M. Spörri: Reines und gemischtes Blut

Cover
Titel
Reines und gemischtes Blut. Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900–1933


Autor(en)
Spörri, Myriam
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Witte, Institut für Geschichte der Medizin, ZHGB Berlin, Charité

Myriam Spörri hat eine wichtige Studie vorgelegt. Die Geschichte der deutschen bzw. deutschsprachigen Blutgruppenforschung in der Zeit 1900 bis 1933 ist zuvor nicht grundlegend erörtert worden. Methodisch geht Spörri metaphorologisch und dekonstruktivistisch vor. Sie greift außerdem Jürgen Links Unterscheidung von Spezialdiskursen (Wissenschaft) und Interdiskursen (kulturelles Allgemeinwissen) auf. Ausgangspunkt für ihre Forschung ist die Beobachtung, dass die Bedeutung der „Metaphorizität von Blut für die Blutgruppenforschung“ (S. 15) nicht hinlänglich untersucht worden ist. Bis in das 19. Jahrhundert hinein habe Blut im medizinischen Spezialdiskurs als Vererbungssubstanz gegolten, so dass korrespondierend im Interdiskurs „Blut“ mit „Vererbung“ und auch mit „Rasse“ in eins gesetzt wurde. Im 19. Jahrhundert sei „Blut“ interdiskursiv metaphorisiert worden: „Blut“ wurde zur Metapher für „Rasse“ (S. 20). Dies sei rückübertragen worden in den Spezialdiskurs, in dem Blut als „Rasse“ reaktiviert wurde. Spörri resümiert, dass die gesamte „Weimarer Blutgruppenforschung“ grundlegend „durch die populäre Blutmetaphorik organisiert“ war (S. 20). Reinheit und Unreinheit des Blutes seien schon einige Jahrzehnte vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus die zentralen Kategorien der Forschung gewesen.

In einem Schnelldurchlauf durch die gesamte westliche Medizingeschichte des Blutes versucht Spörri zunächst, die Konjunkturen humoralpathologischer Theorie und Praxis, die aus der Antike stammte, aufzuzeigen. Grundgedanke war die fehlerhafte Mischung von Körpersäften oder das Überwiegen schadhafter Säfte. Insbesondere die Zellularpathologie Rudolf Virchows (Solidarpathologie) drängte Vitalismus und Humoralpathologie zurück: „Mit der Einführung der Zellularpathologie verlor also nicht nur die Humoralpathologie an Boden, sondern das Blut wurde, auch im Kontext der Vererbung, generell entwertet (…).“ (S. 36) Blut sei kein „geheimnisvolles Ganzes“ mehr gewesen (S. 39). Die Mischung der Körpersäfte und die Kräfte, die darin obwalten würden, verloren ihre Deutungsmacht.

Der eigentliche Untersuchungszeitraum von Spörris Arbeit beginnt jedoch im Jahr 1900. Spörri widmet sich im Folgenden systematisch den wissenschaftlichen Forschungsfeldern Seroanthropologie, Forensik (Serologie in der Rechtsmedizin) und Transfusionsmedizin (Blutübertragungen). Für die Zeit bis 1918 stellt sie fest, dass die Frage, ob Verklumpungen des Blutes (Agglutinationen) pathologisch zu werten oder „individueller Natur“ seien, lange im Ungefähren blieben. Spörri beschreibt Forschernetzwerke und benennt deren Akteure. Unter ihnen stach unter anderem der polnisch-jüdische Forscher Ludwik Hirszfeld hervor, der lange in Deutschland gewirkt hat. Seiner Forschung entsprang nicht nur die Blutgruppen-Nomenklatur (A, B, AB, O). Er begründete laut Spörri nach dem Ersten Weltkrieg auch die Seroanthropologie in Deutschland, in der Antigen-Antikörper-Untersuchungen (Serologie) auf die Anthropologie übertragen wurden. Serologisch sei Mischung mit Unreinheit konnotiert worden. Angewandt auf die Genealogie des Menschen habe dies rassisches und rassistisches Denken in der Blutgruppenforschung befördert. Spörri attestiert der Seroanthropologie nach Hirszfeld eine „rassistische Logik“, was angesichts seiner jüdischen Herkunft und seiner „spätere(n) vehemente(n) Abgrenzung von jeglichem rassistischen Gedankengut“ oft verkannt werde (S. 93). Durch ihre Teilnahme am Diskurs über Blut und Blutgruppen hätten jüdische Forscher wie Hirszfeld „auf eine Metaphorik, die sich in ihr Gegenteil verkehren konnte und unbeabsichtigte Konnotationen und Effekte hervorrief“, rekurriert (S. 197).

