J. Breuilly (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of Nationalism

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Titel
The Oxford Handbook of the History of Nationalism.


Herausgeber
Breuilly, John
Erschienen
Anzahl Seiten
XLI, 775 S.
Preis
€ 120,07
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Peter Stachel, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Aufbauend auf den konstruktivistischen Errungenschaften der Nationalismusforschung der vergangenen drei Dekaden hat John Breuilly, Professor of Nationalism and Ethnicity an der London School of Economics and Political Science, in der Reihe der „Oxford Handbooks“ der Oxford University Press ein umfangreiches Kompendium zum Thema „The History of Nationalism“ herausgegeben. Auf beinahe 800 Druckseiten werden relevante Aspekte der schwierig zu fassenden, weil tendenziell ausufernden Thematik aus globaler Perspektive in konziser und prägnanter Weise in insgesamt 36 Beiträgen – dem Handbuchcharakter entsprechend jeder mit eigenem Literaturverzeichnis (allerdings nur mit Berücksichtigung englischsprachiger Arbeiten) – abgehandelt. Vorangestellt sind – besonders leserfreundlich – mehrere, regional orientierte Zeitleisten und Karten, gefolgt von einer Einführung des Herausgebers, in der Konzepte und Theorien der neueren Nationalismusforschung erläutert werden (S. 1–18).

Der erste Abschnitt (4 Beiträge, S. 21–94) widmet sich der Entstehung nationalistischen Denkens, seinen Frühformen in der Zeit zwischen 1500 und 1800 (ein besonders instruktiver Artikel, verfasst von Peter Burke, S. 21–35), den intellektuellen Wurzeln anti-westlich ausgerichteten Formen des Nationalismus und der Bedeutung von Kultur für die Idee des Nationalismus. Im zweiten Abschnitt (11 Beiträge, S. 97–337) werden in historischer Abfolge einzelne Fallbeispiele abgehandelt: Von der Entstehung des US-amerikanischen Nationalismus im Zuge des Unabhängigkeitskriegs über das Schlüsselereignis der Französischen Revolution bis hin zum Nationalismus in der Habsburgermonarchie, dem osmanischen Reich und dem zaristischen Russland und weiter bis zu Nationalbewegungen in Asien und Afrika. Dabei wird durchgehend das durch Ungleichgewichtigkeit geprägte Spannungsverhältnis der Übernahme eines in Europa entstandenen Begriffs- und Ideenkomplexes in außereuropäischen Umfeldern thematisiert. Der dritte Abschnitt (10 Beiträge, S. 341–534) schließt daran an, hier wird das Spannungsfeld von Nationalismus und Imperialismus einerseits, jenes von Nationalismus und Postkolonialismus andererseits beleuchtet, der zeitliche Rahmen der Einzelanalysen wird über die Nationalismen in der arabischen Welt und in Nordostasien nach 1945 bis zu den neuen Nationalismen in Südosteuropa (bis zum Jahr 2000) gespannt. Im vierten Teil (5 Beiträge, S. 537–631) werden zeitlich und regional übergreifend Themen wie das Verhältnis von Nationalismus und staatlicher Souveränität, internationale Interventionen in nationalen Konflikten, Faschismus und Rassismus oder der Einfluss nationaler Identitätspolitik auf das Alltagsleben analysiert. Abschnitt fünf (4 Beiträge, S. 635–709) thematisiert potenziell konkurrierende Ideen und Konzepte in ihrem Verhältnis zum Nationalismus: Den sozialistischen Internationalismus, Religionen (die allerdings, wie der Autor des entsprechenden Beitrags, Peter van der Veer, zurecht hervorhebt, keineswegs automatisch im Widerspruch zu nationalistischer Ideologie stehen müssen, sondern diese sogar unterstützen können), Pan-Nationalistische Bewegungen und Nationalismus in einer sich globalisierenden Welt. Der sechste und letzte Abschnitt besteht nur aus einem einzigen, jedoch wichtigen, weil selbstreflexiven Beitrag, der sich mit dem Einfluss nationalistischer Ideologie auf die historische Forschung kritisch auseinandersetzt (S. 713–730): Dass dies eigens thematisiert wird, ist im Prinzip sehr erfreulich, allerdings ist die Thematik in einem einzelnen Beitrag von wenigen Druckseiten nicht wirklich angemessen darstellbar. An den Textkorpus schließt sich ein überaus detaillierter Index an (S. 731–775), der das rasche Auffinden von Informationen zu einzelnen Personen, Regionen, Orten, und sogar Publikationsorganen ermöglicht.

Das vorliegende Buch ist als umfassendes Kompendium angelegt: Der nicht immer einfache Spagat zwischen historischer Entstehungsgeschichte des Phänomens in der europäischen, westlichen Kultur einerseits und den unterschiedlichen Formen von Nationalismus weltweit andererseits ist ebenso gelungen umgesetzt, wie die Verbindung von historischen Fallbeispielen und spezifischen Grundproblemen nationalistischer Identitätspolitik andererseits. Positiv hervorzuheben ist überdies der Umstand, dass auf den erhobenen Zeigefinger politischer Korrektheit – „Nationalismus ist böse!“ – verzichtet wurde: Die einzelnen Beiträge sind durchwegs informativ, aber nie vordergründig pädagogisierend oder moralisch belehrend. Herausgeber John Breuilly ist es gelungen, für die unterschiedlichen Aspekte der Thematik jeweils ausgewiesene Spezialisten als Autoren zu gewinnen: Unter ihnen neben dem bereits erwähnten Peter Burke beispielsweise Miroslav Hroch – Verfasser eines Standardwerkes über den Nationalismus bei den „kleinen Völkern“ Ost-Mitteleuropas1 – (Nationalismus in der Habsburgermonarchie und im Osmanischen Reich), John Darwin (Nationalismus und Imperialismus) oder Jürgen Osterhammel (Nationalismus und Globalisierung).

Thematische Vollständigkeit ist bei einem derartigen Publikationsunternehmen natürlich niemals zu erreichen: So fehlt beispielsweise ein eigener Beitrag über den Zusammenhang von Nationalismus und Ökonomie (der auch in den einzelnen Beiträgen eher unterbelichtet bleibt; eine Ausnahme ist John T. Sidels Beitrag über Südostasien, S. 472–494) oder über die Rolle von Frauen und Imaginationen des Weiblichen in nationalistischen Identitätskonstruktionen (der weibliche Körper als „nationales Territorium“, das es zu beschützen oder zu erobern gilt). Auch die Frage der nationalen Codierung bzw. Aufladung von Werken der Kunst und Hochkultur und ihrer Funktion in Formen nationalistischer Identitätspolitik hätte sich wohl einen eigenen Beitrag verdient gehabt. Doch bei dieser Kritik handelt es sich um Jammern auf höchstem Niveau. Das „Oxford Handbook of The History of Nationalism“ ist in der vorliegenden Form derzeit konkurrenzlos: Mir ist keine zweite Publikation bekannt, die historisch derartig umfassend und zugleich methodisch reflektierend, regional ins Detail gehend und zugleich in überregional-globaler Zusammenschau, über die vielfältigen Aspekte des Nationalismus informiert. Der Anspruch eines Handbuchs ist hier beispielhaft umgesetzt.

Anmerkung:
1 Miroslav Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/