C. Gudehus u.a. (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch

Titel
Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch


Herausgeber
Gudehus, Christian; Christ, Michaela
Erschienen
Stuttgart 2013: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 420 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Imbusch, Fachbereich Soziologie, Bergische Universität Wuppertal

Gewalt gehört in der wissenschaftlichen Diskussion zu denjenigen Dauerthemen, zu denen bereits eine Fülle von Publikationen zu allen erdenklichen Aspekten vorliegt. Wenn man sich, wie die beiden Herausgeber des hier zu rezensierenden Buches – Christian Gudehus und Michaela Christ – anschickt, gleich ein „interdisziplinäres Handbuch“ zu publizieren, dann sind die Erwartungen, darin neue Erkenntnisse zu entdecken oder einen anderen Blick auf Dinge zu bekommen, entsprechend groß. Und um es gleich vorweg zu sagen: Man wird nicht enttäuscht! Denn die sechs größeren Abschnitte des Buches (plus Anhang) sind nicht nur innovativ angeordnet, sie erfüllen auch alle Ansprüche an ein Handbuch. Die einzelnen Beiträge darin beschreiten vielfach neues Terrain und vermessen die Frage der Gewalt auch mit neuen Perspektiven.

Eingangs finden sich zunächst einige begriffliche und forschungsprogrammatische Überlegungen zur Gewalt seitens der Herausgeber. Hier wird noch einmal auf die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Gewaltbegriff hingewiesen sowie auf die Ambivalenzen des Forschungsfeldes mit seinen vielen, nicht zuletzt widersprüchlichen Aspekten verwiesen. Gewalt stellt für Gudehus und Christ nicht nur eine begrifflich-methodologische Herausforderung dar, sondern sie führt die Wissenschaft auch an die Grenzen intersubjektiven Verstehens. Erstaunlich ist angesichts der im Buch ausgebreiteten Materialfülle gleichwohl, dass die beiden Herausgeber sich weigern, sich explizit auf einen Gewaltbegriff festzulegen. Sie wollen vielmehr unter Gewalt all das verstanden wissen, was unter diesem Stichwort erforscht und von Wissenschaftler/innen dafür gehalten wird. Das mag zwar zunächst wenig befriedigend erscheinen, hat aber im weiteren Verlauf des Buches den Vorteil, integrative Perspektiven zu eröffnen. Denn das Ziel des Buches ist es, auf vergleichsweise wenig Raum einen thematisch und disziplinär breiten Zugang zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gewalt zu ermöglichen. Und zumindest implizit wird auch ein Gewaltverständnis der Herausgeber deutlich, welches allerdings angesichts der Fülle von 56 Beiträgen nicht durchgängig geteilt wird.

Ein zweiter Abschnitt beschäftigt sich mit „Rahmungen von Gewalt“. Hier geht es um die Kontexte, in denen Gewalt auftritt, bzw. die Rahmen, in denen sie typischerweise zu finden ist. Die einzelnen Beiträge beschäftigen sich mit Themenfeldern wie Erziehung, Klimawandel, Krieg, Nationalismus, Polizei, Rassismus, Religion, Gewalt an Tieren, Sexualität und dem sozialen Nahraum. Diese Rahmen sollen je spezifische kognitive oder emotive Kontexte für die Gewalt bilden, innerhalb derer nach den konkreten Formen von Gewalt und ihren Dynamiken gefragt wird. Interessant ist hier zunächst einmal, dass nicht nur ‚klassische‘ Rahmungen behandelt werden, sondern auch der Klimawandel in seiner Bedeutung für Gewaltprozesse Berücksichtigung findet wie auch das Thema Gewalt an Tieren. In beiden Fällen werden zugleich die um die Frage der Gewalt gelagerten Kontroversen mitgeliefert, ist doch eine Verbindung von Klimawandel und Gewalt nicht offenkundig und ein Verständnis von Makrogewalt als massenhaftes Töten von Tieren wie überhaupt die Anwendung des Terminus Gewalt in Bezug auf Tiere nicht unmittelbar einsichtig.

