C. Hißnauer u.a.: Wegmarken des Fernsehdokumentarismus

Cover
Titel
Wegmarken des Fernsehdokumentarismus. Die Hamburger Schulen


Autor(en)
Hißnauer, Christian; Schmidt, Bernd
Reihe
Close up Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms 25
Erschienen
Konstanz 2013: UVK Verlag
Anzahl Seiten
360 S., 36 s/w Abb., 9 farb. Abb
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Schumacher, Graduate School Media and Communication, Universität Hamburg

Der vorliegende Band widmet sich den historischen Entwicklungslinien der dokumentarischen und „hybriden“ audiovisuellen Formen, die die Grundlage dessen bilden, was aktuell als ‚DokuDrama‘, ‚Histotainment‘ oder ‚Edutainment‘ nicht nur im deutschen Fernsehen „eine besondere Konjunktur“ (S. 32) erlebt, sondern auch in der jüngeren mediengeschichtlichen Auseinandersetzung.1 Wie der Untertitel andeutet, fokussieren Christian Hißnauer und Bernd Schmidt dabei das Programm des Norddeutschen Rundfunks (NDR), genauer: seine stilbildenden ‚Autoren‘.2 Die Panorama-Begründer Rüdiger Proske und Peter von Zahn, hinlänglich bekannte Regisseure wie Klaus Wildenhahn, Eberhard Fechner und Heinrich Breloer, aber auch die weniger beachteten wie Peter Schier-Gribowsky, Erika Runge und besonders Horst Königstein möchten Hißnauer und Schmidt als „Schlüsselfiguren des bundesdeutschen Fernsehdokumentarismus angemessen würdigen “ (S. 23). Damit wollen sie „fernsehgeschichtliche[n] Mythen“ entgegentreten, die sie einem „gravierenden Mangel an historischer Kontextualisierung“ in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung geschuldet sehen: „Aktuelle Trends und Moden werden häufig als eine neue Entwicklung über- oder gar fehlinterpretiert, da […] frühere Ansätze in Vergessenheit geraten sind“ (S. 21).3

Die Grundlage der fernsehhistorischen Betrachtung von Hißnauer und Schmidt bildet ihr drei „Generationen“ umfassendes Modell der „Hamburger Schulen“, das die Produktionen des NDR von 1950 bis heute als Gruppen- bzw. Zeitstil beschreibbar macht. Es zielt darauf, einerseits die Filme („Wegmarken“) und ihre ‚Autoren‘ historisch zu verorten und andererseits Kontinuitäten in autorenintentionalen Positionen sowie geteilten Erzähl- und Darstellungstraditionen nachzugehen.

Mit ihrem Konzept offerieren Hißnauer und Schmidt eine Ausdifferenzierung der in der historischen Fernsehforschung bereits bekannten Modellvorstellung von der „Hamburger Schule“ – im Singular. Diese Bezeichnung lässt sich aus Pressemitteilungen des NDR, Zuschreibungen der Fernsehkritik und Interviewaussagen der Protagonisten selbst ableiten, die den Namen „Hamburger Schule“ jeweils für ihre Arbeit in Anspruch nehmen – zum Beispiel der Kameramann des Nord- und Westdeutschen Rundfunkverbandes (NWRV) Carsten Diercks, genauso wie der Redakteur und Regisseur Horst Königstein. Benedikt Berg-Walz (1995) und Michael Kaiser (2001) greifen in ihren fernsehhistorischen Studien auf diese Bezeichnung zurück, um sehr unterschiedliche Produktionen und ‚Autoren‘ des NDR zu einem Gruppenstil zusammenzufassen.4 Hißnauer und Schmidt kritisieren einleuchtend die hierin eingeschriebene Modellvorstellung, die die Unterschiede zwischen analytisch differenzierbaren historischen Phasen und Sendeformen verwischt. Ihren Begriff leiten sie dennoch, auf einer sehr viel breiteren Basis, aus denselben Quellen her (S. 27–33).

