M. Stoffregen: Kämpfen für ein demokratisches Deutschland

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Titel
Kämpfen für ein demokratisches Deutschland. Emigranten zwischen Politik und Politikwissenschaft


Autor(en)
Stoffregen, Matthias
Reihe
Forschung Politikwissenschaft 154
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Institut für Politikwissenschaft, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Für das Fach Politikwissenschaft muss das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Wissenschaft und Politik als ein besonders kennzeichnendes Merkmal angesehen werden. In der Historiographie der Disziplin steht aber nicht diese Form der ‚Politikgeschichte‘ sondern, neben dem klassischen ideengeschichtlichen Zugriff, die traditionelle Universitäts- und Gelehrtengeschichte im Vordergrund. Diesen unterschiedlichen Herangehensweisen gemeinsam ist, dass sie den Schwerpunkt der Untersuchung auf die Funktion des Wissenschaftlers als Professor und Fachvertreter legen und andere Tätigkeitsbereiche mehr oder weniger ausblenden. So galt beispielsweise der Bereich der politischen Publizistik in Deutschland lange Zeit als eine Domäne der Historiker. Es kann deshalb auch niemanden verwundern, dass in der Fachgeschichtsschreibung der Politikwissenschaft bisher in der Regel nicht politische Gegenwartsanalysen sondern die Wissenschaftskonzeptionen einzelner prominenter Vertreter im Mittelpunkt des Interesses standen.

Diese Einseitigkeit der Betrachtung ist nun durch die Publikation von Matthias Stoffregens vergleichender Studie „publizistischer Interventionen“ (S. 31) von in den dreißiger Jahren aus Deutschland ins amerikanische Exil entkommenen (Politik-)Wissenschaftlern beendet worden. Hinsichtlich dieser speziellen Emigrantengruppe, von der einige Mitglieder später eine wichtige Rolle bei der (Neu-)Gründung der Politikwissenschaft an den bundesdeutschen Universitäten spielen sollten, so zum Beispiel C.J. Friedrich, E. Fraenkel, A.R.L. Gurland oder F.A. Hermens, gab es bislang keine zusammenhängende Untersuchung ihrer tagespolitischen Texte oder ihrer speziellen deutschlandpolitischen Konzeptionen, sondern allenfalls Arbeiten zu ihren theoretischen Hauptwerken. Schon aus diesem Grund kommt der Bearbeitung des Themas eine grundlegende Bedeutung zu. Die einzelnen Texte, die Stoffregen seiner umfangreichen Abhandlung zugrunde legt, befassen sich mit der damaligen Lage Deutschlands und entwerfen Vorschläge für einen demokratischen Neuaufbau. Ihrem Charakter als Interventionen entsprechend, entstammen sie unterschiedlichsten Quellen, zumeist wissenschaftlichen, aber auch populärwissenschaftlichen Zeitschriften. Sie richten sich in der Regel an ein mit den kontinental-europäischen Verhältnissen wenig vertrautes amerikanisches Publikum bzw. an offizielle Stellen innerhalb der Washingtoner Bürokratie, die für mehrere Jahre ein wichtiges Auffangbecken für weite Kreise der Emigranten verkörperte 1.

Die Deutschlandanalysen der Emigranten orientierten sich in der Regel am jeweiligen Tagesgeschehen. So standen in der Frühphase die generelle Einschätzung hinsichtlich der Bedingungen der Kapitulation und des Wiederaufbaus, die Frage der Entnazifizierung mit der von allen hier zitierten Emigranten abgelehnten Behauptung einer deutschen Kollektivschuld (S. 45), die Kriegsverbrecherprozesse und das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Besatzungsmächten im Zentrum des Interesses. Nach dem Ende des Krieges wandte man sich umgehend den notwendigen Veränderungen in der sozialen Gliederung der deutschen Gesellschaft zu. Die Themengebiete umfassen hier – oft den aktuellen und ursprünglichen Arbeitsgebieten der Emigranten folgend – alle Bereiche der neuen deutschen Staatlichkeit wie den Föderalismus in den Facetten amerikanischer und deutscher Traditionen, das Grundgesetz als zukünftige Verfassungsordnung oder Fragen des Wahlrechts. Die Kommentare und Texte reichen, je nach Autor, bis in die frühen sechziger Jahre hinein und bieten später auch generelle Einschätzungen zur politischen Kultur in Deutschland, zu den Parteien und Interessengruppen (besonders den Gewerkschaften) und den Reformen im öffentlichen Dienst. Matthias Stoffregen gelingt es mit seiner Materialsammlung dabei immer wieder aufs Neue, selbst mit dem Thema bereits vertrauten Lesern, überraschende Facetten und Gesinnungswechsel im praktischen politischen Denken der einzelnen Emigranten aufzuzeigen. Die äußerst detaillierte Präsentation sämtlicher Fundstellen zu den einzelnen Unterpunkten hätte durch die Hinzunahme zusammenfassender und analysierender Abschnitte jedoch noch an Übersichtlichkeit gewinnen können.

Da sich das Buch auch als ein Beitrag zur Geschichte des Faches Politikwissenschaft in Deutschland versteht, verdienen einige diesbezügliche Punkte eine genauere Betrachtung. Es ist zum Beispiel interessant zu beobachten, dass der Einfluss der Emigranten auf den Bereich Reeducation und Politische Bildung von Stoffregen nur als äußerst gering eingeschätzt wird. Entsprechende Kommentare aus der Zeit vor Beendigung des Krieges spiegeln nur wenig Vertrauen in derartige Maßnahmen wider (S. 81ff.). Dieser Umstand wirkt um so überraschender, da einige der Kommentatoren, nur wenige Jahre später, eine völlig entgegengesetzte Einschätzung der Sachlage an den Tag legten. Die (Wieder-)Begründung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik sollte nämlich nicht in erster Linie mit dem Ziel erfolgen für ein Berufsbild „Politikwissenschaftler“ auszubilden, sondern mit einem klaren Auftrag zur politischen Bildung bzw. zur Erziehung der Deutschen zur Demokratie. Hier stimmten die Ansichten der Remigranten in weiten Teilen mit denen der (zumeist sozialdemokratischen) Politiker und den zuständigen alliierten Besatzungsbehörden überein.

Diese und andere teilweise recht augenfälligen Veränderungen in der persönlichen Meinung und die ebenfalls konträren Einschätzungen der Lage in Deutschland bzw. der zukünftigen Entwicklung spielen auch in Stoffregens Auseinandersetzung mit der These Alfons Söllners eine wichtige Rolle. Söllner hatte in seinen Studien zur Emigrationsforschung 2 ein verblüffend hohes Maß an Übereinstimmung in den politischen Forderungen der Emigranten ausgemacht. Demgegenüber präsentiert Stoffregen in seiner Untersuchung einen bunten Strauß an Meinungen, in denen nur ein demokratischer Minimalkonsens zum Tragen kommt und nicht ein erkennbares gemeinsames politisches Programm. Die ursprüngliche These Söllners erscheint somit als widerlegt. In diesem Zusammenhang drängt sich allerdings die Frage auf, ob zwischen den Emigranten, obwohl sie „noch einen relativ einheitlichen, traditionellen Zugang zu ihrem Thema Deutschland“ (S. 265) hatten, überhaupt mehr als nur ein vordergründiger Konsens erwartet werden durfte. Meines Erachtens gibt es gute Gründe, die dafür sprechen, den Emigranten nur bedingt den Status einer gemeinsamen Gruppe zuzugestehen, von dem Stoffregen hingegen implizit ausgeht und den er zusätzlich sprachlich untermauert, wenn er durchgehend von „emigrierten Politologen“ (o.ä.) spricht. Die so bezeichnete Gruppe stellt sich bei genauerer Betrachtung als in sich viel heterogener dar als Stoffregens Ausführungen dies nahe legen. Vergleicht man beispielsweise die Geburtsjahrgänge, die sich den ansonsten informativen Kurzbiographien im Anhang entnehmen lassen, so fällt ins Auge, dass sich nur schwerlich ein Generationszusammenhang zwischen den Beteiligten ausmachen lässt. Die Geburtsjahre liegen zwischen 1881 und 1916 verteilt und umfassen somit eine Zeitspanne von 35 Jahren. Die für die Deutschlandanalysen bzw. die eigentliche Emigration wichtigen politischen und gesellschaftlichen Einstellungs- und Erfahrungsmuster der Sozialisation besitzen somit nur bedingt eine gemeinsame und prägende Grundlage. Hinsichtlich ihrer politischen Präferenzen, sind die ausgewählten Emigranten ebenfalls verschiedenen Lagern zuzurechnen. In beruflicher Hinsicht handelt es sich zwar in der überwiegenden Mehrheit um ausgebildete Wissenschaftler bzw. Akademiker. Eine überzeugende Zusammenfassung als geschlossene Gruppe erscheint aber auch auf Grund der unterschiedlichen fachlichen Hintergründe (Soziologen, Historiker, Juristen) und der geographischen Zersplitterung der Wirkungsstätten der Exilierten in den USA (über das Land verteilte Universitäten und andere Dienststellen) jedenfalls nicht ohne weitere Erläuterungen möglich.