Der dritte Abschnitt setzt sich dann mit „Praktiken der Gewalt“ auseinander. Hier geht es um die exemplarische Analyse der Logiken und Dynamiken von Handlungstypen, die gemeinhin mit Gewalt assoziiert bzw. als Gewalt klassifiziert werden können. Behandelt werden Phänomene wie Amok, das Attentat, die Beleidigung, Bombardierung, Folter, Hinrichtung, das Mobbing, der Mord, die Ohrfeige, das Pogrom, die Schlägerei, Vergewaltigung sowie das Verschwindenlassen. In den einzelnen Kapiteln geht es jeweils konkret darum, wie Gewalt als eine typische und spezifische Handlung funktioniert, warum sie wirkmächtig ist, in welcher Position sich die Täter befinden und in welche Situation sie die potentiellen Opfer bringt sowie welche Folgen die Gewalt jeweils für die Betroffenen zeitigt. Dabei wird, wo immer es geht, auch typologisch differenziert, und es werden verschiedene Subtypen herausgearbeitet. An den einzelnen Beiträgen dieses Abschnitts zeigt sich sehr schön, dass man Gewaltpraktiken auch jenseits dichter Beschreibungen von Gewalt und ihrer Ambivalenzen aufklärend beleuchten kann.

Ein vierter, etwas disparater Abschnitt befasst sich mit „Merkmalen, Prävention und Folgen“ von Gewalt. Hier geht es weniger um konkrete Ereignisse oder Handlungen als vielmehr um die übergeordneten, strukturellen Merkmale gewalttätigen Handelns. In den einzelnen Kapiteln werden einerseits Täter, Zuschauer und Opfer als Akteure sowie Gewaltgemeinschaften als eine Akteurskonstellation behandelt; sodann geht es um Codierungen von Gewalt im Sinne von die Gewalt umkreisenden Deutungsmustern, um Emotionen als Bedingung von Gewalt, um Körper und Räume als (Erleidens- bzw. Erlebnis-)Orte von Gewalt, um Genderspezifika von Gewalt, um Grausamkeit als Motivkomplex und Schmerz als Ziel und Ergebnis von Gewalt; schließlich enthält der Abschnitt noch Beiträge zur individuellen und kollektiven Gewaltprävention und zu den entsprechenden Gewaltfolgen. Ein Kapitel über Helfen, also über diejenigen Situationen, in denen die Deutungsmacht der Gewalttäter über ihre Opfer durch Interventionen von Außen in Frage gestellt werden, beschließt diesen Teil.

Im fünften Abschnitt geht es schließlich um die medialen „Repräsentationen der Gewalt“, die eine bedeutsame Rolle für die Bewertung und Einschätzung von Gewalt spielen. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit Gewalt in der Literatur, in Comics, in den Massenmedien, im Film, in digitalen Spielen und im Internet. In diesen Beiträgen wird jeweils gefragt, in welcher Form Gewalt dargestellt und verarbeitet wird, welche Ängste und Bedrohungsgefühle damit verbunden sind, welche möglichen Folgen der Konsum gewaltaffiner Medieninhalte hat und welche Wirkungen davon auf den Einzelnen ausgehen. Dabei kommen zwar die Spezifika der jeweiligen Medien in Bezug auf Gewalt deutlich zur Sprache, was aber unterbelichtet bleibt ist die gerade von massenmedialen Gewaltdarstellungen bzw. -aufbereitungen ausgehende verzerrte Wahrnehmung von Gewaltkriminalität und die daraus resultierende Kriminalitätsfurcht, die gerade im Kontext der aktuellen Versicherheitlichungsstrategien eine große Rolle spielt. Die Stichworte Angst, Sicherheit/Unsicherheit fehlen jedenfalls im Handbuch, hätten aber im Kontext der Gewalt wohl ein eigenes Kapitel verdient gehabt. Der letzte Beitrag dreht sich noch um die Repräsentationsformeln kollektiver Gewalt, die aber eine andere Struktur und Dimension besitzen als die zuvor genannten Repräsentationen.