Entlang der Generationenfolge arbeiten Hißnauer und Schmidt die konzeptionellen, dramaturgischen und formal-ästhetischen Qualitäten der jeweiligen „Schulen“ anhand von Einzelwerkanalysen heraus. Gerahmt werden diese durch fernsehgeschichtliche und dokumentarfilmtheoretische Erörterungen, in denen die Autoren die Ergebnisse ihrer Analysen den Selbstauskünften der portraitierten Protagonisten sowie der publizistischen Kritik gegenüberstellen und zentrale Begriffe und wirkungsästhetische Implikationen diskutieren.5

Als Vertreter der „Ersten Generation“ bestimmen sie vornehmlich Rüdiger Proske, Max H. Rehbein, Carsten Diercks und Peter von Zahn, die mit ihren Sendereihen beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) bzw. dessen Nachfolger NWRV/NDR in den 1950er-Jahren neuartige Formen des Fernsehdokumentarismus entwickelten. In Produktionen wie beispielsweise „Musuri. Bericht einer Fernsehexpedition nach Belgisch-Kongo“ (1954) oder „Auf der Suche nach Frieden und Sicherheit“ (1957) kombinierten sie Elemente des Features und der Reportage und lösten sich damit von den Darstellungstraditionen des Kulturfilms. Durch den Einsatz moderner Produktionstechnik wie der mit Pilotton ausgestatteten Schulterkamera konnte das Team um Proske sogar im Ansatz eine Bildästhetik entfalten, die das US-amerikanische Direct Cinema zu Beginn der 1960er-Jahre berühmt machen sollte (S. 39ff., vgl. auch S. 131ff.).

Im Gegensatz zur „Stuttgarter Schule“ des Süddeutschen Rundfunks war die „Erste Hamburger Schule“ nicht in ostentativer Weise kritisch-politisch ausgerichtet. Ihre Produktionen richteten den Blick „bewusst nach außen“ (S. 86), auf ferne Länder und Kontinente. Dabei sind sie von einem „Gestus des Objektiven“ (S. 48) geprägt, während ihnen, wie Hißnauer und Schmidts Analysen offenbaren, deutlich die politischen Sichtweisen der Adenauer Ära eingeschrieben sind (siehe S. 49ff. und S. 66ff.) Eine Ausnahme bildet hier der spätere Panorama-Mitarbeiter Peter Schier-Gribowsky, dessen Leistungen zum Ende des Kapitels hervorgehoben werden. Seine Regiearbeiten „… Als wär’s ein Stück von Dir“ (1959) und „Auf den Spuren des Henkers“ (1961) sind seltene, frühe Zeugnisse der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen (S. 86ff.). Inhaltlich und formal nehmen sie die Arbeit Eberhard Fechners, eine zentrale Figur der „Zweiten Hamburger Schule“, vorweg (S. 99).

Der „Zweiten Generation“ darf eine dezidiert politisch-aufklärerische Intention zugesprochen werden. Ihre stilprägenden Arbeiten entstanden unter dem Dach der Abteilung bzw. Hauptabteilung Fernsehspiel, die unter der Leitung Egon Monks (1960–1968) und Dieter Meichsners (1968–1991) letztlich ein Realismuskonzept verfolgte, das mit einer sozialkritischen Stellungnahme genauso einherging, wie es die Ausbildung von dokudramatischen Formen beförderte (vgl. S. 101ff.). In diesem Umfeld bildete Klaus Wildenhahn seinen spezifischen, nun explizit an die Darstellungsideale des Direct Cinema anknüpfenden Dokumentarfilmstil aus. Langzeitbeobachtungen des bundesdeutschen Arbeitsalltags wie „Emden geht nach USA“ (1976/77) nehmen einen bewusst parteiischen Standpunkt ein, um Arbeiterinnen und Arbeitern selbst eine Stimme zu geben und die Zuschauerinnen und Zuschauer politisch zu aktivieren. Dass seine Filme zu diesem Zweck durchaus einer gestalteten Konflikt- und Einfühlungsdramaturgie folgen, weisen Hißnauer und Schmidt in ihrer prägnanten Analyse nach (siehe besonders S. 165–178).