Als Beleg für die interdiskursive Überhöhung des Blutreinheitsdenkens analysiert Spörri zum Beispiel den populären Roman „Die Sünde wider das Blut“ von 1917, den der Schriftsteller Artur Dinter verfasst hatte. In ihm wurde die vermeintlich fatale „Vermischung“ von „deutschem“ und „jüdischem“ Blut angeprangert. Juden wurden zum „Bazillus“. Die Infektion der Deutschen durch jüdisches Blut führte demnach zur vererbten „Blutmischung“. Bilder wurden vermengt, nicht nur „Infektion“ und „Vererbung“, sondern auch Blut und Geld. Juden erschienen literarisch als Vampire. Wurde im Interdiskurs die wesentliche Differenz von „deutschem“ und „jüdischem“ Blut als wissenschaftlich bewiesen angesehen, so hätten deutsch-jüdische Forscher wie Hirszfeld die Wissenschaftlichkeit dieser Studien in Abrede gestellt (S. 193). Trotz fehlender finanzieller Förderung in größerem Ausmaß schritt die Seroanthropologie voran, zum Teil mit Allianzen auf inhaltlicher Ebene, die von liberal gesinnten Forschern mit jüdischem Hintergrund bis zu völkischen nichtjüdischen Wissenschaftlern gereicht hätten.

An konkreten Fällen untersucht Spörri, wie „Blutproben“ Einzug in die Gerichtssäle hielten. In der Seroanthropologie und der Paternitätsserologie (ab Mitte der 1920er-Jahre) sei Deutschland führend gewesen (S. 69). Ganz anders verhielt es sich beim Transfusionswesen, wo die US-Amerikaner den Deutschen den Rang abliefen. In Deutschland wurde vorrangig Vollblut transfundiert. Die Aufbereitung von Blut als Zitratblut, wie sie in den USA praktiziert wurde, galt als Ausdruck der „als amerikanisch geltenden Massengesellschaft“ (S. 232f.) mit all ihren Gefahren, die wiederum unter das Signum der Verunreinigung fielen. Mit Zitrat haltbar gemachtes Blut zu verwenden wurde in Deutschland in der Regel abgelehnt.

Spörri gelingt es überzeugend, anhand der metaphorologischen Analyse das heterogene Forschungsfeld der Blutgruppenforschung darzustellen. Wie an anderer Stelle kundgetan, geht es ihr nicht darum, eine „abschließbare ‚wahre‘ Geschichte“ zu erzählen, „denn es gibt diese Geschichte nicht – sie kann nur immer neu gesucht werden.“1 Auf Widerspruch kann dies stoßen, wo „Erinnerungskultur und Geschichtspolitik“ ihre eigenen Regeln schreiben.2 Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ rezipierte Spörris Arbeit im vergangenen Jahr, indem es die Rolle Hirszfelds einseitig herausgriff und ihr tendenziell die ungewollte Verursachung des „Blutwahns“ der Nationalsozialisten zuschrieb.3 In der polnischen Rezeption des „Spiegel“-Artikels wurde daraus eine pointierte Behauptung der deutschen Öffentlichkeit. Der in Polen als einer der Wiederbegründer der polnischen medizinischen Wissenschaft gefeierte Hirszfeld, dessen Todestag sich 2014 zum 60. Mal jährt, was mit Gedenkveranstaltungen in Polen begangen wird4, erschien vereinfacht als Stichwortgeber der Nazis. Das rief heftige Reaktionen hervor. Medizinische Wissenschaftler Polens wehrten sich gegen Kritik an Hirszfeld.5 Das Warschauer Nachrichtenmagazin „Polityka“ sprach polemisch von einer „bösartigen Interpretation von Fakten“.6 Der methodische Ansatz Spörris bringt es mit sich, dass eine gesellschaftspolitische Beurteilung der Rolle Hirszfelds in ihrer Arbeit unterbleibt. Das qualifiziert die Studie nicht ab, begründet aber ein Forschungsdesiderat nach einer umfassenden Beschäftigung mit Leben und Werk Ludwik Hirszfelds.

