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Titel
Die Ordnung des Sozialen. Väter und Familien in der amerikanischen Geschichte seit 1770


Autor(en)
Martschukat, Jürgen
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
474 S., Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Heinemann, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das Reden und Schreiben über Familie, ihre Struktur und ihre Werte hat derzeit Konjunktur in den westlichen Staaten, insbesondere auch in den USA. Zumeist werden Familienwerte und familiale Praxis als Indikatoren für den Zustand der Gesellschaft gewertet. Je nach politischem Standpunkt und religiöser und/oder moralischer Überzeugung gelten sie als Indiz eines vermeintlichen „family decline“ oder als Beleg für eine positive Anpassung an die Herausforderungen der Moderne. Dabei bildete sich seit dem 19. Jahrhundert die Kleinfamilie aus Eltern und Kindern mit einer spezifischen Geschlechterordnung als normatives Ideal heraus – unabhängig von der jeweiligen Lebensrealität, aber zentral für die ideelle Ordnung einer Gesellschaft.

In seiner großen Studie über Väter und ihre Familien in den Vereinigten Staaten von Amerika wählt der Erfurter Historiker Jürgen Martschukat einen originellen theoretischen Zugriff auf diese wirkungsmächtige normative Konstellation. Orientiert an Bruno Latour beschreibt er Familien als „Relais“, über welches die verschiedenen Elemente des Sozialen „in eine Ordnung gebracht werden“: „Familien regulieren, wer auf welche Weise an Gesellschaft partizipiert: Wer welchen Platz einzunehmen vermag, welche Rechte für sich beanspruchen kann, auf welche Ressourcen zugreifen darf und welche Aufgaben zu erfüllen hat.“ (S. 10) Um herauszufinden, wie genau dieser Prozess der Selbst- und Fremdführung über das normative Konstrukt „Familie“ funktionierte, befragt Martschukat „Diskurse, Institutionalisierungen, Handlungsmuster und Praktiken“ über und von Familie (S. 10). Martschukat, einer der Historiker, welche die Theorieangebote Michel Foucaults bereits früh für die historische Analyse empirisch fruchtbar gemacht haben, untersucht die (Selbst)Positionierungen von Vätern in ihren Familien als Element eines biopolitischen Dispositivs, als Anleitung zur Selbstführung im Sinne des Foucaultschen Konzeptes der „Gouvernementalität“ (S. 22).1

Auch empirisch unterscheidet sich seine Studie produktiv von den bisherigen Arbeiten zur Geschichte von Familie, Vaterschaft und Männlichkeit in den USA: Zwar stellt auch er den Vater ins Zentrum seiner Überlegungen, befragt die unterschiedlichen Vater-Figuren, Beziehungen und Funktionen, aber immer im Hinblick auf ihre Bedeutung für die jeweilige Vorstellung von Familie und der „Ordnung des Sozialen“.2 Dies leisten insgesamt zwölf exemplarische Fallstudien, in denen jeweils ein Akteur oder eine Familienkonstellation im Zentrum steht, an deren Beispiel der Wandel der Ordnung der Familie in den USA veranschaulicht wird: Die Bandbreite reicht vom (späteren) Präsidenten John Adams über den Siedler-Vater an der „Frontier“, vom versklavten Vater in den Südstaaten bis zum afroamerikanischen Familienvater der frühen 1970er-Jahre, dem Leiter der New Yorker Young Men’s Christian Association (YMCA) zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zum Angestellten „im grauen Flanellanzug“ der 1950er-Jahre. Interessant ist auch, dass nicht nur Männer hier zu Wort kommen, sondern auch Ehefrauen, Töchter und ein lesbisches Elternpaar nebst dem biologischen Kindsvater.

Ein Vorteil dieser Darstellungsweise ist ein hoher Grad an Plastizität und eine sehr gute Lesbarkeit. Herausragend gelingt beispielsweise die Schilderung, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts die erste sexuelle Revolution in den US-amerikanischen Großstädten begann, geknüpft an die Vorstellung des Junggesellen als urbaner Lebensform. Für die Wahrnehmung der Zeitgenossen, so Martschukat, war jedoch nicht wichtig, ob es tatsächlich mehr „bachelors“ im Umfeld der YMCAs und weiterer homosozialer Einrichtungen und Treffpunkte gab. Entscheidend war vielmehr die Vorstellung, die moderne Großstadt begünstige eben diese Lebensform, fordere sie sozusagen heraus. Zugleich lieferten die boomende Sexualkunde und Psychoanalyse mehr Wissen über Diversität der Sexualität, was zugleich die Ordnung in vermeintlich „gesunde“ und „kranke“ Erscheinungsformen des Sexuellen und eine entsprechende Normierung und Pathologisierung ermöglichte.

Einfühlsam skizziert Martschukat ausgehend von dem preisgekrönten Film „Killer of Sheep“ des Regisseurs Charles Burnett (1977), wie hier die Lebenswirklichkeit afroamerikanischer Familien im Umfeld der Großstädte der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre dargestellt wurde. Am Beispiel des fiktiven Familienvaters und Schlachthofarbeiters Stan aus Watts, Los Angeles, diskutiert Martschukat, unter welchen Kosten und Anstrengungen viele Afroamerikaner versuchten, nach dem Ideal der weißen Kernfamilie zu leben – nur eben unter den Bedingungen fortgesetzter rassischer, sozialer und ökonomischer Diskriminierung. Hierzu verlagert er den Blick sukzessive auf historische Quellen und sozialwissenschaftliche Analysen, welche dagegen das Stereotyp des „unzuverlässigen afroamerikanischen Vaters“ propagierten. Der Verweis auf die Langlebigkeit dieser Annahmen, die bis heute zur Abwertung afroamerikanischer Männer und Familien dienen, ist ein wichtiges Detail im Gesamtbild US-amerikanischer Vorstellungen von Vaterschaft.

Hat nun die Kernfamilie mit dem Ideal des männlichen Ernährers als normatives Ideal spätestens seit den 1970er-Jahren ausgedient? Wie Martschukat feststellt, war sie seit Beginn der Republik nie die „vorrangig gelebte Lebensform“, wohl aber der Referenzrahmen, an welchem viele Menschen ihre Selbstwahrnehmung abglichen: „Der genaue Blick in Autobiographien, Briefwechsel, Tagebücher, Interviews, soziologische Erhebungen, Romane, Filme und andere Quellen hat eine große Wirkmächtigkeit des kernfamilialen Ideals gezeigt. […] Die Wucht dieser Familienform mit ihren Normierungen und Regulierungen ist so groß, dass sie in jedem Kapitel förmlich greifbar ist, von der Revolution bis zu unserer Gegenwart.“ (S. 361) Die regulierende Bedeutung dieser normativen Konstellation über alle Brüche und Gegensätze der US-Geschichte hinweg herausgearbeitet zu haben, ist der eigentliche Verdienst des Buches. Ob man dies jedoch nur in „Nahaufnahmen“ aufzeigen kann, wie der Autor meint (S. 361), sei dahingestellt. Wichtig ist, dass sich in den meisten Fällen über die historischen Vignetten zu Vätern und ihren Familien das Gesamtbild der Geschichte der US-Familie in der „longue durée“ erschließt, womit Martschukat deutlich über alle bisherigen Studien zur US-Familie und Vaterschaft hinausgeht.3

Den beachtlichen Leistungen dieser Arbeit stehen jedoch auch einige Nachteile gegenüber: So erzwingen der weitgehende Verzicht auf Fußnoten und die stark am Einzelfall ausgerichtete Darstellung manche Vergröberung und einseitige Erzählung. So überzeugt die Darstellung der Oneida Community um John H. Noyes in der Mitte des 19. Jahrhunderts nur bedingt als „kritischer Gegenentwurf“ zur republikanisch-bürgerlichen Vision von Liebesehe, Kernfamilie und separaten Sphären. Das Treiben der Oneidas zwischen „complex marriage“ (einer interdependenten Ehe aller Mitglieder beider Geschlechts, reguliert vom Oberhaupt der Kommune) und festgefügten Geschlechterrollen erscheint vielmehr als extremer Sonderfall, der die Bedeutung von Emotionalität und Subjektivierung im neu entstehenden Konzept der Liebesehe und des bürgerlichen Heims eher verunklart als erhellt. Manchmal gerät zudem die Wortwahl leicht anachronistisch, wenn beispielsweise angesichts homoerotischer Lebensformen in den Großstädten des frühen 20. Jahrhunderts von „Queerness“ die Rede ist. Der wichtigste Einwand betrifft die Darstellung von weiblichen Handlungsspielräumen, Gendernormen und Einflussnahmen auf das Familienbild. Die Schilderung weiblicher Agency und Geschlechterrollen bleibt, bedingt durch den Fokus auf den Vater/Sohn/Ehemann, notgedrungen einseitig. Auch die tragende Bedeutung der beiden Phasen der Frauenbewegung für die Veränderung der Gendernormen wird kaum erwähnt.

Generell überwiegen jedoch die Vorteile der Darstellung: Martschukats Studie ist ein sehr gut lesbares Buch, das herausarbeitet, wie Väter in den unterschiedlichsten Lebenssituationen und Epochen um „Selbstführung“ und „Führung ihrer Familien“ zugunsten von Gesellschaft und Nation rangen. „Die Ordnung des Sozialen“ zeigt eindrucksvoll, mit welchen wichtigen Veränderungen (Neuinterpretation von sozialer Vaterschaft, Flexibilisierung der Gendernormen) und erstaunlichen Kontinuitäten (Ernährerfunktion, Ideal der Kernfamilie) Väter von Beginn der Republik bis heute konfrontiert wurden und was sie selbst dazu beitrugen.

Anmerkungen:
1 Jürgen Martschukat (Hrsg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt am Main 2002.
2 Der Verfasser legt damit eine wichtige Ergänzung zu den eher traditionellen Geschichten von Vaterschaft in den USA von Rotundo und Griswold, zu den stärker epochal fokussierenden Analysen LaRossas und zu eher theoretischen Überlegungen Kimmels vor. Robert L. Griswold, Fatherhood in America. A History, New York 1993; Anthony Rotundo, American Manhood. Transformations in Masculinity from the Revolution to the Modern Era, New York 1994; Ralph LaRossa, Of War and Men. World War II in the Lives of Fathers and Their Families, Chicago 2011; ders., The Modernization of Fatherhood. A Social and Political History, London 1997; Michael Kimmel, Manhood in America. A Cultural History, New York 1996. Martschukat selbst hat einen Sammelband herausgeben, der verschiedene Perspektiven von Männlichkeit in den USA eruiert, gemeinsam mit Olaf Stieglitz hat er zudem eine Geschichte der Männlichkeit vorgelegt, die zum Standardwerk avanciert ist. Jürgen Martschukat (Hrsg.), Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader, Bielefeld 2007; ders. / Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008 (Originalausgabe Tübingen 2005).
3 Am ehesten deutet die Grundlagenarbeit von Stephanie Coontz eine Geschichte der Familienvorstellungen in der „longue durée“ an, bleibt aber bisweilen oberflächlich. Stephanie Coontz, The Way We Never Were. American Families and the Nostalgia Trap, New York 1992.

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