E. Hiebl u.a. (Hrsg.): Im Kleinen das Große suchen

Cover
Titel
Im Kleinen das Große suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis. Hans Haas zum 70. Geburtstag


Herausgeber
Hiebl, Ewald; Langthaler, Ernst
Reihe
Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2012
Erschienen
Innsbruck 2012: StudienVerlag
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Konersmann, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Der vorliegende Sammelband beruht auf einer 2011 an der Universität Salzburg durchgeführten Tagung zum Thema „Im Kleinen forschen, das Große suchen. Neue Diskurse zur Mikrogeschichte“. Den Anlass zu dieser Tagung bildete der 70. Geburtstag des österreichischen Landeshistorikers Hanns Haas, dessen Verdienste anhand eines Themenfeldes gewürdigt werden sollten, dem er sich nach Ansicht der beiden Herausgeber Ewald Hiebl und Ernst Langthaler „besonders intensiv gewidmet“ hat: „nämlich der Mikrogeschichte mit ihrem Fokus auf kleine räumliche und soziale Einheiten“ (S. 7). Den mit der neueren Landesgeschichte Österreichs wenig vertrauten Leser/innen vermitteln die Herausgeber zum Auftakt einen Eindruck von den begrifflichen Instrumentarien (z.B. Lebenswelt, Sinnhorizont, Sinnprovinzen), von der interdisziplinär angelegten Vorgehensweise (vor allem Ethnologie, Anthropologie, Soziologie) und von einigen Arbeitsgebieten Hanns Haas', dem es nicht zuletzt um die Erschließung „subjektiver Interpretationsleistungen der historischen Akteure“ gehe (S. 10). Dass seine Publikationen und Forschungsinitiativen als ein zentraler Bezugspunkt für mehrere Autoren und Autorinnen fungieren, geben vor allem die zwölf Fallstudien, Forschungsprojekte und Werkstattberichte im zweiten Hauptteil des Bandes zu erkennen.

Trotz dieser starken Präsenz des Jubilars in der Einleitung und im zweiten Hauptteil handelt es sich den Herausgebern zufolge „nicht um eine Festschrift im klassischen Sinne“ (S. 7), sondern um einen Sammelband, der über den gegenwärtigen Stand der Forschung zur Mikrogeschichte – durchaus mit „selbstkritischem“ Impetus – informieren soll. Nach Einschätzung der Herausgeber eröffnen die formal und inhaltlich sehr heterogenen 18 Artikel Einblicke in „das Potenzial für eine vielstimmige Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen der Mikrogeschichte in der gegenwärtigen Forschungslandschaft“ (S. 14). In Anbetracht der Variationsbreite der in den Beiträgen implizit oder explizit vertretenen Positionen ist die Bezeichnung „Vielstimmigkeit“ allerdings als ein Euphemismus zu bezeichnen.

Diesem erklärten Zweck, der auch durch den Untertitel „Mikrogeschichte in Theorie und Praxis“ signalisiert wird, dient erstens die Einleitung der Herausgeber (S. 7–21), in der unter anderem sieben wesentliche Merkmale der Mikrogeschichte vorgestellt und zum Teil erläutert werden: 1. Vergrößerung des Maßstabes bzw. Verkleinerung des Untersuchungsbereichs, 2. Ermittlung kultureller Eigenlogik von Gesellschaften, 3. Bedeutung des außergewöhnlichen Normalen, 4. mikrohistorische Quantifizierung, 5. relationales Verständnis von Wirklichkeit, 6. Erzählung als wesentliche Darstellungsform und 7. Stellung der Mikrogeschichte in der Debatte über die Postmoderne. Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass in der Regel nur wenige dieser Merkmale in entsprechenden Studien systematisch Berücksichtigung finden; das gilt auch für die in diesem Band präsentierten Fallstudien. Zweitens dienen diesem Zweck im ersten Hauptteil sechs Aufsätze, in denen zu verschiedenen Aspekten der Mikrogeschichte Stellung bezogen wird (S. 22–91) – sei es eher in historiographischer (O. Ulbricht), theoretischer und methodologischer (A. Epple, Ch. Boyer) oder empirischer (M. Lanzinger, E. Langthaler, L. Fasora) Hinsicht. Drittens vermitteln im zweiten Hauptteil zwölf sehr verschieden ausgereifte Fallstudien, Forschungsprojekte und Werkstattberichte Einblicke in bereits realisierte oder noch zu realisierende mikrogeschichtliche Untersuchungen (S. 92–280). Den geographischen Schwerpunkt bilden sieben Aufsätze zu Ereignissen, Personen und Dörfern innerhalb Österreichs und drei Aufsätze zu Orten und Vorgängen in Grenzgebieten zwischen Österreich und der Tschechoslowakei (N. Perzi), Jugoslawien (N. Entner) und Italien (H. Heiss); sie werden flankiert von einer mäßig sozialwissenschaftlich ausgearbeiteten Vergleichsstudie zu zwei ostfranzösischen Orten (N. Franz) und einer demgegenüber luzide interpretierenden, politik- und sozialgeschichtlich angelegten Darstellung von zentralen Konflikten der Landarbeiterbewegung in Apulien mit Großgrundbesitzern und Staatsorganen (G. Prontera), wobei auch Interviews gezielt Verwendung finden.

