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Titel
Demokratie erschreiben. Bürgerbriefe und Petitionen als Medien politischer Kultur 1950–1974


Autor(en)
Fenske, Michaela
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Verheyen, Historisches Institut, Universität zu Köln; z.Zt. Wissenschaftskolleg zu Berlin

Auch in ‚indirekten‘ Demokratien treten Bürgerinnen und Bürger zuweilen ‚direkt‘ mit der Regierung in Kontakt – zum Beispiel per Brief. Zwar gelten Bitt- und Beschwerdebriefe an politische Machthaber in erster Linie als eine vormoderne Praxis, die sich in repräsentativen Demokratien eigentlich erübrigt haben sollte. Wozu einen Brief aufsetzen, wenn man seinen Willen jederzeit öffentlich artikulieren und über Wahlen Einfluss nehmen kann? Folglich sind solche Briefe vor allem für Monarchien und Diktaturen untersucht worden.1 Aber wie Michaela Fenske nun eindrücklich für die frühe Bundesrepublik zeigt, wird in Demokratien ebenfalls an die Führung geschrieben; und diese Form des Schreibens ist politisch relevant.

Die Kulturanthropologin stützt sich in ihrer Göttinger Habilitationsschrift neben einigen Interviews vor allem auf eine Auswahl von rund 1.000 Bürgerbriefen und knapp 800 Petitionen, die zwischen 1950 und 1974 den Landtag und den Ministerpräsidenten im Bundesland Niedersachsen erreichten. Methodisch sowohl an die Historische Anthropologie wie an die politische Kulturforschung anknüpfend, ordnet Fenske diese Quellen in die lange Tradition von Briefen der Bevölkerung an politische Machthaber ein und untersucht, wie sich die Westdeutschen in diese Tradition buchstäblich einschrieben – und zugleich in die Demokratie. Denn während die bisherige Forschung es nahelege, die Schriftstücke als anachronistische Mittel der Kommunikation zwischen Bevölkerung und Regierung zu lesen sowie als Zeugnisse einer ‚Untertanenkultur‘, die „in der Demokratie eigentlich zunehmend überflüssig sein sollten“, fragt die Autorin gerade umgekehrt: „Welche Funktionen spielen die Briefe im Hinblick auf die Haltung des Einzelnen gegenüber dem sich neu etablierenden politischen System?“ (S. 31) Dieses Forschungsdesign stößt in eine doppelte Leerstelle vor. Erstens mangelt es in der Zeitgeschichte noch immer an Studien, die sich konsequent an die Historische Anthropologie anlehnen. Die „Ethnographie des Schreibens“ (S. 10) und der „fremde Blick“, die Fenske als methodische Orientierungspunkte dienen (S. 38), werden zumal in der Historiographie zur alten Bundesrepublik nur selten erprobt. Zweitens ist die politische Kultur der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft breit untersucht worden, aber Bürgerbriefe und Petitionen wurden dabei nicht systematisch einbezogen, sondern fanden nur im Hinblick auf eng begrenzte Themen Beachtung.2

Das auf die Einleitung folgende zweite Kapitel ist methodisch besonders gelungen, denn es legt den Fokus auf die Schreibenden und die Praxis des Schreibens selbst, was unter anderem die narrative Struktur der Briefe einschließt, aber auch die Dichte, mit der das Papier oft handschriftlich bis an den Rand gefüllt wurde. Viele Absender griffen laut eigener Aussage erst nach erheblicher Selbstüberwindung zum Briefpapier, weil ihnen die Hilfe anderer Anlaufstellen – von den Behörden bis zu den Nachbarn – versagt geblieben war, obwohl sie im schriftlichen Ausdruck unsicher waren und sich für ihre Bitten schämten. Das ist leicht als Legitimationsstrategie erkennbar, verweist aber auch auf reale Notsituationen. So macht Fenske einerseits das enorme soziale und politische Spektrum der Absender deutlich. Andererseits schrieben bestimmte Gruppen auffällig oft: zum Beispiel Flüchtlinge, die in ihrer neuen Heimat keine Arbeit fanden; verwitwete Frauen, die um ihre Bezüge kämpften; sowie generell Menschen, die sich selbst als gesellschaftliche Außenseiter sahen. Jedes Anliegen wurde von den Empfängern genau geprüft, egal ob es sich um eine Bitte in eigener Sache, eine Stellungnahme zu einem politischen Thema, die Huldigung oder die Schmähung der in der Regel männlichen Politiker handelte. Die Bearbeitung von Petitionen im Landtag zog sich oft Jahre hin, die Ministerpräsidenten und ihre Mitarbeiter dagegen reagierten schneller, und mancher Absender erhielt von einem gönnerhaften Politiker sogar das erhoffte Geldgeschenk. Andere bekamen aber eine Abfuhr, und wer daraufhin hartnäckig immer weiter schrieb, wurde in den Akten mitunter als „Querulant“ gebrandmarkt (S. 138).

