Ch. Frey u.a. (Hrsg.): Sinngeschichten

Cover
Titel
Sinngeschichten. Kulturgeschichtliche Beiträge für Ute Daniel


Herausgeber
Frey, Christian; Kubetzky, Thomas; Latzel, Klaus; Mehrkens, Heidi; Weber, Christoph Friedrich
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
324 S., 20 Bildtafeln
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Jütte, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

„Monate werde ich da brauchen, um den Unsinn zu widerlegen.“ Mit diesen Worten kommentierte der Historiker Theodor Mommsen 1877 die zu seinem 60. Geburtstag überreichte Festschrift. Damals war die Tradition, Gelehrte mit einer Sammlung von Aufsätzen aus dem Schüler- und Kollegenkreis zu ehren, noch recht jung. Der Rezensent kann nur vermuten, dass die mit der hier zu besprechenden Festschrift geehrte Braunschweiger Sozial- und Kulturhistorikerin Ute Daniel freudiger reagiert hat als ihr berühmter Kollege vor knapp 150 Jahren.

Im Vorwort erfahren wir, wie die Idee zu diesem Buch entstanden ist: in den Kaffeepausen am Institut. Diesen Entstehungszusammenhang muss man kennen, um das Gliederungsprinzip – oder anders ausgedrückt: die Einwerbung der Beiträge und deren thematischen Zuschnitt – zu verstehen. Das wird in der Einleitung noch deutlicher. Dort bilden vier historische „Miniaturen“ den Auftakt, in denen vier sinnfällige Objekte aus der Sicht der neueren Kulturgeschichte betrachtet werden (von der Fuller-Brosche aus dem 9. Jahrhundert, der wohl ersten bildlichen Darstellung mit Personifikationen der fünf Sinne1, bis zum Mikroskop aus der Werkstatt Friedrich Wilhelm Schiecks [1790–1870]). Damit soll nach Auffassung der Herausgeber „der Sinn der Sinne in unterschiedlichen historischen Konstellationen“ dem Leser vor Augen geführt werden (S. 14). Der heuristische Mehrwert dieser kulturhistorischen Vignetten wird allerdings nicht in jedem Fall deutlich – so ist beispielsweise die Erkenntnis, dass auf der Fuller-Brosche der Sehsinn zentral dargestellt wird, wahrlich nicht neu. Auch führen diese einleitenden historischen Miniaturen ein wenig in die Irre; denn die Festschrift versteht sich trotz ihres Titels nicht als ein Beitrag zu einem inzwischen international etablierten Forschungsfeld, der Geschichte der Sinne. In der Vorbereitung zu diesem Buch hatten die Herausgeber nach eigenem Bekunden die Beiträger zum „Schreiben von Sinngeschichten“ aufgefordert (S. 20). Darunter kann man vieles und gar nichts verstehen. Mit dem Wort „Sinn“ wird ja heute so manches vermarktet: von der Sinn-Diät bis zum Park der Sinne. Das Risiko, das man mit einer solchen vagen Aufforderung eingeht, war den Verantwortlichen durchaus bewusst, wie die Einleitung erkennen lässt. Die Heterogenität der hier versammelten Aufsätze war also intendiert. Das Genre Festschrift ist dafür bekannt, dass darin gerne bereits Veröffentlichtes recycelt oder noch Unveröffentlichtes hervorgeholt, dafür aber auch wenig wahrgenommen wird. Allerdings findet man hier und dort immer wieder Goldkörnchen. Diese Hoffnung wird im vorliegenden Band nicht enttäuscht, allerdings wird man vor allem im ersten Teil fündig. Jedenfalls hat die Dreiteilung des Bandes, für die sich die Herausgeber entschieden haben, das Problem der Heterogenität nur kaschiert.

