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Titel
Deutsche Legenden. Vom Dolchstoss und anderen Mythen der Geschichte


Autor(en)
Keil, Lars Broder; Kellerhoff, Sven Felix
Erschienen
Anzahl Seiten
283 S., 12 Abb.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Institut für Politikwissenschaften, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Legenden werden unserem allgemeinen Alltagsverständnis nach mit einfach strukturierten und in der Regel unverbürgten Erzählungen gleichgesetzt. Eines ihrer signifikanten Kennzeichen ist die ursprünglich mündliche Form der Überlieferung. Zu einer schriftlichen Fixierung bzw. Kanonisierung kommt es gewöhnlich erst zu einem viel späteren Zeitpunkt. Der Dokumentation der erzählerischen Details oder dem Nachweis eines wahren inhaltlichen Kerns kommt in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Ihre Langlebigkeit und Wirkungsmächtigkeit verdanken Legenden der stetigen – und oft wenig reflektierten – Wiederholung ihrer Kernaussage in unterschiedlichen kulturellen, räumlichen und zeitlichen Kontexten. Diese generelle Diagnose gilt gleicherweise für die zwölf Mythen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Lars-Broder Keil und Felix Kellerhoff unter dem Titel „Deutsche Legenden“ zusammengestellt haben. In diesem Band werden die Kernaussagen einiger pauschaler historischer Deutungen und in der Öffentlichkeit kursierender Geschichtsbilder, die zentrale Ereignisse und Wendepunkte der deutschen Geschichte seit dem 1. Weltkrieg berühren – wie die Kriegsschuldfrage, der angeblich saubere Krieg der Wehrmacht oder die Ernsthaftigkeit der Stalinnote – einer kritischen Untersuchung unterzogen. Indem die beiden Autoren die von ihnen ausgewählten Legenden mit dem neuesten Stand der historischen Forschung konfrontieren, nehmen sie gleichsam den gesamten mythischen Ballast von ihnen. Diese Vorgehensweise führt zwangsläufig zur ‚Entzauberung‘ der Legenden.

Im Einführungskapitel unterscheiden Keil und Kellerhoff grundsätzlich zwischen vier Typen historischer Legendenbildung, die sich während ihrer langjährigen journalistischen Beschäftigung mit Mythen der jüngeren deutschen Geschichte herausgebildet haben: Legenden können demnach, erstens zweckgebunden sein. Der praktische Gebrauch von solchen Geschichtsverfälschungen wird am Beispiel der Diskussion um die Schuldfrage beim Brand des deutschen Reichstages im Februar 1933 dargestellt. An ihr lässt sich paradigmatisch aufzeigen, wie die Urheber historischer Legenden „die Tatbestände vorsätzlich und zielgerichtet verfälschen“ (S. 8). Die Legendenbildung dient somit eindeutig den politischen Zielen ihrer Urheber. Zu diesem zweckgebundenen Typ zählen Keil und Kellerhoff auch die gezielte Belastung oder Verunglimpfung von (in der Regel) politischen Persönlichkeiten. Historische Legenden können, zweitens dazu benutzt werden, eine Art Ersatzfunktion auszuüben. Ihre intendierte Wirkung erzielten sie besonders gut in den Fällen, „wo kollektives Nichtbegreifen oder Nichtbegreifenwollen anzutreffen sind“ (S. 9) oder eine historisch nachweisbare Verantwortung oder Schuld verharmlost bzw. gerechtfertigt werden soll. Dies gilt beispielsweise für den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, mit dem er im Juni 1941 einem angeblich in Kürze bevorstehenden Angriff Stalins ‚präventiv‘ zuvorkommen wollte. Daneben gibt es, drittens auch wirkungsmächtige Legenden, die die individuelle Entlastung von Vertretern des öffentlichen Lebens unterstützen sollen. Als Paradebeispiel führen die beiden Autoren hier die Dolchstoßlegende an, mit der die führenden deutschen Generäle von ihrem militärischen Versagen im Verlauf des 1. Weltkrieges ablenken wollten. Auf ein Muster für den vierten Typ, die Funktion von Legenden als „pauschale Verdächtigungen und Schuldzuweisungen“ (S. 9), verzichten Keil und Kellerhoff. Diese oft gegen die jüdische Bevölkerung als Gruppe vorgetragenen Anschuldigungen seien sowohl in der Literatur sehr gut untersucht als auch in der Hauptzahl der Fälle bereits „strafrechtlich sanktioniert“ (S. 10).