Fechners Werk umfasst sowohl Dokumentar- als auch Spielfilme. Hißnauer und Schmidt fokussieren die besondere Form des „Interviewdokumentarismus“ (S. 214ff.), die er beginnend mit „Nachrede auf Klara Heydebreck“ (1969) ausbildete. Diese zeichnet sich unter anderem durch den Verzicht auf erklärenden oder wertenden Kommentar im Voice-over und eine Montage aus, die einzelne Elemente der Interviews zu neuen, erzählenden Zusammenhängen verbindet (S. 222ff.). Darüber konstruieren seine Filme Dialoge, die an einem „imaginären Tisch“ (S. 238) stattfinden. Den ‚Mythos‘, dass es sich hierbei um eine Erfindung Fechners handelt, können Hißnauer und Schmidt jedoch entzaubern, indem sie einerseits die Leistung der Schnittmeisterin Brigitte Kirsche hervorheben und anderseits auf historische Vorläuferproduktionen verweisen – neben anderem Erika Runges „Warum ist Frau B. glücklich?“ (1968, WDR) und die „Psychomontage“ in Kees Brusses Kinoproduktion „Mensen van Morgen“ (1964, NL) (siehe S. 224–237, S. 282ff.). Dessen ungeachtet kann insbesondere die Formgebung von Fechners Filmen als ein zentrales Vorbild für die Co-Produktionen von Heinrich Breloer und Horst Königstein, die Protagonisten der „Dritten Generation“, gelten (siehe S. 285ff., S. 326f.).

Die „Dritte Generation“ beschreiben Hißnauer und Schmidt in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Ausdifferenzierung des „DokuDramas“ (S. 289). Dessen historische Entwicklung rekapitulieren sie unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten Königsteins (S. 291–296) und präsentieren eine Reihe von Typologien, die die Varianz in der formal-ästhetischen Kombination von dokumentarischen und dramatischen Elementen registrieren (S. 298ff.; S. 320ff.). Neben der stilprägenden Produktion des Teams Breloer/Königstein, „Das Beil von Wandsbek“ (1982), analysieren die Autoren auch Regiearbeiten wie „Kohl. Ein deutscher Politiker“ (1990), die Königstein allein realisierte (siehe S. 303ff.; S. 316ff.). Dabei markieren sie einen entscheidenden Unterschied zwischen den Zugängen der beiden: Während Breloer auf eine „authentisierende Ähnlichkeitsstrategie“ (S. 319) setze, bedienten sich Königsteins Inszenierungen selbstreflexiver Verfahren, um „die fiktionale Darstellung umso transparenter“ zu machen (ebd.). Zum Abschluss des Kapitels stellen die Autoren zusammenfassend die Einflusslinien der älteren „Schulen“ auf die nachfolgenden heraus (S. 323ff.) und sehen deren Tradition fortgesetzt in jüngeren Filmen von Raymond Ley (zum Beispiel „Eichmanns Ende – Liebe, Verrat, Tod“, 2010) und Eric Friedler (beispielsweise „Aghet. Ein Völkermord“, 2010). Da sich diese in der ästhetischen Gestaltung wiederum signifikant von den Vorgängern unterschieden, deute sich bereits eine „Vierte Generation“ an (S. 332).

