Th. Marsen: Zwischen 'Reeducation' und Politischer Philosophie

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Titel
Zwischen 'Reeducation' und Politischer Philosophie. Der Aufbau der Politischen Wissenschaft in München nach 1945


Autor(en)
Marsen, Thies
Reihe
Periagoge
Erschienen
München 2001: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 35,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Institut für Politikwissenschaft, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die Entstehungsphase der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gilt in der Historiographie des Faches als ein gut untersuchtes Forschungsfeld. Neben der Gründung bzw. Wiedereröffnung außerhalb des Rahmens der Universität angesiedelter Lehranstalten für Politische Bildung bzw. Politische Wissenschaft in Berlin, Wilhelmshaven und München 1 stehen die Gründungskonferenzen in Waldleinigen (1949) und Königstein (1950), die Errichtung der ersten Lehrstühle der Disziplin in Hessen (Darmstadt, Frankfurt am Main und Marburg) und Baden-Württemberg (Heidelberg und Tübingen) sowie die Wissenschaftskonzeptionen prominenter Gründerfiguren des Faches im Mittelpunkt des Interesses. Studien, die sich über die allgemeine Darstellung dieser Entwicklung hinaus, konkret mit der Etablierung der Politikwissenschaft in den Ländern, bestimmten Regionen und an den Universitäten, sei es in Form von Lehrstühlen oder von Instituten, beschäftigen, sind in der Fachgeschichte bisher allerdings Mangelware. Eine dieser bestehenden Lücken schließt nun Thies Marsen mit seiner umfassend angelegten Untersuchung der „Pionierphase der Politischen Wissenschaft in München nach dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 10). Über die Darstellung der historischen Entwicklung hinaus liegt ein weiteres Ziel darin, auch der Geschichte der Politischen Bildung und ihrer Institutionen eine angemessene Bedeutung zukommen zu lassen.

Bis zur endgültigen Etablierung der Politikwissenschaft an den bundesdeutschen Universitäten in den 60er Jahren waren auf Seiten der Beteiligten viele Widerstände zu überwinden. Den Ausgangspunkt der Bemühungen bildete eine Konstellation sich wechselseitig überlagernder und ergänzender Interessen: Unter dem Leitgedanken der Erziehung der Deutschen zur Demokratie verbanden sich Bestrebungen der zuständigen Stellen der alliierten Militärregierungen mit ähnlichen Vorstellungen zurückgekehrter deutscher Emigranten und (in der Regel) sozialdemokratischer Politiker, sowie auf einer allgemeineren Ebene, Wünschen aus den Bereichen Kultur und Gesellschaft. Um diese komplexen Ausgangsbedingungen zu verdeutlichen, gibt Marsen in den ersten beiden Kapiteln seines Buches eine kurze Einführung in die Frühphase der Geschichte der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik (S. 13-37) sowie in die spezifischen politischen, gesellschaftlichen und besonders finanziellen Rahmenbedingungen im Bundesland Bayern nach 1945 (S. 39-46). Im dritten Kapitel folgt die Beschreibung der speziellen Situation in München (S. 51-98). Bevor sich das Fach an der Ludwig-Maximilians-Universität überhaupt mit einem eigenen Lehrstuhl und später auch als Institut etablieren konnte, gab es bereits zwei weitere erfolgreiche Versuche, Politische Bildung und Politische Wissenschaft außerhalb der Universität – wenn auch in programmatischer und finanzieller Hinsicht mit staatlicher Unterstützung – zu institutionalisieren. In der Reihenfolge ihrer Entstehung handelt es sich um die bereits erwähnte Hochschule für Politische Wissenschaften in München 2 und die Akademie für Politische Bildung in Tutzing am Starnberger See. Diese beiden ‚Vorläufer‘ sind insoweit von Bedeutung, da sich bereits in den zu ihrer Gründung führenden öffentlichen Diskussionen die für München paradigmatische Personen- und Interessenkonstellation aufzeigen lässt. Zu Recht verweist Thies Marsen hier aber auf den Umstand, dass es letztendlich zweimal nicht gelang, die immer wieder programmatisch postulierte Zusammengehörigkeit von Politikwissenschaft und politischem Bildungsauftrag in einer gemeinsamen Institution zu realisieren. Der Hauptteil von Marsens Untersuchung (Kapitel 4, S. 99-192) befasst sich in ausführlicher Form mit der Errichtung des Instituts für Politische Wissenschaft an der Universität München, dem heutigen Geschwister-Scholl-Institut. Als wissenschaftliche Schlüsselfigur, bei der alle Entwicklungsstränge zusammenliefen, kristallisiert sich schnell der Inhaber der ersten Professur und spätere Institutsleiter Eric Voegelin heraus. Die Darstellung setzt mit dessen Berufungsverhandlungen ein, schildert die immer wieder auftretenden Schwierigkeiten und endet mit der Besetzung des zweiten Lehrstuhls für Politikwissenschaft durch Hans Maier im Jahr 1962. Zu diesem Zeitpunkt, so ist Marsen zuzustimmen, werden sowohl in München als auch an anderen Universitäten in der Bundesrepublik neue Lehrstühle bereits mit der ersten in Deutschland ausgebildeten Generation von Fachvertretern besetzt, die Disziplin ist ihrer endgültigen Etablierung einen weiteren großen Schritt näher gekommen.

