Cover
Titel
Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren


Autor(en)
Besymenski, Lew
Reihe
Archive des Kommunismus - Pfade des XX. Jahrhunderts 1
Erschienen
Berlin 2002: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Wilke

Vorliegendes Buch ist ein russischer Beitrag zu einem gemeinsamen deutsch-russischen Geschichtsbild über die Beziehungsgeschichte beider Länder vor dem 22. Juni 1941, der aus russischer Sicht zu einem Krieg führte, in dem es um Sein oder Nichtsein ging.

Dem russischen Militärhistoriker, während des Krieges Dolmetscher im Stab von Marshall Schukow und langjähriger sowjetischer Publizist, geht es nicht um ein vergleichendes Psychogramm der beiden Diktatoren. Sein Thema ist der deutsch-russische Krieg. Wie konnte er entstehen und wie lassen sich die folgenschweren Fehler erklären, die beide Diktatoren vor dem 22. Juni 1941 begingen. Hitler und seinen Generalen gelang der Überraschungsangriff, aber sie irrten sich fundamental in der Widerstandskraft der sowjetischen Armee und den Siegen dieses Feldzuges. Stalin dagegen schlug alle Warnungen der sowjetischen Spionage und seiner Militärs vor einem drohenden deutschen Überfall in den Wind. Er wollte nicht vor 1942 in den europäischen Krieg eingreifen und vor allem nicht glauben, dass Hitler so dumm sein würde, mit dem Angriff auf die Sowjetunion einen Zweifronten-Krieg zu beginnen. Die Irrtümer ihrer Diktatoren, denen Russen und Deutsche ausgeliefert waren, haben beide Völker leidvoll bezahlen müssen.

Das Material für Besymenskis Parallelgeschichte sind die bekannten deutschen Dokumente und die bislang weitgehend unbekannte Überlieferung aus Stalins Archiv von 1923 bis 1941.

Unverkennbar verfolgt der Autor eine aufklärerische Absicht gerade über Motive und Interessenlagen der sowjetischen Politik. Das wird besonders deutlich in seiner sorgfältigen Untersuchung des Nichtangriffsvertrages zwischen dem Reich und der Sowjetunion aus dem Jahre 1939 und seiner Vorgeschichte. Hier zerstört er eine in Russland offenbar immer noch weit verbreitete Legende über den klugen Schachzug von Stalin, der Zeit gewinnen wollte, um sich besser auf den antifaschistischen Kampf gegen Hitler vorzubereiten. Schon die lange bekannten deutschen Akten zeigten ein anderes Bild von diesem Pakt, „der den weiteren Weg Europas bestimmen sollte“. Es ging Stalin durchaus auch um Zeitgewinn für die Sowjetunion, denn seit dem japanischen Angriff auf China 1937 und der Zerstörung der europäischen Nachkriegsordnung durch Hitler befand sich die Welt in einem neuen Krieg der imperialistischen Mächte in Asien und Europa.

Mit dem Pakt bekam Stalin die Chance, sich aktiv an der von Hitler ins Werk gesetzten Neuordnung Europas zu beteiligen. Den Auftakt zu dem Defacto-Bündnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion bildete ein Wirtschaftsabkommen, das der Kriegsvorbereitung beider Mächte diente. Kurz vor Beginn des Krieges sicherte sich das Reich kontinuierliche Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion; diese bekam im Gegenzug dringend benötigte Ausrüstungsgüter für Ausbau und Modernisierung der eigenen Rüstungsindustrie. Dieses Wirtschaftsabkommen war eine sowjetische Vorbedingung für den Pakt. Mit ihm knüpfte Moskau an die verdeckte Zusammenarbeit mit der Reichswehr seit 1922 an, die mit dem Namen Rapallo verbunden ist und auf die der Autor ausführlich eingeht.

So dokumentiert er eine Analyse von Jan Bersin, dem Chef des Nachrichtendienstes der Roten Armee, über die Ergebnisse dieser Kooperation für den Aufbau der Rüstungsindustrie aus dem Jahre 1928. Besymenski: „Im praktischen Sinn erhielt die sowjetische Verteidigungsindustrie und die gesamte Industrialisierung Anfang der 30er Jahre sehr viel an deutschen Know-How.“ Dieser Transfer wurde nach Hitlers Machtergreifung unterbrochen. Alle Versuche seitens der sowjetischen Führung, diese Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland trotz politisch-ideologischer Feindschaft aufrechtzuerhalten, scheiterten bis 1939.

