A. Gallus (Hrsg.): Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe

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Titel
Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption


Herausgeber
Gallus, Alexander
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Adamski, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Runde Geburtstage bzw. Jubiläen bekannter und öffentlichkeitswirksam agierender Persönlichkeiten bieten immer eine willkommene Gelegenheit, um die jeweilige Person als solche, ihre Verdienste oder gar ihr Lebenswerk zu würdigen – oder erneut ins Bewusstsein zu rufen. Dies gilt auch hinsichtlich des 100. Geburtstags von Helmut Schelsky (1912–1984), der im Oktober 2012 zumindest an einigen Hochschulstandorten und aus zumeist interdisziplinärer Perspektive genutzt wurde, um an diesen einflussreichen und zugleich umstrittenen Wissenschaftler zu erinnern. Eine (Wieder-)Beschäftigung mit Schelsky erscheint lohnend und spannend zugleich, gehört er doch ohne Zweifel zu den „Klassikern“ und herausragenden Protagonisten der deutschen Nachkriegssoziologie, selbst wenn er sowohl mit Verweis auf sein frühes als auch mit Blick auf sein spätes Werk manchem als unliebsam erscheinen mag.

Der hier besprochene, von Alexander Gallus herausgegebene Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die aus genanntem Anlass an Schelskys Geburtsort Chemnitz abgehalten wurde, an der dortigen Technischen Universität.1 Die im Band versammelten Autoren (insbesondere aus den Fachgebieten Soziologie und Politikwissenschaft, aber auch aus Philosophie und Geschichtswissenschaft) zielen mit ihren Beiträgen auf neue Einordnungsversuche der Person sowie zeitgemäße Interpretationsansätze seiner Forschungen. Dieses Vorhaben gestaltet sich in seiner Gesamtheit nicht unkompliziert, denn Schelsky unterscheidet sich von anderen Größen seiner Zunft dadurch, dass man ihn nur schwer in kontinuierlich fortbestehende Kategorien einordnen kann. Je nach Zeit- und Lebensphase erscheint Schelsky, wie Gallus einleitend und nach kurzer Darlegung der wichtigsten biografischen Stationen betont, als „Soziologe und Anti-Soziologe, Poet der Sachlichkeit und Polemiker, Hochschulgründer und Hochschulkritiker, Empiriker und Theoretiker, Sozialforscher und Sozialphilosoph, Gläubiger und Skeptiker, Konservativer und Progressiver, Intellektueller und Anti-Intellektueller“ (S. 15). Vor diesem widersprüchlichen Hintergrund ist es ganz vorteilhaft, dass Karl-Siegbert Rehberg in einer zweiten Einführung die jeweiligen Positionen Schelskys in der Nachkriegsgeschichte bzw. seinen Weg vom Pragmatiker zum „Anti-Soziologen“ aufzeigt, bevor sich die nachfolgenden, soweit möglich in chronologisch-biografischer Abfolge gesetzten Beiträge auf bestimmte Teilfragen und zeitliche Intervalle konzentrieren.

Der Band gliedert sich in zwei Hauptabschnitte, die mit den übergeordneten Kategorien „Soziologe – Anti-Soziologe: Politische Positionierung und fachliches Selbstverständnis“ sowie „Re-Lektüren: Aktualität und Kritik des Werks“ bezeichnet sind. Während im ersten Hauptteil im Wesentlichen eine Einordnung Schelskys in die Zeit-, Ideen- und Fachgeschichte erfolgt, wobei auch die bereits in anderen Studien ausführlicher thematisierten Netzwerkverbindungen zur Sprache kommen, widmet sich der zweite Hauptteil explizit einer kritischen (Neu-)Bewertung ausgewählter Arbeiten und der Frage, inwiefern diese inhaltlich oder methodisch weiterhin Anschlussmöglichkeiten an heutige Themenkomplexe bieten.