Das nächste, eher konventionelle Kapitel nimmt fast die Hälfte des Buches ein. Fenske präsentiert hier die thematische Bandbreite von Bürgerbriefen und Petitionen, die zwischen diesen beiden Genres erstaunlich wenig divergierte. Das verweist auf die Unsicherheit vieler Schreibender über den politischen Prozess und plausibilisiert Fenskes Entschluss, Bürgerbriefe und Petitionen als ein gemeinsames Medium politischer Kommunikation zu untersuchen. Vor allem aber macht die Autorin in diesem Kapitel deutlich, wie sich die verhandelten Themen im Zeitverlauf verschoben. In der ersten Nachkriegsdekade stand die Versorgung mit Wohnraum und Erwerbsarbeit im Zentrum, es ging um die Suche nach ‚Normalität‘ und die Verteilung der Kriegslasten. Das ist wenig verwunderlich, aber spannend ist dann doch, wie alltägliche Ressourcenkonflikte in manchen Briefen in all ihrer Aggressivität ausgeleuchtet wurden, etwa der Kampf einer Mutter mit drei kleinen Kindern um einen wenige Quadratmeter großen Abschnitt in einer Notunterkunft. Wie Fenske überzeugend zeigt, thematisierten die Briefe die „in der öffentlichen Wahrnehmung oft verdeckten Schattenseiten der Wirtschaftswunderjahre“ (S. 146), aber auch die „fehlende Solidarisierung der Gesellschaft der fünfziger Jahre“ (S. 151) im Umgang mit den Kriegsfolgen. Die Briefe der 1960er-Jahre illustrierten ebenfalls das lange Nachkriegserleben und -leiden, aber auch den wachsenden Wohlstand, an dem die Schreibenden partizipieren wollten, indem sie ihre Ansprüche auf Chancengleichheit artikulierten. Außerdem wurden die Medien als Druckmittel erkannt, indem man die Politiker im Anschluss an die geschilderte Notlage zum Beispiel wissen ließ: „Ich glaube, die Presse wird sich darüber freuen.“ (zit. auf S. 231) Fragen sozialer Gerechtigkeit wurden aber auch stellvertretend verhandelt. So ging es etwa um die Rechte von ‚Gastarbeitern‘ und Asylsuchenden, um Behinderte und Strafgefangene. Die sich hier abzeichnende Politisierung nahm in den 1970er-Jahren weiter zu, was sich auch am Tonfall zeigte. Die Schreibenden traten immer seltener als vermeintlich ‚kleine Leute‘ mit unterwürfigen Bitten an ihre als gütig imaginierten ‚Landesväter‘ heran, sondern begriffen sich als mündige Bürgerinnen und Bürger, die mit ihren politischen Repräsentanten dringende Fragen der Zeit verhandeln wollten.

