Abenteuerroman das Schundheft und der Singkreis den Tanzschuppen ersetzen sollte. Trotz allem blieb das Settlement ein kleines Projekt, nehmen sich die tausend Familien6, die die SAG auf dem Höhepunkt ihrer Tätigkeit erreichte, vor dem Hintergrund der gesamten sozialen Problemlage bescheiden aus.

Eines der interessantesten Ergebnisse der Studie ist die Wandlung, welche die SAG im Verlauf der Zeit durchlief. Die Akteure konnten sich den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen nicht entziehen, mussten sich Veränderungen anpassen, wenn sie bei ihrer Zielgruppe auf Resonanz stoßen wollten. Weltkrieg und gesellschaftliche Umbrüche spiegelten sich in der Arbeit wider, sowohl bei den Adressaten als auch bei den Mitarbeitern. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Arbeit im dunklen Berlin vor allem als Zivilisierungsmission der bürgerlichen Jugend betrachtet, die der inneren Hebung, der Rettung der „wertvollen“ Arbeiterschaft und deren Distanzierung vom „ganz unten“ diente. Während des Kriegs prägten nationalistische Überbrückungs-und Gemeinschaftsphantasien die Rhetorik. In der Weimarer Republik setzte sich allmählich eine pragmatische Orientierung der Sozial- und Bildungsarbeit durch. Während man vor dem Ersten Weltkrieg die Arbeiter noch vor der „roten Massenerkrankung“ retten und sie – im Sinne von Ferdinand Tönnies7 – in die Gemeinschaft des Volkes einbinden wollte, suchte man im Verlauf der Weimarer Republik den Anschluss zur Volksbildungsbewegung. Außerdem setzten sich immer mehr diejenigen Kräfte durch, die der Emanzipation der Arbeiter durch den Sozialismus aufgeschlossen gegenüber standen.

Wietschorke liefert mit seiner differenzierten Analyse einen fundierten Beitrag zur Fürsorgegeschichte und legt einen weiteren wichtigen Mosaikstein zu den vielen bereits vorliegenden Untersuchungen der Praktiken ähnlich gelagerter privater und staatlicher Sozialinstitutionen. Man darf von der Lektüre nicht gänzlich neue Einsichten in die komplexen Zusammenhänge von Hilfe, Disziplinierung und Selbstinszenierung in der Sozialpädagogik erwarten, eine sehr lesenswerte, fundierte Einzelfallstudie ist sie jedoch allemal.

Anmerkungen:
1 Siehe zur SAG auch die früheren Untersuchungen in: Rolf Lindner u.a. (Hrsg.), Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land. Die Settlementbewegung in Berlin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 1997.
2 Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998.
3 Friedrich Siegmund-Schultze, Wege zum Aufbau der neuen Volksgemeinschaft (1922), in ders., Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision, München 1990, S. 351–366.
4 Christoph Sachße / Friedrich Siegmund-Schultze, Die Soziale Arbeitsgemeinschaft und die bürgerliche Sozialreform in Deutschland, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Friedrich Siegmund-Schultze, Stuttgart 2007, S. 35–49.
5 Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2008.
6 Rolf Lindner, Konjunktur und Krise des Kulturkonzepts, in: Lutz Musner / Wolfgang Mderthaner (Hrsg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 69–87.
7 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1963.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension