Titel
Die Ordnung der Räume. Geographische Forschung im Anschluss an Michel Foucault


Herausgeber
Füller, Henning; Michel, Boris
Reihe
Raumproduktionen 15
Erschienen
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jan Simon Hutta, Bayreuth

Michel Foucaults Schriften, so bemerkt Axel Honneth in seiner „Zwischenbilanz einer Rezeption“ von 2003, eignen sich schlecht zur Erzielung konkreter Fortschritte in wissenschaftlichen Disziplinen. Im Gegenteil, indem sie sich an die Ränder der Wissensfelder begäben, um von dort aus deren Voraussetzungen freizulegen, trügen sie zu deren „radikaler Entzauberung“ bei. Daher sei es kaum verwunderlich, dass sich die explizite Foucault-Rezeption bis dato weitgehend auf das Gebiet des Philosophischen beschränkt habe. In den Human- und Sozialwissenschaften habe in den 1980er- und 1990er-Jahren eine Auseinandersetzung mit Foucault dagegen „im Untergrund“1 über informelle Lesekreise, Tutorien und randständige Publikationen stattgefunden, von wo ausgehend sich allerdings ein allmählicher Paradigmenwechsel hinsichtlich der Begriffe Macht, Wissen und Subjekt vollzogen habe.

Füller und Michels Band „Die Ordnung der Räume“ zeugt hingegen von einem qualitativen Umschlag. Ebenso intensiv wie kontrovers wurden foucauldianische Ansätze in den vergangenen zehn Jahren etwa in dem als „Neue Kulturgeographie“ bezeichneten Diskussions- und Forschungsfeld verhandelt2, dem rund die Hälfte der Beiträge des Bandes zugeordnet werden kann. Diese geographische Debatte verknüpft sich auch mit der in den 2000er-Jahren intensivierten anglophonen Thematisierung einer von Foucault inspirierten raumbezogenen Analyse.3 Sie ist Ausdruck einer Hinwendung zur expliziten Konzeptualisierung begrifflich-empirischer Forschungsdesigns. Füller und Michel streben denn auch explizit eine „Übertragung der Begriffe Foucaults in ein konzeptionelles Raster sozialwissenschaftlicher Forschung“ (S. 13) an.

Bereits in den ersten beiden Diskussionsbeiträgen von Füller/Michel und Marquardt/Schreiber klingt jedoch eine methodologische Herausforderung an, die zu Honneth zurückführt: Wie können Foucaults raumbezogene Konzepte sinnvoll ‚angewandt‘ werden, wo Foucault sie doch stets in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Problematiken der Analyse neu formulierte? Wie können sie der Produktion eines positiven Wissens über Raum und Gesellschaft dienen, wurden sie doch als genealogische Werkzeuge zur Infragestellung der Gegenwart konzipiert? Der Problematik einer „Disziplinierung Foucaults“ (S. 13) durchaus gewahr, sollen seine Begriffe nun gleichwohl geographischer Forschung zu genau jenem disziplinären Fortschritt verhelfen, dem sie doch eigentlich zuwider laufen.

Füller/Michels programmatische Einleitung und Marquardt/Schreibers sowie Pløgers daran anschließende Aufsätze zeichnen die Konturen eines raumbezogenen Forschens im Anschluss an Foucault nach. Als vielversprechend hervorgehoben wird dabei einerseits die Möglichkeit eines besseren Verständnisses kontingenter, komplexer, diskontinuierlicher Prozesse und Arrangements und andererseits das Potential einer „Re-Materialisierung“ der eher sprachzentrierten Kulturgeographie. Betrachtet man die Studien zu Migration (Geiger), Hochhaussiedlungen (Termeer), Grenzen (Abdo), Automobilität (Manderscheid), Sozialer Arbeit (Dirks), Drag-Bühnenshows (Schuster), Vergnügungsparks/Fußballstadien (Steinkrüger/Zehetmair) und Filmen des Cinéma de banlieu (Klung) in ihrer Gesamtheit, so fällt tatsächlich eine Betonung der Analyse komplexer diskursiv-materieller Ensembles auf. Ins Spiel gebracht werden dabei explizit die Konzepte Macht, Raum, Gesellschaft, Wissen, Praktiken, Technologien, Körper und Subjektivierung. Besonders häufig werden diese durch die konzeptuelle Trias Raum – Wissen – Macht gerahmt.

Insbesondere zeichnen sich neue Formen der Problematisierung räumlich artikulierter Phänomene ab, die sich nicht unbedingt am bestehenden fachbezogenen Wissen orientieren, sondern dieses umgekehrt neu gestalten können. Aufschlussreich ist etwa Termeers Diskussion disziplinierender Effekte des Neuen Wohnens, bei der nebenbei auch die weitgehende Ausklammerung von Räumlichkeiten des Wohnens bei Foucault deutlich wird, der die großen planungs- und architekturbezogenen Problemfelder seit dem 19. Jahrhundert vielmehr in Kommunikation, Transport und der Ordnung öffentlicher städtischer Räume sah.4 Auf ebenfalls erhellende Weise zeigt Manderscheid in ihrer Thematisierung von „Automobilität als raumkonstituierendes Dispositiv der Moderne“ den analytischen Mehrwert einer foucauldianischen Analyse auf, indem sie der modernisierungstheoretischen Individualisierungsthese und ökonomistischen Ansätzen eine Analyse kontingenter und räumlich vermittelter Macht-/Wissen-Konfigurationen entgegensetzt.

In diesem Sinn liefern die im Band versammelten Texte eine Reihe weiterer interessanter Argumente. Schuster betont etwa die Bedeutung, die „die kleinen Orte und flüchtigen Erscheinungsformen“ (S. 221) in der Entwicklung normenkritischer Praxen und Lebensentwürfe haben. Klung fragt nach den Möglichkeiten, das Sichtbare – konkret: filmische Repräsentationen – jenseits eines Primats des Sagbaren oder Diskursiven in seiner jeweils spezifischen Ausdrucksform zu analysieren. Und Schregel stellt die knifflige Frage nach einer raumbezogenen „Semiologie“ oder „Spurenkunde“ der Macht (S. 266), also inwiefern bestimmte Veränderungen im Raum überhaupt als Ausdruck von oder konstitutiv für bestimmte Machtverhältnisse gelesen werden können.

An verschiedenen Stellen des Bandes wird deutlich, wie foucaultsches Denken produktiv in sozialwissenschaftliche Forschung hineingeflochten zur Neuausrichtung der Forschungsfragen beitragen kann. Dass dies keine „Disziplinierung Foucaults“, keine diskursimmanente Verkürzung einer genealogisch-machtkritischen Analyse bedeuten muss, zeigt sich besonders da, wo nicht versucht wird, Foucault einfach ‚anzuwenden‘, sondern je eigene Problematisierungen entwickelt werden. Schregel kehrt hinsichtlich der Anwendungsfrage gar die Perspektive um und deutet die Passgenauigkeit, mit der sich Raumkonstitutionen im Kontext der Neuen Friedensbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre mit foucaultschen Machtkonzepten fassen lassen, als Ausdruck von Foucaults eigener Immanenz innerhalb der Diskurse der Zeit. Foucault erhält hier allerdings den Status eines vorreflexiven Ethnologen, dessen Machtbegriff zwar die vorgefundene gesellschaftliche Realität äußerst trefflich einfängt, jedoch angesichts der Kontingenz von Macht beständig durch immer neue Machtkonzeptionen ergänzt werden müsse.

Explizit heben Marquardt/Schreiber dagegen Foucaults eigenes methodologisches Angebot einer Analyse kontingent angeordneter, nicht linear aufeinander folgender Formen der Machtausübung hervor, die sie mit Rabinow auf den Begriff einer „topologischen Perspektive“ bringen (S. 45). Näher wird dieser Ansatz von Füller/Michel mit Verweis auf die anglophone Debatte des Topologiebegriffs expliziert, der im deutschsprachigen Forschen mit Foucault noch wenig ausgeleuchtet zu sein scheint.