Überraschend ist, dass die Autoren in ihrem letzten Kapitel lediglich Eindrücke in Stichpunkten zusammenfassen und ein ausformuliertes Fazit verweigern (S. 333). Ein Resümee wäre zwar nicht zwingend notwendig, da Hißnauer und Schmidt die verbindenden Elemente zwischen den „Schulen“ wiederholt in Zwischenergebnissen zusammenfassen; jedes Kapitel könnte deswegen auch allein für sich stehen. Ihre knapp verfasste abschließende Charakterisierung, der Dokumentarismus der drei „Hamburger Schulen“ sei in erster Linie politisch konturiert (ebd.), erscheint jedoch unzulässig verkürzt, ebnet sie doch den Unterschied zwischen einer solchen Konturierung als nichtintendiertem Effekt und autorenintentionaler Position ein, der aus ihrem Vergleich zwischen der ersten und zweiten „Generation“ zum Ausdruck kam.

Die besondere Qualität dieser Publikation liegt in ihren gleichermaßen anschaulich wie scharfsinnig formulierten Detailanalysen von Einzelwerken, auch wenn die Autoren bisweilen viel Emphase auf den Aspekt der „Würdigung“ legen. Die zugehörigen grafischen Darstellungen verdeutlichen ihre Befunde in vorbildlicher Weise. Die Gegenüberstellung von Selbsteinschätzungen der ‚Autoren‘ mit zentralen Positionen der Dokumentarfilmtheorie schärft das Verständnis für den historischen Wandel von Begriffen und Formen.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch folgende Sammelbände jüngeren Datums, die „hybride“ Formen im Zusammenhang mit audiovisueller Geschichtsrepräsentation diskutieren: Kay Hoffmann / Richard Kilborn / Werner C. Barg (Hrsg.), Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen, Konstanz 2012, vgl. die Rezension von Georg Koch, in: H-Soz-u-Kult, 03.01.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-1-001> (04.10.2013); Barbara Korte / Sylvia Paletschek (Hrsg.), History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009, vgl. die Rezension von Olaf Hartung, in: H-Soz-u-Kult, 30.10.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-095> (04.10.2013); Thomas Fischer / Rainer Wirtz (Hrsg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008, vgl. die Rezension von Judith Keilbach, in: H-Soz-u-Kult, 15.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-229> (04.10.2013).
2 Die Publikation steht im Kontext des Forschungsvorhabens „Wegmarken des bundesdeutschen Fernsehdokumentarismus. Fernsehgeschichtliche Einordnungen: Richtungsweisende Autoren – Stilbildende Schulen“, das insgesamt fünf Bände in variierender Autorschaft umfassen soll (siehe S. 22, bes. Fußnote 7).
3 Die Grundlage dieses Befundes entwickelten die Autoren in ihrem Forschungsbericht, siehe: Christian Hißnauer / Bernd Schmidt, Die Geschichte des Fernsehdokumentarismus in der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsdefizite und Forschungstrends. Ein Überblick, in: Rundfunk und Geschichte 37 (2011), H. 3–4, S. 87–97.
4 Michael Kaiser bezieht sich dabei im Übrigen auf eine stilistische Tendenz, die das Fernsehspiel des NDR in den 1960er-Jahren auszeichnete, als Egon Monk Leiter dieser Hauptabteilung war, siehe ders., Filmische Geschichts-Chroniken im Neuen Deutschen Film: Die Heimat-Reihe von Edgar Reiz und ihre Bedeutung für das deutsche Fernsehen, Dissertationsschrift Universität Osnabrück, 2001, Online-Veröffentlichung unter: <http://repositorium.uni-osnabrueck.de/bitstream/urn:nbn:de:gbv:700-2004051012/2/E-Diss162_thesis.pdf> (04.10.2013), S. 71ff. Benedikt Berg-Walz hingegen fasst unter „Hamburger Schule“ irrtümlich Proske, Monk und Wildenhahn zu einer „Gruppe von Dokumentarfilmern“ zusammen, siehe ders., Vom Dokumentarfilm zur Fernsehreportage, Berlin 1995, S. 69.
5 Konzeptionell und methodisch knüpfen die Autoren damit an das Vorgehen an, das Hißnauer bereits in früheren Publikation verfolgte, vgl. exemplarisch ders., Fernsehdokumentarismus. Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen, Konstanz 2011.

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