F. Wenninger u.a. (Hrsg.): Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938

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Titel
Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes


Herausgeber
Wenninger, Florian; Dreidemy, Lucile
Erschienen
Anzahl Seiten
638 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele-Maria Schorn-Stein, Rüsselsheim

Ausgangspunkt für das vorliegende Werk „Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes“ war eine vom 20. bis 21. und 24. bis 26. Januar 2011 am Institut für Zeitgeschichte Wien stattfindende Tagung, die sich der Kontroversität des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes in Österreich (1933–1938) widmete (S. 8).

Die Debatte um diesen in Österreich auch heute noch politisch heiklen und umstrittenen Themenkomplex haben die beiden Herausgeber Florian Wenninger und Lucile Dreidemy zum Anlass genommen, zu versuchen dieses Forschungsfeld, das autoritäre Regime unter Engelbert Dollfuß und Kurt von Schuschnigg, zu „vermessen“. Um den hochgesteckten Zielen auch gerecht werden zu können, wurden sämtliche Beiträge einem sogenannten „Double-Blind-Review“ unterzogen. Zum einen sollte damit ein Beitrag zur wissenschaftlichen Qualitätssicherung geleistet werden, zum anderen sollten die Autor/innen selbst von der Expertise ihrer gutachtenden Kollegen profitieren, zumal eine Forschungsbilanz eine besonders arbeitsintensive und herausfordernde Textsorte darstellt (S. 9).

Der Historiker Florian Wenninger, derzeit am Institut für Zeitgeschichte Wien tätig, und die Historikerin und Germanistin Lucile Dreidemy, zurzeit zuständig für German Studies an der Universität Toulouse II, wenden sich mit ihrer Analyse über das Dollfuß-Schuschnigg-Regime und hier insbesondere über den „Austrofaschismus“ in erster Linie an die Studierenden und vor allem an die neue Generation von Forscher/innen, stellen diese doch im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten österreichischer Zeitgeschichtsforschung ganz andere Fragen an die Vergangenheit als ihre Doktorväter- und mütter. Dieser Wandel ist begrüßenswert, hat doch das in Anschlag gebrachte Methodenset dadurch eine grundlegende Erweiterung erfahren (S. 7).

Schon zu Beginn stellen Wenninger und Dreidemy fest, dass der „Austrofaschismus“ und die österreichische Diktatur der Jahre 1934 bis 1938 wieder stärker in den Blickpunkt getreten sind. Wichtig ist es an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Regimebezeichnung „Austrofaschismus“ in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes variiert. Die Herausgeber sehen im österreichischen Regime den Versuch, in Anlehnung an Mussolinis Italien ein faschistisches System von „oben“ zu etablieren. Das Produkt dieser Bemühungen, so Wenninger und Dreidemy, zeichnete sich neben seiner chronischen Instabilität durch eine Reihe von Spezifika aus, die es ihnen gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer eigenen Unterkategorie auszugehen (S. 7). In dem Aufsatz von Dieter A. Binder – und das fügt sich nahtlos an die Ausführungen von Wenninger und Dreidemy an –, hält es dieser für geradezu fatal, den „Austrofaschismus“ gänzlich aus dem Kanon der „österreichischen Geschichte“ zu entfernen (S. 579–595, hier: S. 580). Solch eine Vorgehensweise wäre, so Binder, umso dramatischer, wenn ein Band, der auf die „Vermittlung von Basiswissen für Studierende, Lehrende und die historisch interessierte Öffentlichkeit zielt“, die so entscheidenden Jahre 1933/34 bis 1938 ignorieren würde (S. 580).

Wenninger und Dreidemy ist es gelungen namhafte Wissenschaftler für diesen Forschungsbericht zu gewinnen, die in sieben, jeweils aus mehreren Texten bestehenden Hauptkapiteln auf rund 640 Seiten die wichtigsten Aspekte des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes der Jahre 1933 bis 1938 analysieren, die bisherigen Forschungsergebnisse zusammenzufassen, neue Forschungsansätze formulieren, aber ebenso zu dem teilweise ernüchternden Ergebnis gelangen, dass noch viele Forschungsgebiete Lücken aufweisen, die es erst zu schließen gilt.