Der Molotow-Ribbentrop-Vertrag grenzte die Interessensphären zwischen beiden Mächten in Ostmitteleuropa ab. Beide Seiten einigten sich auf die vierte Teilung Polens, Stalin bekam freie Hand im Baltikum und gegenüber Finnland. Der sowjetisch-finnische Krieg 1939/40 offenbarte den katastrophalen Zustand, in dem sich die sowjetische Armee befand. 1940 verweigerte Hitler Molotow die Zustimmung, nach dem Baltikum auch Finnland endgültig in die sowjetische Interessensphäre einzugliedern. Die von Besymenski dokumentierte Verhandlungsdirektive Stalins an Molotow von 1940 ist nach Ansicht des Autors die erste Festlegung sowjetischer Interessensphären in Asien und Europa. Molotow sollte in Berlin über den Beitritt der Sowjetunion zum Drei-Mächte-Pakt verhandeln. Stalin bot sogar eine gemeinsame Friedensinitiative gegenüber England an und wollte sich für die sofortige Rückgabe der im ersten Weltkrieg verlorenen deutschen Kolonien einsetzen. Ein Monat nach diesem Besuch gab Hitler den Befehl zum Angriff. Das Schicksal der sowjetischen Diplomaten unter Stalin in Deutschland liest sich wie ein Zeugenvernichtungsprogramm. In der Heimat wartete auf viele Lager oder Tod.

Welche Rolle spielte der Faktor Zeitgewinn in Stalins Politik gegenüber Hitler? Es gab hierfür eine Reihe objektiver Gründe. Nach dem Münchener Abkommen von 1938 war die Sowjetunion in Europa aus dem Spiel der Mächte ausgeschlossen, und in Asien drohte ein Krieg mit Japan. Vor allem war die sowjetische Armee nur bedingt gefechtsbereit. 1937 verlangte Hitler in Berlin von seinen Generalen, dass die Wehrmacht in vier Jahren kriegsbereit zu sein hatte. Zeitgleich „enthauptete“ Stalin die Rote Armee. 1937/38 wurden „über 3000 Kommandeure der Flotte und 38679 Offiziere der Landstreitkräfte zum Tode verurteilt.“ Zehntausende saßen in Gefängnissen und Lagern. Im Herbst 1938 soll Stalin seinen Volkskommissar für Verteidigung Woroschilow gefragt haben: „Klim, hast Du noch Leutnants, die Divisionen befehligen können?“

Nicht das Politbüro der KPdSU fällte damals die Grundsatzentscheidungen über das Schicksal der Sowjetunion, es sind „inoffizielle Dreier- und Fünfergruppen“, die dies taten „streng nach dem Willen des Generalsekretärs“. Es ist kein überraschendes Ergebnis, aber dem Autor geht es nicht um Enthüllungen. Sein Anliegen reicht tiefer. Ihn treibt die Frage um, was bedeutet die sowjetische Periode und namentlich Stalins Regime in der Geschichte Russlands? Wo liegen die Grenzlinien zwischen den Verbrechen des Despoten sowie der seiner willigen Knechte und dem Dienst an ihrem Land, den die Generation der Kriegsteilnehmer leistete, der nur die Erinnerung blieb an den „Schmerz des Verlustes und die Freude des Sieges über Hitler“.

Es ist gewiss nicht zufällig, dass der 82jährige Besymenski den Widerspruch zwischen russischer Staatsraison und bolschewistischer Vision von der Weltrevolution zum Ausgangspunkt seiner Parallelgeschichte wählt. Als die Bolschewisten 1917 in Rußland die Macht ergriffen, taten sie es auch im Vertrauen auf die kommende deutsche Revolution. Diese Spekulation erwies sich schnell als Illusion. 1919 wurde in Moskau die Kommunistische Internationale als Generalstab der Weltrevolution gegründet. Als nach dem russischen Bürgerkrieg Sowjetrussland von den kapitalistischen Staaten zunehmend anerkannt wurde, stellte sich die Frage, ob das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten oder die Komintern die Zentrale der Außenpolitik des Sowjetstaates sein sollte.

