Titel
Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen?. Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info


Autor(en)
Schwabe, Astrid
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 4
Erschienen
Göttingen 2012: V&R unipress
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tatjana Timoschenko, SFB 600 Fremdheit und Armut / Fachbereich III – Alte Geschichte, Universität Trier

Im World Wide Web finden sich heute unzählige geschichtsdidaktische Angebote, von weniger bekannten Seiten mit Nischenangeboten bis hin zu prominenten Webauftritten wie der des „Hauses der Geschichte“ in Bonn. Aber auf welche Art und Weise funktioniert die Vermittlung von Geschichte im Internet? Welche medialen Charakteristika beeinflussen Inhalt und Struktur der historischen Narration, und welche Potenziale und Risiken ergeben sich für die historische Didaktik? Diese und weitere Fragen sucht der über 470 Seiten starke Band von Astrid Schwabe zu beantworten, die sich damit einem wachsenden Forschungsfeld widmet.1

Bei der Untersuchung handelt es sich um die formal überarbeitete Dissertationsschrift der Historikerin, entstanden am Institut für Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flensburg. Schwabe richtet ihren Blick aus spezifisch geschichtsdidaktischer Perspektive auf das Thema und versteht ihre Arbeit zur außerschulischen Geschichtskultur als „Beitrag zum normativen und empirischen Handlungsfeld der Geschichtsdidaktik“ (S. 19).

Dabei geht es der Autorin nicht nur um eine theoretisch-analytische Untersuchung, sondern vielmehr auch um die damit verbundenen praktischen Implikationen am konkreten Beispiel der Seite vimu.info – einer zweisprachigen, didaktisierten regionalhistorischen Website zur Geschichte der deutsch-dänischen Grenzregion im Zeitraum zwischen 1830 und 2000. Die Seite ist im Rahmen des Projektes „Virtuelles Museum“ entstanden, an deren Entwicklung und Umsetzung Schwabe (unter der Leitung von Uwe Danker) von Beginn an beteiligt war. In diesem seitens der EU geförderten Projekt arbeiteten Fachwissenschaftler/innen aus vier Hochschulinstituten zusammen (S. 20).2

Schwabe gliedert ihre Studie in drei gleichrangige Abschnitte. Im ersten Teil, „Theoretische Grundlegungen zum historischen Lernen im World Wide Web“ (S. 37–155), leitet sie auf der Basis verschiedener Theorien zum historischen Lernen (unter anderem von Rüsen, Pandel und von Borries) zunächst ab, welche fachdidaktischen Ansprüche an die Darstellung von Geschichte im Internet zu stellen sind. Schließlich entwickelt sie auf Grundlage der fachdidaktischen und medienwissenschaftlichen Erkenntnisse ein Konzept und ein Raster für ein virtuelles historisches Museum, aus dem die regionalhistorische Website www.vimu.info hervorgegangen ist.

Im zweiten Teil der Arbeit, „Konzeption und Realisierung der regionalhistorischen Website www.vimu.info“ (S. 155–286), stellt Schwabe anschaulich und anhand zahlreicher Beispiele die konkrete praktische Umsetzung des Projektes vor. Dies beinhaltet die Genese der Website, für die von der Projektgruppe ein geschlossenes Thementableau entwickelt wurde, das einen inhaltlichen Zugang über Topics aus sechs historischen Dimensionen anbietet: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur sowie Grenzen und Meer.3 Hierbei setzt sich die Autorin auch kritisch mit der Realisierung der didaktischen Ansprüche an das Virtuelle Museum auseinander, die mit den Anforderungen von Programmierung, Nutzerfreundlichkeit, Konventionen und Zeitgeschmack in Einklang gebracht werden mussten. Sie gelangt letztlich zu der Einschätzung, dass viele grundlegende fachdidaktische Kriterien wie Kontroversität, Offenheit, Multiperspektivität und Quelleninterpretation in der Praxis berücksichtigt werden konnten. Ferner gibt Schwabes Bericht einen fundierten Einblick in die Rahmenbedingungen, Zielkonflikte und Herausforderungen, die sich aus der Arbeit an einem derart umfangreichen Projekt in einem interdisziplinären und internationalen Team ergeben können.

Im dritten Abschnitt, „Empirische Evaluation der Website www.vimu.info“ (S. 287–403), widmet sich Schwabe der Analyse der Daten zu den Besuchern und Besucherinnen der Website. Diese dienen der Autorin als empirische Grundlage, um charakteristische Rezeptionsmuster und Usertypen zu den bisher kaum erforschten Nutzer/innen historischer Webangebote abzuleiten. Erfasst wurden die Daten mit Hilfe einer computergestützten Analyse, die unter dem Begriff des Web Usage Mining zusammengefasst wird. Über einen Zeitraum von Oktober 2008 bis August 2009 wurden 107.028 Besucher auf der Website vimu.info gezählt, die insgesamt 275.021 einzelne Seiten aufgerufen haben, was einen Durchschnitt von etwa 364 Aufrufen pro Tag entspricht (S. 313).