Carsten Klingemann befasst sich zu Beginn des ersten Hauptteils mit der Rezeption Max Webers durch Schelsky im Kontext der so genannten Leipziger Schule der Soziologie (Hans Freyer, Arnold Gehlen und andere). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass diese Beschäftigung Schelsky zwar nicht zu einem Weberianer werden ließ – obgleich er sich viele Jahre später „als ‚in der geistigen Nachfolge Max Webers‘ stehend“ bezeichnete (S. 47). Das Umfeld der Leipziger Soziologie zeige aber, dass es „gerade im Dritten Reich eine fachgeschichtlich wie politisch spannende Auseinandersetzung mit Weber gegeben hat“ (S. 42). Im Anschluss sondiert Sebastian Liebold die Rolle Schelskys als Gesellschaftstheoretiker, indem er dessen Wandlungsbereitschaft hinsichtlich seines staatlichen Planungsdenkens über den politischen Systemwechsel hinweg mit dem „Planeifer“ des französischen Sozialphilosophen Bertrand de Jouvenel vergleicht. Setzte Schelsky sich in den späten 1930er-Jahren noch „für eine totale Durchdringung der Gesellschaft“ ein, so sollte für ihn unmittelbar nach 1945 die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse „nun Stabilität wahren und die Balance zwischen Gemeinsinn und bürgerlichen Freiheiten herstellen“ (S. 64). Der von Schelsky geprägte Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ dient Clemens Albrecht dazu, die Bedeutung einer reflexiven Sozialstrukturanalyse zu skizzieren, die – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Schelskys in der Nachkriegszeit vollzogener empirischer Wende – an der Erkenntnis sozialer Wirklichkeit unter Rückgriff auf fundierte empirische Methoden interessiert war. Soziologie sollte demnach „als institutionelle Dauerreflexion“ betrieben werden, „die immer ein klein wenig weiter denkt als das soziale Bewusstsein – und nur deshalb auch etwas zu sagen hat“ (S. 99).

Alfons Söllner betrachtet Schelsky in seinem Beitrag, ausgehend von dessen Buch „Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen“ (zuerst 1963), in der Rolle des Hochschulplaners und -reformers während der 1960er-Jahre. Dabei wehrt sich Söllner unter Verweis auf die wissenschaftstheoretische Untermauerung der Forschung sowie auf die Initiierung des Bielefelder „Zentrums für interdisziplinäre Forschung“ gegen das Urteil, Schelskys hochschulpolitische Ambitionen seien letztlich gescheitert (S. 113). Erstaunlich ist allerdings, dass Söllner gerade die auf Schelsky zurückgehende Schaffung der ersten und einzigen bundesdeutschen Fakultät für Soziologie nicht gesondert hervorhebt. Den ersten Hauptteil beschließt Nikolai Wehrs, der sich unter Berücksichtigung des wohlwollenden Kontakts zwischen Schelsky und dem „1970 als Defensivbündnis von Professoren gegen die linke Studentenbewegung und gegen die von ihr zumindest beeinflusste, wenn nicht ideell geleitete staatlich-legislative Hochschulreformpolitik“ (S. 117) gegründeten „Bund Freiheit der Wissenschaft“ mit dem sicherlich ressentimentgeladenen politischen Spätwerk Schelskys und seiner insbesondere außeruniversitären Verortung im „Hegemonialkampf der ‚Reflexionseliten‘“ in den 1970er-Jahren befasst.