Mit seiner facettenreichen und detaillierten Darstellung der Entstehungsphase der Politischen Wissenschaft in München gelingt es Thies Marsen mit Blick auf die Fachgeschichte gleichsam mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, da er erfolgreich das gesamte Spannungsfeld offenlegt, in dem sich die Gründung in den Jahren zwischen 1948 und 1962 vollzog. Nimmt man beispielsweise die Bereiche Institutionen, Personen, Inhalte und Ausbildung, also vier Eckpfeiler einer wissenschaftlichen Disziplin, als Hintergrundfolie, so lassen sich die spezifischen Münchener Eigenheiten noch besser verdeutlichen: Auf der Ebene der Institutionen wurde vor der Entscheidung über die Errichtung des Lehrstuhls an der Universität quasi ein Umweg über eine außeruniversitäre Institution, die Hochschule für Politische Wissenschaften, gewählt. Diese besteht als Hochschule für Politik noch heute, während die ähnlich konzipierten Hochschulen in Berlin und Wilhelmshaven einige Jahre später direkt in die Freie Universität Berlin bzw. die Ernst-August-Universität Göttingen eingegliedert wurden. In personeller Hinsicht gibt es nur eine kleinere Schnittfläche von an allen anstehenden Entscheidungen maßgeblich beteiligten Personen aus den Bereichen der Militärregierung, der Remigration, der Wissenschaft und der Politik, denen es trotz größerer Widerstände auch aus der Universität heraus schließlich gelang, das Fach zu etablieren. In diesem Zusammenhang muss auch auf die enge Verwandtschaft von Politikwissenschaft und Amerikanistik eingegangen werden. Marsen zufolge sollten die Sozialwissenschaften an der Universität gleichsam über den Umweg der Amerikanistik eingeführt werden (S. 117). Dieser Vorgang manifestierte sich unter anderem auch darin, dass die Berufungslisten für den jeweils ersten Lehrstuhl für Amerikanistik und Politikwissenschaft nahezu identisch waren. In inhaltlicher Hinsicht galt es bei der Entstehung des Faches die alliierte Reeducationspolitik und ein breites Spektrum zwischen den Polen Politischer Bildung (als Staatsbürgerkunde), Politischer Wissenschaft (als politikwissenschaftlicher Forschung) und Amerikanistik (als Vermittlung der amerikanischen Demokratie) abzudecken. Der Faktor Ausbildung wurde dagegen lange Zeit vernachlässigt. Erst mit der Schaffung des zweiten Lehrstuhls konnte die Betreuung der stark gestiegenen Zahl der Sozialkundelehrer gesichert werden.