Der sechste und letzte größere Abschnitt gibt dann den fachdisziplinären Zugängen zur Gewalt Raum. Hier geht es um Sichtweisen und Perspektiven der Anthropologie/Ethnologie, der Erziehungswissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Philosophie, der Psychologie, der Kriminologie, der Soziologie und der Sportwissenschaften. Daneben werden auch noch die in ihrem Erklärungswert für Gewalt umstrittenen Felder der Hirnforschung und der Soziobiologie behandelt. In diesen Kapiteln finden sich jeweils historische Reminiszenzen, zentrale Forschungsfragen, methodische Zugänge und theoretische Konzepte, mit der die jeweilige Fachdisziplin sich dem Thema Gewalt genähert hat. Zudem werden grundlegende Erkenntnisse und zentrale Ergebnisse der einzelnen Fachgebiete resümiert und beschrieben. Der Anspruch, ein interdisziplinäres Handbuch zu sein, weicht hier offen einer Perspektive, welche Fachdisziplinen bevorzugt. Gleichwohl versuchen die einzelnen Beiträge dieses Abschnitts jeweils Querverbindungen zu anderen Fächern herzustellen und die gegenseitigen Verknüpfungen und Anregungen deutlich zu machen. Alle Autor/innen dieser Kapitel haben durchaus einen selbstkritischen Blick auf ihre Disziplin und beleuchten auch defizitäre Entwicklungen und Versäumnisse in der Auseinandersetzung mit Gewalt.

Am Ende des Buches befindet sich ein Anhang (Abschnitt 7), in dem sich nicht nur eine überlegt ausgewählte Bibliographie findet, sondern auch Hinweise auf wichtige Institutionen, Zeitschriften und Ressourcen. Hier ließe sich allerdings kritisch anmerken, dass man diese Liste mühelos verlängern könnte und beispielsweise Hinweise auf wichtige Datenbanken fehlen. Ein Personen- und Sachregister runden das Handbuch ab und erleichtern die spezifische Recherche nach einzelnen Themenaspekten.

Insgesamt ist Christian Gudehus und Michaela Christ ein Handbuch zur Gewalt gelungen, was seinen Platz unter den führenden, inzwischen aber schon ein wenig in die Jahre gekommenen Handbüchern zur Gewalt verdient. Die Artikel sind allesamt kompakt und gut verständlich von wissenschaftlichen Expert/innen auf ihrem Feld geschrieben. Nur ganz wenige Beiträge fallen unterdurchschnittlich aus. Gleichwohl sind alle auf dem neuesten Stand, informativ und erlauben einen raschen Einstieg in das jeweilige Thema. Dass es bei einer derartigen Breite an Themen und Autoren nicht immer ganz ohne widersprüchliche Einschätzungen abgeht, darf nicht überraschen. Nur an ganz wenigen Stellen zeigen sich Kompositionsprobleme im Band, etwa da, wo uneindeutige Abgrenzungen einzelner Beiträge bestehen, so zum Beispiel bei den Themenfeldern Sexualität und Gewalt sowie bei Literatur(wissenschaft) und Gewalt; oder dort, wo Themen nicht ganz konsistent den Überschriften zugeordnet werden konnten (wie im Abschnitt 4). Schließlich bleibt zum Schluss bei einem Handbuch immer die Frage: Was fehlt? Neben den bereits weiter oben angemerkten Themen der Angst und von Sicherheit/Unsicherheit könnte auch noch an Resilienz gedacht werden, welche auch und gerade in Bezug auf Gewalt zunehmend als interdisziplinäres Konzept an Bedeutung gewinnt. Sodann hätte sich der Rezensent ein eigenständiges Kapitel zu Legitimationen von Gewalt gewünscht. Zwar taucht die Frage der Legitimität von Gewalt an verschiedenen Stellen auf, aber eingehend und erschöpfend behandelt wird sie leider nicht. Dabei bündeln sich gerade in der Frage nach der Legitimierbarkeit von Gewalt nicht nur interdisziplinäre Bezüge, sondern offenbart sich auch die ganze Fluidität eines Phänomens wie Gewalt mitsamt ihren unterschiedlichen und historisch sich wandelnden Bewertungen. Gleichwohl kann das interdisziplinäre Handbuch zur Gewalt allen, die sich einführend oder weiterführend mit der Gewaltthematik beschäftigen wollen, uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden. Es verdient einen breiten Leserkreis.

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