Schregels Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen einer Machtanalyse „mit Foucault“ verweist allerdings auf die reale Gefahr, einzelne Konzepte Foucaults ‚anwenden‘ zu wollen und sie dabei von der genealogisch-topologischen Perspektive zu entkoppeln. Überblickt man die Texte des Sammelbandes insgesamt, so könnte man an einigen Stellen tatsächlich den Eindruck gewinnen, „geographische Forschung im Anschluss an Foucault“ bedeute das systematische Aufspüren von Panoptiken und Heterotopien. Gerade das Konzept des Panopticon, sowie ein damit oft einhergehender Fokus auf disziplinarische Räume, scheinen nach wie vor einen zentralen Ankerpunkt deutschsprachiger raumbezogener Foucault-Rezeption zu bilden. So kreisen um durch Disziplinarmacht organisierte Räumlichkeiten etwa die Beiträge von Pløger, Termeer, Abdo, Schuster, Steinkrüger/Zehetmair und Schregel. Dabei stellte Foucault selbst das Panopticon nicht nur in Zusammenhang mit Disziplinarität, sondern etwa auch mit liberalen Rationalitäten des Regierens.5

Methodologische Debatten drehen sich im vorliegenden Sammelband weniger um die Implikationen einer genealogisch und topologisch angelegten Machtanalyse als etwa um das Verhältnis von Sprache und Materialität sowie um Foucaults Begriffe des ‚Diskurses‘ und des ‚Dispositivs‘. Vielleicht wäre es aber an der Zeit, den Schwerpunkt theoretischer Auseinandersetzungen von dieser etwas ermüdenden Debatte weg zu verlagern.

Insgesamt überzeugen im vorliegenden Buch diejenigen Foucault-Bezüge am meisten, bei denen foucauldianische Arten der Problematisierung hinsichtlich Raum – Wissen – Macht auf je gegenstandsbezogene Weise entwickelt werden. Solche Arten der Problematisierung sind eher durch methodologische – etwa an Genealogie und Topologie orientierte – Ansätze als durch die Übernahme einzelner Konzepte gekennzeichnet. Auch Metakonzepte wie Kontingenz oder Dispositiv können hier kreativ mobilisiert werden und neue Blickwinkel eröffnen. Füller/Michels etwas irreführende Idee eines ‚konzeptionellen Rasters‘ sollte daher, wie von den Autoren auch vorgeschlagen, eher auf dieser heuristischen Ebene analytischer Metakonzepte zur Geltung kommen. Bei schablonenhaften ‚Anwendungen‘ einzelner Begriffe zeichnet sich jedoch in der Tat die Gefahr einer „Disziplinierung Foucaults“ ab. „Geographische Forschung im Anschluss an Michel Foucault“ könnte so missverstanden werden als analytischer Zuschnitt der empirischen Welt auf foucaultsche Machttypen, insbesondere wenn der genealogische gegen einen nomothetischen Ansatz eingetauscht wird. Demgegenüber signalisiert die Formulierung „im Anschluss“ ein Weiterdenken und Re-artikulieren, wobei gerade der genealogisch-topologische Ansatz viele Anknüpfungspunkte bietet.

Indem der Band aber genau dieses Spannungsfeld von Disziplinierung und Re-artikulierung aufspannt, leistet er einen wesentlichen Beitrag zur Diskussion einer – längst nicht mehr im Untergrund stattfindenden – sozialwissenschaftlichen Forschung im Anschluss an Foucault. Dabei zeigt er auch Möglichkeiten auf, Foucault nicht nur in die geographische Disziplin hereinzuholen, sondern mit Foucault eine raumbezogene Forschung zu entwickeln, die sich an Problemen der Welt, nicht an etablierten Disziplinengrenzen orientiert. Insofern sozialwissenschaftliche Diskussionen rund um Raum, Macht, Wissen und Subjekt zudem immer schon polyfon waren, geht es dabei auch sicher nicht darum, bei deren Problematisierung an nur eine einzige Figur anzuschließen.

Anmerkungen
1 Axel Honneth, Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Rezeption, in: Axel Honneth / Martin Saar (Hrsg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt am Main 2003, S. 15–26, hier S. 17 u. 19.
2 Siehe dazu den Aufsatz von Marquardt/Schreiber im vorliegenden Band.
3 Exemplarisch sei hier verwiesen auf Jeremy W. Crampton / Stuart Elden (Hrsg.), Space, Knowledge and Power. Foucault and Geography, Aldershot, 2007.
4 Michel Foucault, Raum, Wissen und Macht, in: ders., Dits et Ecrits, Schriften, Vierter Band, Frankfurt am Main 2005 [1982], S. 324–341.
5 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik, Vorlesung am Collège de France, 1978–1979, Frankfurt am Main 2004, S. 102.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension