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Titel
Wandel mit Gewalt?. Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren


Autor(en)
Widmann, Alexander Christian
Reihe
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen 56
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
645 S.
Preis
€ 130,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Tripp, Ruhr-University Research School, Ruhr-Universität Bochum

Alexander Christian Widmann beschäftigt sich in seiner umfangreichen Studie, die 2011 von der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen wurde, mit den „Kontroversen über Gewalt und gesellschaftlichen Wandel“ im deutschen Protestantismus. Damit liegen nun die Ergebnisse des gleichnamigen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts an der Ludwigs-Maximilians-Universität München vor. Widmann hat die Debatten untersucht, die im deutschen (beziehungsweise vorwiegend im westdeutschen) Protestantismus um die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er- und 1970er-Jahren geführt wurden.

Der Autor verfolgt vier Themenkomplexe, in denen das Verhältnis der evangelischen Kirche und evangelischer Christen zur politisch motivierten Gewaltanwendung zentral war. Die eng miteinander verbundenen Themen sind 1.) die Diskussion um die ökumenische „Theologie der Revolution“, 2.) die Studentenbewegung in der Bundesrepublik und West-Berlin um 1968, 3.) das Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen zur Bekämpfung des Rassismus sowie 4.) der Linksterrorismus in Westdeutschland. Dabei konzentriert sich die Studie auf den westdeutschen Protestantismus, versucht aber den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR stets im Blick zu halten. Dies gelingt bei den aus der Ökumene stammenden Themen 1) und 3) freilich leichter als bei jenen, die sich speziell auf die westdeutsche Gesellschaft bezogen.

Widmanns Ziel ist es, „die Auseinandersetzung des deutschen Protestantismus mit der sogenannten ‚Gewaltfrage‘ der 1960er und 1970er Jahre darzustellen und ihre kirchliche wie gesamtgesellschaftliche Bedeutung und Funktion zu analysieren“ (S. 13). Die Gewaltfrage wird dabei vor allem als „innerprotestantisches Kampffeld“ (S. 17) verstanden. Die Grundannahme des Forschungsprojekts lautete, „dass sich in den zeitgenössischen Debatten über Gewalt und gesellschaftlichen Wandel die innerprotestantischen Prozesse einer Pluralisierung, Politisierung und Polarisierung im gesellschaftlichen Kontext brennglasartig verdichteten“ (S. 27).1

Diese Debatten werden in den vier chronologisch aufgebauten Kapiteln sehr ausführlich dargestellt. So geht es zunächst um die Diskussion über die „Theologie der Revolution“, die nach der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 anfangs fast ausschließlich in theologisch-kirchlichen Medien stattfand. In den Debatten wurde zunächst kein Bezug zur Situation im geteilten Deutschland hergestellt. Hier dominierten nach wie vor die deutsch-deutsche Klammerfunktion der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die 1965 erschienene „Ostdenkschrift“ mit dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ die öffentliche Wahrnehmung des Protestantismus.

Erst mit den Studentenunruhen im Rahmen der „68er“-Bewegung, die Widmann im folgenden Kapitel darstellt, wurde die „Theologie der Revolution“ auf die deutschen Verhältnisse übertragen. Ein besonderes Augenmerk der Untersuchung liegt hierbei auf den Evangelischen Studentengemeinden (ESG), die sich nach dem Tod des Berliner ESG-Mitglieds Benno Ohnesorg zunehmend politisierten. Die Osterunruhen von 1968 werden in diesem Kapitel ebenso geschildert wie die Störung von Gottesdiensten durch Studenten in Berlin.

Während sich die ersten thematischen Kapitel inhaltlich jeweils mit einer Teilkontroverse beschäftigen, verlässt Widmann diesen Aufbau dann und verschränkt in den zwei folgenden Kapiteln die beiden Themenkomplexe „Antirassismusprogramm“ und „Linksterrorismus“. Dies mag insofern sinnvoll sein, als beide Debatten parallel stattgefunden und sich zu einem gewissen Grad gegenseitig beeinflusst haben. So ist der Streit in den evangelischen Kirchen in Deutschland um den Sonderfonds des Antirassismusprogramms des Ökumenischen Rates der Kirchen, durch den unter anderem auch Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika unterstützt wurden, nur schwer ohne den Hintergrund des Linksterrorismus der 1970er-Jahre zu verstehen. Doch wären für den Leser die einzelnen Themenkomplexe nachvollziehbarer und der Aufbau der Arbeit kongruenter, wenn Widmann bei seinem anfänglichen Zugang geblieben wäre, pro Kapitel einen Themenkomplex zu behandeln. Stattdessen führt der Autor eine Zäsur ein, indem er 1974 ein weiteres Kapitel beginnen lässt. Er begründet das mit einer gesellschaftlichen „Tendenzwende“, die ein „Wiedererstarken konservativer Positionen“ erkennen lasse (S. 385). Dies habe sich insbesondere an einer stärkeren Teilnahme konservativer und evangelikaler Gruppen an den Debatten über Gewalt bemerkbar gemacht. Die Studie endet beim Jahr 1980. Die Veränderungen und Debatten, die angesichts der Friedensbewegung beziehungsweise auch in direkter Verbindung mit ihr nun innerhalb des Linksprotestantismus über das Verhältnis zur Gewalt geführt wurden, bleiben somit weiteren Forschungen vorbehalten.

Widmann bestätigt mit seiner Arbeit vor allem die am Anfang des Forschungsvorhabens aufgestellten Hypothesen sowie in der Forschung bekannte Entwicklungen, etwa die Tatsache, dass konfessionelle Grenzen weniger wichtig wurden als politische Vorstellungen (S. 481).2 Die Diskussion um Gewalt war, so ein Ergebnis der Arbeit, „der frei liegende Nerv einer Politisierung von Religion und einer Moralisierung von Politik“ (S. 475). „Gewalt“ war ein „Kampfbegriff, um ihn auf gesellschaftliche und kirchliche Missstände zu übertragen“ (S. 476). Sowohl konservative als auch progressive Protestanten führten ihn ins Feld, um aktuelle sowie zurückliegende (kirchen)politische Debatten auszufechten. Offensichtlich wird dabei, dass beide Seiten von unterschiedlichen Formen der Gewaltanwendung sprachen. Während sich die einen gegen revolutionäre Gewalt wandten, prangerten die anderen strukturelle Gewaltformen an. Daher diente die Gewaltfrage auch „einer protestantischen Verhältnisbestimmung zur eigenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ (S. 479) und beförderte durch die kontroversen Positionen zum Thema Gewaltanwendung „ein tiefergreifendes Demokratieverständnis“ (S. 478).

Die umfangreiche Studie widmet sich somit einem für die westdeutsche Zeitgeschichte überaus bedeutenden Thema. Allerdings ist es Widmann nicht ganz zufriedenstellend gelungen, seinen eigenen hohen Anspruch einzulösen. So wäre es beispielsweise wünschenswert gewesen, die Gewaltfrage als Thema in der Geschichte der Bundesrepublik nach zwei verlorenen Weltkriegen stärker zu verorten. Ein methodisches Problem der Untersuchung liegt darin, dass Widmann die Darstellung und die Analyse zu stark voneinander trennt. So lesen sich große Teile der Arbeit wie eine Dokumentation der Debatten. Anhand vieler Zitate werden ausführlich der Verlauf der Diskussionen und die verschiedenen Positionen dargelegt. Hier verliert sich der Autor teilweise in Details und in Kontexten, die nur entfernt mit der Gewaltfrage zu tun haben. Thesen und Interpretationen bleiben dagegen den Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel und den Schlussbetrachtungen vorbehalten, wodurch diese eher kurzen Abschnitte etwas verloren im Raum stehen. Ärgerlich sind zudem (gerade bei einem so teuren Buch) eine Reihe von Flüchtigkeits- und Rechtschreibfehlern, die durch eine gründlichere Prüfung hätten vermieden werden können.

Alexander Christian Widmanns Studie macht auf über 600 Seiten eine Fülle von Material zugänglich und stellt die Aufarbeitung von Einzeldiskursen in den Mittelpunkt. Dadurch wird die Arbeit zwar anschlussfähig für weitere Forschungen. Ihr fehlt aber ein zeitgeschichtlich aufbereiteter, systematischer Entwurf zum Umgang des westdeutschen Protestantismus mit der Gewaltfrage. Eine Möglichkeit hierfür könnte ein Ansatz sein, der sich nicht so sehr auf die Debatten konzentriert, in denen Gewalt als Argument genutzt wurde, sondern sich den Semantiken der Gewalt widmet. Ergänzend wäre es wichtig, die (theologische) Sozialisation und den Hintergrund der Protagonisten der Debatten stärker zu untersuchen. Welche Rolle spielten beispielsweise deren eigene Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg? Schließlich wäre auch die Frage zu klären, wie „deutsch“ und wie „protestantisch“ diese Debatten waren. Wie unterschied sich der Umgang mit der Gewaltfrage im (west)deutschen Protestantismus beispielsweise von anderen westlichen Ländern und von ähnlichen Debatten im Katholizismus? Hier bleibt Raum für weitere Arbeiten.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu auch Claudia Lepp, Gewalt und gesellschaftlicher Wandel. Protestantische Kontroversen über politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren, in: Historisches Jahrbuch 128 (2008), S. 523–539.
2 Vgl. z.B. Hugh McLeod, The Religious Crisis of the 1960s, Oxford 2007, S. 99f.