Das leitet zu den beiden letzten, leider sehr knappen Kapiteln über, die nach der Beziehung zwischen Regierenden und Regierten fragen sowie nach den Effekten der Post auf die politische Kultur des Landes. Fenske ist bei Schätzungen vorsichtig, zumal sie nur einen Bruchteil aller Bürgerbriefe und Petitionen untersucht hat. Von letzteren gingen im Untersuchungszeitraum rund 30.000 ein. Bürgerbriefe werden nicht statistisch erfasst, aber Zeitzeugen schätzen das Aufkommen in der niedersächsischen Staatskanzlei für die 1950er- und 1960er-Jahre auf drei bis fünf Briefe pro Tag – eine Zahl, die sich für die 1970er-Jahre mehr als verdoppelte. Rund 20 Prozent der von Fenske geprüften Anliegen war inhaltlich Erfolg beschieden. Aber auch die anderen Schreiben waren wirkungsvoll: Für viele Absender, so Fenske, hätten die Briefe eine „kathartische“ sowie eine „integrative Wirkung“ (S. 392) gehabt, weil das Schreiben als „Akt der Selbstermächtigung“ das Gefühl beendete, „ein Opfer der Umstände zu sein“ (S. 393). Darüber hinaus „versöhnten“ sich Bürgerinnen und Bürger durch die Briefe angeblich mit dem Widerspruch, in der indirekten Demokratie einerseits Souverän, aber andererseits als Einzelperson „vergleichsweise machtlos zu sein“ (S. 398). Die Politiker wiederum wurden durch die Briefe nicht nur auf politische Probleme hingewiesen. Vielmehr mussten auch sie ihr Selbstverständnis in dem Maße ändern, wie sich die Schreibenden von bittenden Untertanen zu emanzipierten Diskutanten mauserten. Insgesamt, so lautet daher die zentrale These, verhandelten beide Seiten „mittels brieflicher Kommunikation auch die politische Kultur der Republik“. Die noch junge Demokratie wurde „auch erschrieben“ (S. 10).

Das „auch“ in dieser Formulierung ist zu unterstreichen, denn nur eine verschwindend geringe Minderheit der Bevölkerung griff jemals an Politiker gerichtet zu Papier und Stift. Und selbst in diesem eingeschränkten Sinne wirkt Fenskes Argument ein wenig überzogen, denn waren die Briefe nicht eher Indikatoren als Instrumente einer sich wandelnden politischen Kultur? Andererseits kann die Studie durchaus zeigen, dass die Bürgerpost die Demokratisierung der frühen Bundesrepublik keineswegs im Sinne einer vormodernen Praxis unterwanderte, sondern sie vielmehr konstruktiv ergänzte, abfederte und auch ausweitete. Besonders wichtig ist der Befund, dass gesellschaftliche Randgruppen hier eine Möglichkeit erkannten, ihre Frustration über die politischen Zustände zu artikulieren, womit sie aus dem Prinzip demokratischer Partizipation nicht endgültig herausfielen, sondern vielmehr in dieses hereingezogen wurden. Die Arbeit überzeugt daher insgesamt als konzeptionell origineller und empirisch dichter Beitrag zur politischen Kultur der frühen Bundesrepublik, wobei man sich die Darstellung manchmal etwas klarer und die Kapitel etwas gleichgewichtiger gewünscht hätte. Zum Beispiel wäre es informativ, noch mehr über die Reaktionen und Haltungen der angeschriebenen Politiker zu erfahren, die dem individuellen bürgerlichen Begehren durchaus ambivalent gegenüberstanden. Davon unabhängig aber weist Fenske auf eine Quellengruppe hin, die über die politische Kulturforschung hinaus von großer Bedeutung ist und künftig stärker beachtet werden sollte. Denn in Bürgerbriefen und Petitionen meldeten sich teilweise Menschen zu Wort, von denen verhältnismäßig wenig Egodokumente überliefert sind und die sich selten öffentlich artikulierten – die Alten, Verarmten, Verfolgten und aus anderen Gründen Marginalisierten. Mit Hilfe dieser Quellen zeichnet Fenske ein kaleidoskopartiges Bild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft von deren Rändern her. Auch das ist ein Verdienst der Studie.

Anmerkungen:
1 Vgl. unter anderem für verschiedene Regime die einschlägigen Studien von Arlette Farge / Michel Foucault (Hrsg.), Familiäre Konflikte. Die ‚Lettre de cachet‘ aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989; Klaus Tenfelde / Helmut Trischler (Hrsg.), Bis vor die Stufen des Throns. Bittschriften und Beschwerden im Zeitalter der Industrialisierung, München 1986; Henrik Eberle, Briefe an Hitler. Ein Volk schreibt seinem Führer. Unbekannte Dokumente aus Moskauer Archiven – zum ersten Mal veröffentlicht, Bergisch Gladbach 2009; Alf Lüdtke / Peter Becker (Hrsg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997.
2 Vgl. z.B. Sabine Manke, Brandt anfeuern. Das Misstrauensvotum 1972 in Bürgerbriefen an den Bundeskanzler. Ein kulturwissenschaftlicher Beitrag zu modernen Resonanz- und Korrespondenzphänomenen, Marburg 2008.