Historische Legenden entfalten das ihnen innewohnende Problempotential heute insbesondere dann, wenn sie selbst zum Bestandteil aktueller gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kontroversen werden. Dieser Zusammenhang lässt sich an zwei der von Keil und Kellerhoff ausgewählten Themenkomplexe beispielhaft skizzieren, der Legende von den gezielten Angriffen alliierter Tiefflieger auf wehrlose Zivilisten im Zuge der Bombardierung Dresdens (S. 135-152) und der Legende vom Einmarsch der Nationalen Volksarmee der DDR in die Tschechoslowakei (S. 189-209): Die Erinnerung an den alliierten Luftkrieg gegen die deutsche Bevölkerung steht, wie die Diskussion um die Arbeit von Jörg Friedrich 1 noch einmal unterstreicht, weiterhin unter dem Eindruck starker Emotionen, die sich sowohl in der mündlichen wie auch in der schriftlichen Tradierung der entsprechenden Ereignisse wiederfinden. Keil und Kellerhoff machen in diesem Zusammenhang ihrerseits deutlich, dass ein in vielen persönlichen Erinnerungen und einschlägigen Veröffentlichungen zum Thema geschildertes Massaker an der auf die Elbauen geflüchteten überlebenden Bevölkerung Dresdens durch amerikanische und britische Kampfflieger am Tag nach der Bombardierung der Stadt im Februar 1945, in Wirklichkeit nicht stattgefunden haben kann. Die Auswertung entsprechender Akten in den Archiven sowie alliierte und deutsche Quellen geben keinerlei Hinweise auf die geschilderten Vorgänge. Die beiden Autoren verorten die lange Wirksamkeit der Legende stattdessen in einer doppelten Instrumentalisierung der Ereignisse, sowohl durch die SED-Regierung im Sinne eines unübersehbaren Beispiels für die Brutalität des kapitalistischen Systems, als auch durch Teile der westdeutschen Rechten, die die Legende als ein Argument in der Diskussion um die Möglichkeit einer Aufrechnung deutscher und alliierter Kriegsverbrechen nutzten.

Im Zuge der zahlreichen Nachbetrachtungen auf die gravierenden gesellschaftlichen Umwälzungen der sechziger Jahre wird immer wieder der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968 als ein politischer und historischer Kristallisationspunkt bezeichnet 2. In der damaligen Auseinandersetzung um ein ‚besseres‘ Deutschland spielte auch die Beteiligung der Nationalen Volksarmee der DDR bei diesem Einmarsch eine nicht unbedeutende Rolle. Nach heutiger Aktenlage sollte, so Keil und Kellerhoff, eine generelle öffentliche Neubewertung der damaligen Ereignisse stattfinden. Eine direkte Beteiligung der NVA fand nach ihrer Ansicht, trotz bekundeter Bereitschaft und einer groß angelegten Truppenmobilisierung, nämlich gar nicht statt. Zwar rückten Verbände des Warschauer Paktes vom Territorium Polens und der DDR in die Tschechoslowakei ein, die NVA als solche war aber nur in logistischer Hinsicht beteiligt, die von ihr bereitgehaltenen Truppen wurden von der Führung des Warschauer Paktes gar nicht angefordert. An dieser Tatsache ändere sich auch durch den Umstand nichts, dass diese Argumentation bereits seit längerem von der ehemaligen Generalität der Nationalen Volksarmee mit dem Ziel der eigenen Weißwaschung vorgetragen werde. Auch ohne direkte Beteiligung bleibt, wie Keil und Kellerhoff betonen, gleichwohl die „schwere politische wie moralische Schuld“ (S. 209) bestehen, welche die DDR-Führung durch die umfassende Einbindung in die Militäraktion und die offen bekundete generelle Bereitschaft an einer Beteiligung auf sich geladen hat.

Bei der kritischen Untersuchung der Kernaussagen der einzelnen Legenden gelingt dem Autorenduo auf überzeugende Art und Weise der anvisierte Spagat zwischen einer äußerst pointierten journalistischen Präsentation der Ergebnisse und der Beibehaltung der Maßstäbe wissenschaftlicher Genauigkeit: In allen Kapiteln werden – so detailliert wie es im Rahmen einer Kurzdarstellung möglich ist – die historischen Hintergründe, das zeitgenössische Umfeld sowie die jeweiligen (oft auch persönlichen) Motive der entscheidenden Akteure offengelegt. Die Wirkung in der zeitgenössischen Öffentlichkeit und besonders die spätere Rezeption kommen im Rahmen der Beschreibung ebenfalls nicht zu kurz. Der Band zeichnet sich insgesamt durch eine durchgehend überzeugende Argumentationslinie aus. Keil und Kellerhoff haben für ihre Arbeit eine Fülle unterschiedlicher historischer Quellen ausgewertet. Die Forschungsliteratur umfasst Monografien, Aufsätze, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie Akten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Zusätzlich greifen sie auf aktuelle Recherchen im Internet sowie Gespräche mit Experten und Augenzeugen zurück. Lediglich das begriffliche Instrumentarium muss bemängelt werden: Neben der wenig differenzierten Unterscheidung der vier Typen historischer Legendenbildung, gilt dies vor allem für den Umstand, dass die Begriffe Mythos und Legende von Keil und Kellerhoff nahezu synonym verwendet werden. Gerade in diesem Bereich legen sowohl die Begriffsgeschichte als auch neuere sozialwissenschaftliche und historische Forschungen zum Thema „Politischer Mythos“ eine klare semantische und inhaltliche Trennung der Begriffe nahe 3. Da sich die Konzeption des Bandes gleichwohl auch an ein nicht wissenschaftliches Publikum zu wenden scheint, sollte betont werden, dass der beabsichtigte Erkenntnisgewinn für die potentiellen Leser durch diese Einschränkung nicht geschmälert wird.

Bei der abschließenden Bewertung des Buches von Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellhoff kommt meines Erachtens einem anderen, häufig außer Acht gelassenen Aspekt eine besonders hohe Bedeutung zu. Geschichte ist bekanntermaßen nicht alleine eine Nacherzählung einer bereits vergangenen Wirklichkeit. Die Erinnerung an die Vergangenheit sollte auch immer mit einer Deutung der historischen Erfahrung einher gehen, welche die Möglichkeit einer vernünftigen Interpretation der Gegenwart und die Formulierung einer Erwartung an die Zukunft beinhaltet. Wenn die Langlebigkeit ein generelles Zeichen für den ‚Erfolg‘ von Legenden war, so gilt dies uneingeschränkt auch für die hier präsentierten historischen Legenden. Ihre komprimierte Kernaussage lässt sich nahezu in allen denkbaren gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen als Argumentationsfigur benutzen. Sämtliche Beiträge stellen ausgezeichnete Beispiele für den vielzitierten Gebrauch bzw. Missbrauch von Geschichte als politischem Argument dar 4. Der ‚Erfolg‘ solcher Strategien hängt dagegen vom Informationsgrad der gesellschaftlichen Öffentlichkeit über ihre eigene Vergangenheit ab. Das vorliegende Buch lädt deshalb auch zu einer Überprüfung des eigenen Wissens über die dargestellten historischen Zusammenhänge ein. Nach der Lektüre stellt sich für die Leserinnen und Leser Punkt für Punkt die Frage, ob sie selbst in jeder Alltagssituation immer die richtigen Argumente zur Hand haben, um historische Legenden wirkungsvoll entkräften oder widerlegen zu können.

Anmerkungen:
1 Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg, Berlin 2002.
2 Neben den als autoritär beschriebenen westeuropäischen Regierungen und den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt bildeten die sozialistischen osteuropäischen Staaten eine wichtige Koordinate im internationalen Bezugssystem der 68er-Generation. Siehe auch Wolfgang Kraushaar: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, hier bes. S. 19-52 und S. 172-195.
3 Vergleiche beispielsweise die Definitionen und Abgrenzungen bei Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik. Der Hermannmythos: zur Entstehung des Nationalbewusstseins der Deutschen, Reinbek bei Hamburg 1996, hier S.42ff.
4 Zum Forschungsansatz der Geschichtspolitik siehe das erste Kapitel in Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg der bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999, S. 13-38.

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