Lenins Außenminister Tschitscherin forderte 1922 die strikte Trennung der Aktivitäten der Komintern von der Außenpolitik Sowjetrusslands. Dessen Sicherung als Basis der proletarischen Weltrevolution besaß oberste Priorität. Ein erster Erfolg dieser Außenpolitik war 1922 der Vertrag von Rapollo mit Deutschland und die Wiederaufnahme der Beziehungen zu England. 1923 kam es zur ersten Existenzkrise der Weimarer Republik, und die Stunde der Komintern schien gekommen, um in Deutschland eine neue Oktoberrevolution zu organisieren.

Mit dieser halbvergessenen „Episode in den sowjetisch-deutschen Beziehungen“ beginnt diese Parallelgeschichte.
Die sowjetische Führung drängte die KPD, die Machtergreifung operativ vorzubereiten. Am 10. Oktober 1923 erklärte der Generalsekretär der russischen Kommunisten Stalin in der „Roten Fahne“, dem Parteiorgan der KPD, dass mit dem Sieg der deutschen Revolution „sich das Zentrum der Weltrevolution unweigerlich von Moskau nach Berlin verlagern“ würde.

Die Dokumente, die unter dem Titel „KPD – deutsche Revolution“ in Moskau abgelegt sind, lesen sich heute „wie ein utopischer Roman, in dem immer wieder bekannte Namen auftauchen – Sinowjew, Trotzki, Molotow, Thälmann, Zetkin. Und Stalin!“ Er war es auch, der vorschlug, die Führung der KPD nach Moskau zu beordern, um dort den Aufstand zu beraten. So geschah es. Im Oktober 1923 legte die Militärkommission des ZK einen Mobilisierungsplan vor: Er sah vor, bis zu 2,5 Millionen Rotarmisten einzusetzen, „die dem deutschen Proletariat, falls erforderlich, militärisch zu Hilfe eilen sollten.“ Der Aufstand sollte am 9. November erfolgen. Noch vor diesem Tag X teilte Stalin dem Vertreter der sowjetischen Führung in Berlin, Pjatakow, seine Skepsis über die Erfolgsaussichten des Unternehmens mit. Gleichzeitig äußerte er sich erstmals zur Politik gegenüber Hitler, der am 9. November in München putschte. „Man solle die ‚Faschisten’ (d.h. Hitler) agieren lassen. Wenn sie zunächst die Oberhand gewönnen, könnten die Kommunisten sie dann um so besser schlagen.“

Die weitere Rolle der KPD in der sowjetischen Deutschlandpolitik der 20er und 30er Jahre lässt der Autor außer Betracht. Dies ist aus seiner Perspektive verständlich, aber für die deutsche Diskussion dieser Beziehungsgeschichte beider Länder misslich. Ein Beispiel soll dies illustrieren. 1923 ist Zaisser einer der militärischen Oberleiter der KPD, 1950 wird er der erste Minister für Staatssicherheit der DDR.

Neben dem Pakt von 1939 sind die Gründe für den Erfolg des deutschen Überfalls am 22. Juni 1941 ein weiterer Schwerpunkt der Analyse, hier stützt sich der Autor vor allem auf die Zeugnisse sowjetischer Militärs. Was er nicht erwähnt, ist die Debatte um dieses Ereignis, die in der Sowjetunion in den 60er Jahren geführt wurde und die mit den Namen Nekritsch und Generalmajor Grigorenko verbunden ist. Das Buch von Nekritsch über den 22. Juni („Genickschuß“, Wien 1969) diskutierte die persönliche Schuld von Stalin an den sowjetischen Niederlagen 1941 und widersprach damit den Tendenzen zur „Stalinschen Restauration“ (Lew Kopelew) zu Beginn der Breshnew-Ära. Damals verloren Nekritsch und Grigorenko die Auseinandersetzung mit den Ideologen der Partei. Verfolgung und Exil waren der Preis für ihren Mut zur historischen Wahrheit.

Wenn Besymenski beklagt, „daß die russische Öffentlichkeit heute nur noch von Stalin Kenntnis nimmt, wenn im russischen Fernsehen betagte Renterinnen mit dem Porträt des Generalsekretärs demonstrieren“, so hat das sicher viele Gründe. Einer davon ist, dass auch im heutigen Rußland offenbar diejenigen immer noch beschwiegen werden, die mit ihrem Kampf um die Wahrheit über Stalins Verbrechen das Ende des Bolschewismus in Russland mit herbeiführten.

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