Mit Blick auf die Zuordnung zum Begriff „Politologen“ ist Stoffregen zwar generell zuzustimmen, „dass die Kriterien, um eine bestimmte Gruppe als Politologen auszumachen und benennen zu können, unscharf bleiben“ (S. 15, FN 14). Doch wäre es trotzdem hilfreich gewesen, wenn wenigstens der Versuch einer klaren Differenzierung unternommen worden wäre. Aus den Kurzbiographien geht die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin als wissenschaftliche Heimat eines größeren Teils der untersuchten Autoren hervor. In Zusammenhang mit dieser Institution lässt sich zu Recht von einem – wenn auch außeruniversitären – Versuch sprechen, das Fach Politikwissenschaft im Deutschland der Weimarer Republik zu konstituieren. So lassen sich Teile der Emigranten im weiteren Sinne durchaus schon vor der Emigration als Politikwissenschaftler bezeichnen. Im engeren Sinne wurden sie, unabhängig von ihrer fachlichen Herkunft als Juristen, Historiker oder Soziologen aber erst in den USA zu „political scientists“. Hinzu kommt der kleine Kreis derer, die nach erfolgreicher Remigration ordentliche Professuren für das Fach Politikwissenschaft an bundesdeutschen Universitäten übernehmen konnten. Gerade die bindende Klammer der wissenschaftlichen Karrieren als „political scientist“ kann so jeweils nur den Einzelbiografien und nicht einer bestimmten Gruppe zugerechnet werden. In Anbetracht der von mir aufgeführten Einschränkungen sollte eher von einer temporären Bündelung bzw. einer punktuellen Gruppenbildung gesprochen werden. Um möglichen Missverständnissen und Einwänden dieser Art von vornherein entgegenzutreten, wäre es notwendig gewesen, dass Stoffregen seine eigenen Auswahlkriterien zumindest ansatzweise offen gelegt hätte.

Die von Stoffregen selbst aufgeworfene spannende Frage, ob die Emigranten kontinental-europäische Wissenschaftler geblieben oder bereits amerikanische geworden sind, lässt sich am Ende leider nicht eindeutig, sondern nur von Fall zu Fall abwägend, beantworten: Ihr praktischer politischer Einfluss muss als gering eingeschätzt werden – sie waren aber immerhin geistige Vermittler zwischen zwei Welten (S. 259). Und in der umfassenden Dokumentation der politisch-publizistischen Auswirkungen dieser wechselseitigen Überlagerung von Emigrations- und Immigrationserfahrung liegt folgerichtig das Hauptverdienst der Untersuchung von Matthias Stoffregen.

Anmerkungen:
1 Dies gilt vor allem für die Deutschland Abteilung der Research and Analysis Branch (R&A) des Office of Strategic Services (OSS).
2 Vergleiche hierzu die entsprechenden Aufsätze in: Söllner, Alfons: Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte. Opladen 1996.

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