Etwas quer hierzu steht die charakteristisch enge Verbindung zwischen der Politischen Wissenschaft und ihrem Hauptgegenstand, der praktischen Politik. Es ist davon auszugehen, dass die Politikwissenschaft mehr als andere Fächer von den herrschenden politischen Rahmenbedingungen beeinflusst und von den politischen Entwicklungen abhängig ist. Auch wenn diese Thematik von Marsen nur am Rande angeschnitten wird, so erfährt der Leser zumindest skizzenhaft etwas über die Präferenzen der damaligen Parteien, d.h. die Politikwissenschaft in München galt zuerst als „ungeliebt bei der CSU, gefördert von der SPD“ (S. 40). Eine Konstellation, die sich gerade hinsichtlich der Akademie in Tutzing mit dem Wechsel der politischen Mehrheitsverhältnisse unter dem neuen Ministerpräsidenten Hanns Seidel (CSU) schnell ins Gegenteil verkehren sollte. Die in der Fachgeschichte wiederholt aufgeworfene Frage, ob es sich beim Fach Politikwissenschaft in Deutschland eher um eine sozial- oder christdemokratisch geprägte Disziplin handelt, kann auch am Münchener Beispiel leider nicht eindeutig oder gar abschließend beantwortet werden. Die Studie von Marsen legt allerdings nahe, eine eindeutige Zuordnung der Politikwissenschaft in Bayern zur christdemokratischen Linie zu hinterfragen.

Thies Marsens kritische Anmerkung, dass in der bisherigen Sekundärliteratur zur Geschichte des Faches nur äußerst wenig über die Entwicklung in Bayern zu finden sei (S. 12), bedarf eines kurzen Kommentars. Zuallererst ist die nur untergeordnete Berücksichtigung der Entwicklung der universitären Politikwissenschaft in Bayern wohl hauptsächlich auf den Umstand zurückzuführen, dass das Fach an den vielen neu zusammengelegten bayerischen Universitäten erst ab der Mitte der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre gelehrt wird. Ausnahmen bildeten hier lediglich München, Erlangen und Würzburg sowie einige wenige Professuren an Pädagogischen Hochschulen. Darüber hinaus zeigt sich hier eine generelle Schwäche der bisherigen Disziplingeschichte der Politikwissenschaft. In den Bereichen der Institutionen- und Gelehrtengeschichte dominieren bis heute die großen und bekannten Institute und die Gründergeneration des Faches, es lässt sich mit Wilhelm Bleek sogar von „hagiographischen Tendenzen“ 3 sprechen. Sozialgeschichtliche Ansätze fehlen weitgehend, in zeitlicher Hinsicht wird hauptsächlich die Entwicklung bis zur Mitte der 70er Jahre reflektiert. Eine über München hinausreichende Geschichte der ‚Politikwissenschaft in Bayern‘ bleibt auch nach Marsens Darstellung gleichwohl ein Desiderat.

Erwähnt sei noch, dass das im Anhang vorhandene Namensregister zusätzlich durch ein ausführliches Personenverzeichnis ergänzt wird, welches dem Leser wertvolle Informationen über die am Entwicklungsprozess beteiligten Personen liefert, in das sich allerdings leider einige ärgerliche Ungenauigkeiten eingeschlichen haben 4. Nichtsdestotrotz ist das Buch von Thies Marsen insgesamt als gelungen zu bewerten. Es liefert einen weiteren Baustein zur Vervollständigung der Gründungsgeschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. Der relativ breit angelegte Untersuchungsansatz und die detaillierten Ausführungen bieten eine aussichtsreiche Grundlage für einen ausstehenden Vergleich mit der Gründungsphase an anderen Instituten oder in anderen Bundesländern.

Anmerkungen:
1 Die „Deutsche Hochschule für Politik“ in Berlin (zuerst 1920) und die „Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft“ in Wilhelmshaven nahmen im Jahr 1949 ihren Betrieb auf, die „Hochschule für Politische Wissenschaften“ in München 1950. Im Bundesland Hessen war zuvor die Gründung einer weiteren Hochschule für Politik gescheitert.
2 Alfred Jüttner: Die Hochschule für Politik München. Geschichte – Entwicklung – Charakter 1950-1990, München 1990.
3 Wilhelm Bleek: Aspekte der Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft, in: Hans J. Lietzmann; ders. (Hgg.), Politikwissenschaft. Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa, München 1996, S. 21-37, hier S. 26.
4 So wird beispielsweise beim Berliner Gründungsvater Ernst Fraenkel ein zwar häufiger auftauchender, aber völlig sinnentstellender, Schreibfehler wiederholt. Der korrekte Titel seiner Dissertation aus dem Jahr 1923 lautet „Der nichtige Arbeitsvertrag“ und nicht „Der richtige Arbeitsvertrag“.

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