Ein weiteres Forschungsdesiderat könnte sich ableiten aus dem Bestreben Spörris, ihre Beschäftigung mit der Geschichte der Blutgruppenforschung als Detektion der zeitgenössischen Konjunktur des „Blutes“ in der medizinischen Wissenschaft und im Alltagsdenken aufzufassen. Warum aber soll, wie behauptet wird, „Blut“ in seiner Gesamtheit mehr „wert“ sein als in seinen Bestandteilen, denen sich die Solidarpathologie zuwandte? Das von ihr und ihren historischen Protagonisten oft zitierte Goethe-Wort vom Blut, der ein „ganz besonderer Saft“ sei, könnte den Blick darauf verstellt haben, dass die Forschungslandschaft nicht nach der Berücksichtigung von „Blut“ im Vitalismus oder Mystizismus als Reminiszenz der Humoralpathologie (Hausse des „Blutes“) im Gegensatz zum Bedeutungsverlust in der Solidarpathologie (Baisse des „Blutes“) eingeteilt werden muss. Bekanntlich wird Virchow der Impuls für den Beginn der Thrombose-Forschung zugeschrieben. Paul Morawitz beschrieb 1904 drei Phasen der Blutgerinnung. Georg Haas begann 1924 mit Versuchen zur Hämodialyse.7 Rudolf Marx prägte 1953 den Begriff der Hämostaseologie als „Lehre vom Stehen und Steckenbleiben des Blutes“; er ist bis heute nur im deutschsprachigen Raum in Benutzung.8 Es stellt sich mithin die Frage, ob hier ein weiterer „Sonderweg“ der deutschen medizinischen Forschung und Praxis zum Thema „Blut“ vorlag, dessen historische Erforschung noch der Dinge harrt.

Anmerkungen:
1 Philipp Sarasin / Silvia Berger / Marianne Hänseler / Myriam Spörri, Bakteriologie und Moderne. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920, Frankfurt am Main 2007, S. 8–43 (hier S. 13).
2 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.
3 Frank Thadeusz, Der Blutwahn, in: Der Spiegel, Nr. 22/2013, 27.5.2013, S. 132–134.
4 Agnieszka Krzemińska, Eine Frage des Blutes. Ludwig Hirschfelds wissenschaftliche Arbeit und der europäische Rassismus (übersetzt von Andreas R. Hofmann). Kwestia krwi. Praca naukowa Ludwika Hirschfelda a eurpejski rasizm, in: Dialog 27 (2014), H. 107, S. 86–89.
5 <http://www.spiegel.de/international/world/how-german-blood-purity-research-advanced-medical-knowledge-a-902865.html#spLeserKommentare> (28.06.2014).
6 Agnieszka Krzemińska, Psucie krwi, in: Polityka 42/2013, S. 87–89 [vielen Dank für die Übersetzung an Mariola Wiejaczka, Berlin].
7 Ulrike Enke, Georg Haas – Pionier der Hämodialyse, in: Deutsches Ärzteblatt 104 (2007), B 1993–B 1995.
8 Monika Barthels, Mario von Depka, Das Gerinnungskompendium. Schnellorientierung, Befundinterpretation, klinische Konsequenzen, Stuttgart 2003, S. VI.