Die Re-Lektüre ausgewählter Schriften eröffnet Frank Schale, der Schelskys Argumentation in dessen Habilitationsschrift über Thomas Hobbes (1939/41) – die erst 1981 unverändert publiziert wurde – nachzeichnet, „um zu begründen, dass es sich bei seiner Habilitationsschrift im Kern um ein faschistisch-totalitäres Plädoyer handelt, das der Hobbes’schen Philosophie nicht gerecht“ werde (S. 141). Dabei entspreche „Schelskys Parteinahme für den Nationalsozialismus weniger rassistischen und antisemitischen Motiven als einem voluntaristisch-kollektivistischen Aktionismus, der den Einzelnen immer nur in der geführten Bewegung verortet“ (S. 153). Nachfolgend analysieren in einer sehr gelungenen Art und Weise Johannes Kopp und Nico Richter die inhaltliche und methodische Anschlussfähigkeit von Schelskys Studien zur familialen Entwicklung in der jungen Bundesrepublik an die heutige Familiensoziologie. Dabei gelangen sie zu dem Schluss, dass Schelskys diesbezügliche Arbeiten für die gegenwärtige Forschung infolge ihrer zeitbedingten thematischen Bezüge sowie einer inzwischen verbesserten Erhebungsgrundlage keine Leitfunktion mehr besitzen können, obgleich sie zumindest aus ideen- und wissenschaftshistorischer Perspektive weiterhin ihre Bedeutung haben (S. 167). Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt Patrick Wöhrle, der sich mit Schelskys in den 1950er-Jahren ebenfalls breit rezipierter „Soziologie der Sexualität“ (zuerst 1955) befasst und vermerkt, dass dieses Werk einerseits „eine hochgradig konstruktivistische Perspektive“ eröffnet und „interessante Ansätze zu einer historischen Anthropologie der Sexualität liefert“ (S. 181), andererseits aber aufgrund einer längst nicht mehr zeitgemäßen Sicht, so zum Beispiel bei der „Einordnung sexueller ‚Abnormität‘“, an Grenzen stößt (S. 177).

Gerhard Schäfers Beitrag, der sich mit Schelskys „Ortsbestimmung der deutschen Soziologie“ (zuerst 1959) als wissenschaftstheoretischem Schlüsselwerk befasst, hätte aufgrund der nachvollziehbaren Verortung dieser Schrift im damals von Ränkekämpfen beherrschten Umfeld der Soziologie auch gut im ersten Hauptabschnitt eingeordnet werden können, zumal gerade dort autobiografischen Aspekten eine besondere Rolle zukommt. Der zweite Hauptteil schließt dann mit einer kritischen Sicht von Ellen Thümmler auf Schelskys Spätwerk bzw. seine „Demokratie der Sachlichkeit“, die nicht zuletzt „sein Festhalten an einer technokratischen Institutionentheorie“ offenlege (S. 220). Abgerundet wird der Sammelband durch eine persönliche Erinnerung von Volker Gerhardt, die veranschaulicht, dass man bei der gängigen Sicht auf den konservativen Intellektuellen Schelsky nicht den für Nachwuchswissenschaftler offenen und von Liberalität geprägten Hochschullehrer Schelsky außer Acht lassen darf.

Ob der in späteren Jahren (mit ironischem Unterton) selbsterklärte „Anti-Soziologe“ Schelsky alle der von den Autoren über ihn und sein Umfeld getroffenen Bewertungen unterzeichnen würde, ist an dieser Stelle nicht zu klären. Auch als Leser muss man nicht zwangsläufig sämtlichen Einschätzungen zustimmen. Kritisch sei angemerkt, dass bei der beabsichtigten „Neurezeption“ auch Schelskys Stellenwert im Ausland eine Berücksichtigung verdient gehabt hätte. Ähnliches gilt für seine Funktion als Wissenschaftsorganisator abseits der Bielefelder Hochschulgründung. Insgesamt gelingt dem Band mit seinen einzelnen Beiträgen, die alle bündig strukturiert und zumeist erfreulich flüssig formuliert sind, ein facettenreicher Blick auf einen schillernden, von Widersprüchen gekennzeichneten Soziologen.

Anmerkung:
1 Vgl. den Bericht von Ellen Thümmler, Tagungsbericht Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption. 25.10.2012–26.10.2012, Chemnitz, in: H-Soz-u-Kult, 02.09.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4994> (15.01.2014).