Anhand der Auswertung des Nutzerverhaltens auf der Website differenziert Schwabe schließlich drei unterschiedliche Muster (S. 406): So überwiegen an erster Stelle Besucher/innen, die sich mit einer lexikalischen Nutzung charakterisieren lassen, womit sich für Schwabe auch die vorrangige Verwendung des Virtuellen Museums als historischem Informationsmedium bestätigt. Deutlich weniger Besuche zählt sie in der zweiten Kategorie, die sie als Spaziergänge durch das Museum bezeichnet. Sie wertet diese Aufrufe der Website als eher zufällige Rezeption unterschiedlicher Angebote außerhalb eines Sinnzusammenhangs. Als drittes Verhaltensmuster beobachtet sie bei einem geringen Anteil der Besuche eine strukturiert-systematische Nutzung; dabei erfolgt eine gezielte Navigation in die vertiefenden Ebenen oder auch der Aufruf eines oder mehrerer Module, die in thematischem Zusammenhang stehen, und zwar über einen längeren Zeitraum. Aus diesen unterschiedlichen Nutzungsmustern des Virtuellen Museums leitet sie mithilfe eines Dimensionenmodells aus der Intensität, Dauer, Tiefe und Kontextualität der Besuche schließlich eine Typisierung der Besucher und Besucherinnen in sechs idealtypische „Vimu-User“ ab: 1. Passanten und Passantinnen, 2. Suchende (lexikalisch), 3. Suchende (enzyklopädisch), 4. Flanierende, 5. Interessierte und 6. Forschende (vgl. dazu die schematischen Darstellungen auf S. 408 und 412). Quantitative Angaben zu den einzelnen Besuchertypen bleibt Schwabe zwar schuldig, dafür liefert sie aber umfangreiches statistisches Material im Hinblick auf die Sprache – deutsch oder dänisch – der besuchten Seiten sowie eine ausführliche Analyse in Bezug auf die betrachteten Themen und Verweildauern auf den jeweiligen Seiten. Auf diesen Erkenntnissen beruhend, gelangt Schwabe im Hinblick auf potentielle historische Lernprozesse zu Schlussfolgerungen, die größtenteils jedoch spekulativ bleiben: Während sie für die Passanten und Passantinnen historisches Lernen als „quasi ausgeschlossen“ bewertet, unterstellt sie bei den lexikalisch Suchenden „auf dekontextualisierter Rezeption basierende aktive historische Lernprozesse“, deren Güte sie aber als schwer einschätzbar ansieht, da diese von verschiedenen Parametern wie beispielsweise bereits vorhandenem Vorwissen abhängig sind. Im Hinblick auf die Rezeption hypermedialer historischer Angebote im World Wide Web können hier daher nur „erste Teilantworten“ (S. 415) gegeben werden. In diesem Punkt zeigt sich, dass eine Methodik, die ausschließlich die Erhebung von Daten zum Besucherverhalten registriert, letztendlich wenig über den historischen Lernprozess des Einzelnen aussagen kann. Um diesen abbilden zu können, müssten derartige Studien künftig flankiert werden von Erhebungen zum historischen Vorwissen oder/und neu erarbeiteten Wissen – beispielsweise im Rahmen von Tests mit Schulklassen oder Studierenden. Nichtsdestotrotz bleibt zu wünschen, dass Schwabes Arbeit Anstoß für die Entwicklung weiterer, vertiefender und breiter angelegter Forschungen zum World Wide Web innerhalb der empirischen Geschichtsdidaktik geben wird.

Schwabes Erfahrungen und Rückschlüsse für die mediale Vermittlungspraxis (S. 416–420) können vor allem für die Konzeption und Umsetzung künftiger hypertextueller, multimedialer Projekte mit didaktisierten, historischen Inhalten von großem Interesse sein. So empfiehlt die Autorin nicht nur die Formulierung klarer Vermittlungsziele und die Gestaltung des jeweiligen Angebots für eindeutig definierte Zielgruppen, sondern darüber hinaus auch eine weit reichende zielgruppenspezifische Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel durch Bekanntmachung an Schulen, Hochschulen und bei Lehrkräften. Ferner rät sie, die lexikalischen Bedürfnisse der Anwender ernst zu nehmen und bei der Konzeption entsprechend zu berücksichtigen. So werden die Nutzer/innen, die aufgrund des fachdidaktisch und fachwissenschaftlich abgesicherten Angebots an historischen Informationen auf die Website gelangen, darüber hinaus zur vertiefenden Beschäftigung mit dem historischen Gegenstand eingeladen. Auch die von Schwabe als positiv empfundene Entscheidung für eine Modularisierung sowie eine hierarchische Struktur mit beschränkter interner Verlinkung kann für weitere Projekte dieser Art hilfreich sein. Wer sich mit der Vermittlung historischer Inhalte in hypertextuellen Umgebungen – insbesondere auch in der Praxis – beschäftigt, sollte das Buch in der Planungsphase unbedingt zu Rate ziehen. Im Hinblick auf die Frage nach der Art und Weise wie historisches Lernen im World Wide Web funktioniert, zeigt die Untersuchung, wie intensiv hier auch noch an den Analysemethoden gefeilt werden muss, um zu fundierten Ergebnissen gelangen zu können.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jan Hodel, Historische Narration im digitalen Zeitalter, in: Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hrsg.), Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien, Schwalbach am Taunus 2008, S. 182–195; Andreas Körber, Geschichte im Internet. Zwischen Orientierungshilfe und Orientierungsbedarf, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 2004, S. 184–197; Jakob Krameritsch, Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potentiale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung, Münster 2007; Oliver Näpel, Historisches Lernen im Internet? Legitimation, Anspruch und Wirklichkeit geschichtsdidaktischer Normative für Geschichtsangebote im Cyberspace, in: Danker / Schwabe (Hrsg.), Historisches Lernen im Internet, S. 90–107.
2 Das Projekt entstand in Kooperation zwischen dem Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flensburg (IZRG), dem Institut for Historie, Kultur og Samfundsbeskrivelse der Syddansk Universitet (Odense), dem Zentrum für Multimedia der Fachhochschule Kiel und dem Institut for Fagsprog, Kommunikation og Informationsvidenskab der Syddansk Universitet (Sønderborg).
3 Vgl. hierzu auch das Thementableau auf S. 199.

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