Die 13 Texte im ersten Teil („Historische Sinneswahrnehmungen“) orientieren sich grob an den fünf Sinnen und haben eine große zeitliche Spannweite. Angesichts der Vielzahl der Beiträge (insgesamt 31 im Sammelband) ist es unmöglich, jeden einzelnen zu würdigen oder auch nur zu erwähnen. Zum Sehsinn liest man bemerkenswerte Studien über „Farbe als Substanz“ (Bettina Wahrig) und über Selbstbilder eines Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg (Andreas Eberhard). Über den Hörsinn unterrichtet Regina Schulte, die die medizin- und kulturhistorischen Aspekte der Tarantella veranschaulicht. Zum Geruchssinn äußern sich unter anderem Gerhard Fouquet und Gerd Krumeich mit einem spätmittelalterlichen bzw. einem zeitgeschichtlichen Fallbeispiel. Der Geschmacksinn kommt beispielsweise im kolonialgeschichtlichen Beitrag von Iris Schröder über die Banane zumindest am Rande vor. Der Tastsinn muss sich mit einem eher marginalen Thema begnügen (Ergreifen von Ringen an Kirchentüren zum Zweck des Kirchenasyls).

Der zweite Teil ist mit „Historische Klassifikationen und Deutungen“ überschrieben. Auch hier geht es angeblich um Sinneswahrnehmungen, doch muss man schon recht viel Phantasie aufbringen, um einen Zusammenhang mit dem Titel der Festschrift herstellen zu können. Am ehesten lässt sich der Bezug noch in Simone Lässigs anregender Studie zur „Bildung der Sinne“ im Reformjudentum des frühen 19. Jahrhunderts erkennen. Aber wie so häufig in einer Festschrift kommt der Leser schnell auf den Geschmack nach mehr, der dann leider unbefriedigt bleibt. Erwähnt werden sollte freilich der nachdenklich stimmende Beitrag von Karin Hausen über den Wortsinn von „Geschlecht“ und „gender“, der deutlich macht, dass der deutsche Begriff „Geschlechtergeschichte“ sprachlich und heuristisch durchaus sinnvoll ist.

Im dritten Teil („Historiker als Personen und ihr Metier“) geht es in den Worten der Herausgeber um „Sinngeschichten, die den Historiker selbst, sei es in seinen persönlichen Erfahrungen, seiner Zeitzeugenschaft oder seinem gesellschaftlichen Umfeld, in die Untersuchung“ mit einbeziehen (S. 21). Das erinnert an einen Werbespruch von Charles Wilp aus den späten 1960er-Jahren, der Kult geworden ist: „Alles ist in Africa-Cola“. Da kommentiert beispielsweise Herbert Mehrtens die von ihm gemachten Aufnahmen des Historischen Seminars der Universität Braunschweig, Wolfram Siemann dokumentiert eine studentische Exkursion zu deutschen Nationaldenkmälern, Heike Christina Mätzing erinnert sich an eine gute alte Bekannte zu DDR-Zeiten, und so weiter und so fort. Der Beliebigkeit der Erinnerung sind hier keine Grenzen gesetzt, weder geographisch noch zeitlich (auch ein fiktives Zwiegespräch, das Thomas Scharff mit einem mittelalterlichen Mönch führt, darf nicht fehlen). Und schließlich findet sich eine Persiflage auf das Genre der Festschrift aus der Feder eines Mitautors (Kai Drewes). Das erinnert ein wenig an Werner Zilligs nicht besonders geglückten Campus-Roman „Die Festschrift“ (2004). Dieser handelt von dem schweren Schicksal des katholischen Theologen Dr. Bernhard Selig, der bei der Erstellung der geplanten Festschrift für den geschätzten Ordinarius der Katholischen Fakultät an bummelnden Professoren und streikenden Textprozessoren fast verzweifelt, aber wie auch im vorliegenden Fall mit dem Langmut eines Verlegers rechnen kann, der sich von einem wenig kohärenten Band doch noch publizistische Aufmerksamkeit erhofft.

Die Jubilarin, die unter anderem ein vielbeachtetes „Kompendium Kulturgeschichte“ verfasst hat2, wird aus verständlichen Gründen dankbar sein, mit einem so bunten Strauß an Beiträgen geehrt worden zu sein. Mit 60 Jahren ist man heute als Gelehrte(r) ja noch nicht am Ende der wissenschaftlichen Karriere; und es gibt nicht wenige Fälle, in denen jemand zu späteren runden Geburtstagen mit weiteren Festschriften bedacht wird – oft zu recht. Somit schließt sich der Rezensent gerne den zahlreichen in diesem Band vertretenen Gratulanten an, auch wenn ihm als Historiker der Sinne in einzelnen Beiträgen der Sinn verschlossen blieb.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa <http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fuller_Brosche_9jhd.JPG> (28.1.2014).
2 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001 (5., durchgesehene und ergänzte Aufl. 2006).