Die Parteiengeschichte des österreichischen Ständestaates ist Thema des ersten Kapitels (S. 17–137). Peter Dvořak gibt einen Forschungsüberblick über die „Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie der Jahre 1930 bis 1938“. Er stellt die berechtigte Frage, wie es dazu kommen konnte, dass diese bis dahin bedeutende Partei in so kurzer Zeit verschwinden konnte (S. 17). Manfred Murgauer beschäftigt sich in seinem Aufsatz eingehend mit Geschichte der KPÖ, ihrem politischen Aufstieg ab 1932 und liefert wertvolle Ansatzpunkte für die Geschichte des „Austrofaschismus“ (S. 41–68). Ein bisher weitgehend unbeachtetes politikgeschichtliches Forschungsthema der österreichischen Zeitgeschichte ist der (habsburgtreue) „Legitimismus“, mit dem sich Johannes Thaler auseinandersetzt (S. 69–85). Christian Klösch entwirft in seinem Beitrag das Panorama des deutschnationalen Milieus in der Ersten Republik am Beispiel des Landbundes und der Großdeutschen Volkspartei (S. 87–104), Hans Schafranek analysiert die historiographische Beschäftigung mit der nachfolgenden Periode der Illegalität der Nazionalsozialisten, die geprägt war von internen Machtkämpfen verschiedener reichsdeutscher Interessengruppen (S. 105–137). Kapitel II widmet sich in drei Aufsätzen dem katholischen Milieu als Wegbereiter und Träger des „Austrofaschismus“, wobei hier auch wieder deutlich wird, dass es noch Forschungslücken gibt (S. 141–223). Den dritten Abschnitt bilden Beiträge zur Wirtschaftspolitik (S. 243–347). Drei Autor/innen widmen sich im vierten Kapitel dem Bereich „Politik und Gesellschaft“ (S. 351–410). Hervorzuheben ist hier der Beitrag von Gabriella Hauch, die das Selbstverständnis des „Austrofaschismus“ unter geschlechtsspezifischen Vorzeichen analysiert und zu dem Schluss gelangt, dass die Selbstinszenierung des Regimes als über den Geschlechtern stehende Instanz von der Forschung weitgehend kritiklos übernommen worden sei und die Kategorie Geschlecht ausgespart blieb, obwohl die Diktatur faktisch männlichen Interessen diente (S. 351–379). Des Weiteren von Interesse ist der (einzige englischsprachige) Artikel von Julie Thorpe, die sich eingehend mit den jugendrelevanten Aspekten des „Austrofaschismus“ und hier insbesondere mit der Erziehungspolitik des Regimes beschäftigt (S. 381–393). Den Themenschwerpunkt von Kapitel V bilden dann die Rechts- und Verwaltungsgeschichte (S. 413–489). Florian Wenninger fasst in Kapitel VI den militärhistorischen Forschungsstand zusammen (S. 493–576). Ausgehend von den politischen Frontstellungen analysiert er die bisherigen Forschungen sowohl zu den Wehrformationen als auch zum Bundesheer. In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig zu betonen, dass eine einheitliche, zentral organisierte „Heimwehr“ bis 1936 zu keinem Zeitpunkt existierte (S. 494). Der Mangel an Arbeiten zur Exekutive aber auch zu den einzelnen Wehrformationen ist laut Wenninger eklatant.

Dieter A. Binder und Helmut Wohnout beschließen mit ihren Beiträgen zur Außenpolitik im letzten Kapitel die vorliegende Bestandsaufnahme (S. 579–633). Binder setzt die einschlägigen Arbeiten zur Außenpolitik in Beziehung zueinander und regt an, die Außenpolitik stärker unter ihrer Beeinflussung durch die Innenpolitik zu lesen und mahnt gleichzeitig auch in diesem Bereich Forschungsdefizite ein (S. 579). Helmut Wohnout legt sein Augenmerk auf die Person von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und die österreichisch-italienischen Beziehungen (S. 601–631): Es überrascht, dass es, so Wohnout, bis heute keine quellenbasierte Monografie über die so wichtigen österreichisch-italienischen Beziehungen dieser Zeit gibt. Der Autor unternimmt daher den Versuch, für den Zeitraum 1932 bis 1934 aufzuzeigen, dass allein schon die Gegenüberstellung der unpublizierten österreichischen Quellen mit den bereits edierten italienischen, britischen und französischen Akten neue Facetten aufzeigen und somit die Zeitgeschichtsforschung zu den 1930er-Jahren in Österreich substanziell vorantreiben könnte (S. 604).

Der vorliegende Forschungsbericht von Florian Wenninger und Lucile Dreidemy ist, so kann man abschließend konstatieren, überaus gelungen, zeigen doch die einzelnen Analysen des Bandes, wie wichtig es ist, sich weiterhin intensiv mit dem Dollfuß-Schuschnigg-Regime auseinanderzusetzen. Nicht von der Hand zu weisen ist dennoch, dass dieses Werk auch Unzulänglichkeiten aufweist, was die Herausgeber freilich selbst einleitend einräumen. Tatsache ist, dass Forschungsdesiderate bleiben und, auch bedingt durch die begrenzte Themenauswahl, einige Fragestellungen wie etwa zur Sozial- und Kulturgeschichte außen vor geblieben sind. Folgerichtig schließt das Werk mit dem Auftrag vor allem an die jüngere Forscher/innengeneration die noch offenen Forschungslücken zu füllen. Einen ausgezeichneten Ausgangspunkt dafür bietet das vorliegende Werk jedenfalls.

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