Interviews stellen bekanntlich in der Oral History eine vorzügliche Quelle dar, die auch in einigen anderen Beiträgen (H. Heiss, S. Eminger, F. Pötscher, N. Perzi) dieses Sammelbandes herangezogen wird, sei es eher illustrierend zu bereits gemachten Ausführungen, sei es ergänzend zu anderen Quellen, sei es als Hauptquelle wie im Fall des Werkstattberichts zu einer geplanten Untersuchung über Beziehungen der Bewohner des Ortes Mauthausen zum Personal und zu den Häftlingen des gleichnamigen Konzentrationslagers. Mit dem Quellentyp des Interviews und seinem herausragenden Stellenwert für die zeithistorische Mikrogeschichte befasst sich grundsätzlich und methodologisch Johannes Hofinger in seinem sehr informativen Aufsatz. Darin erläutert er generell zu beachtende Gesichtspunkte bei der Vorbereitung, Durchführung und Dokumentation von verschiedenen Interviewformen, zudem weist er auf entsprechende Sammlungen in Archiven hin und macht auf Forschungsprojekte aufmerksam.

Neben Interviews spielen Quellensorten wie Briefe, Tagebücher und Handakten eine zentrale Rolle für dezidiert mikrogeschichtlich angelegte Studien, die erklärtermaßen auf die Erschließung subjektiver Sinnhorizonte, Lebenswelten und Erfahrungsräume zielen, um beispielsweise die Dimension des viel beschworenen „außergewöhnlichen Normalen“ einer Konstellation, eines Ereignisses und/oder eines Vorgangs in den Blick zu nehmen. Solche individuell hervorgebrachten und geprägten Quellen bilden die Grundlage von drei Beiträgen (A. Griesebner, R. Hoffmann, P. Melichar), wobei Andrea Griesebner Briefe nur zum Ausgangspunkt ihrer Erläuterung geschichtswissenschaftlicher (mikrogeschichtlicher) Vorgehensweisen wählt, um beispielsweise Einzelpersonen und ihre Beziehungen eindeutig zu identifizieren. In den beiden anderen Beiträgen werden auf sehr unterschiedlichem Reflexionsniveau die historiographischen Gattungen der Biographie und der Anekdote in Anspruch genommen – teils aus einer skeptischen Perspektive auf den Informationsgehalt von Briefen und Handakten, so dass der Autor letztlich für die „Anekdote als mikrohistorisches Gegengift zur biografischen Illusion“ am Beispiel von Entscheidungen eines Politikers aus Bregenz plädiert (S. 200, P. Melichar), teils aus einer reichlich positivistischen Perspektive auf Tagebücher, die den Autor zu einer auffallend schlichten Rekonstruktion der Biographie eines Gemischtwarenhändlers aus Salzburg veranlasst (R. Hoffmann).

Der Sammelband vermittelt in weiten Passagen einen zwiespältigen Eindruck sowohl bezüglich der Anwendung von Theorien als auch mit Blick auf die üblichen Vorgehensweisen im Forschungsfeld der Mikrogeschichte. Diesen Eindruck zu zerstreuen, sind die beiden Herausgeber in der Einleitung sichtlich bemüht, indem sie etwa die heutzutage reichlich überstrapazierte Bezeichnung „Multiperspektivität“ für die Charakterisierung heterogener Positionen in diesem Forschungsfeld wählen (S. 19). Eher der Verschleierung als einer fundierten Debatte über Ansätze der Mikrogeschichte dient auch das Bestreben der Herausgeber, kritische Positionen voreilig zu relativieren, die insbesondere von Peter Melichar und Norbert Schindler formuliert werden. Denn diese erachten eine systematische Verknüpfung von mikro- und makrohistorischen Forschungsstrategien aus prinzipiellen Gründen für nicht realisierbar (S. 14f., 107, 190–192), womit immerhin das zentrale Thema der Tagung und auch der Titel des Sammelbandes in den Fokus der Betrachtung rücken, nämlich „im Kleinen das Große suchen“. Solchen grundsätzlichen Bedenken setzen die Herausgeber schlichtweg die Zauberformel von „der Dialektik von Strukturen und Praktiken“ entgegen (S. 15), als ob sich Dialektik als forschungslogisches Programm in der Geschichtswissenschaft heutzutage von selbst verstünde. Einen ähnlichen Tenor wählen sie gegenüber den strukturanalytischen, mikrogeschichtliche Annahmen kritisch beleuchtenden Überlegungen Christoph Boyers, die ihrer Ansicht nach „zentrale Grundorientierungen der Mikrogeschichte“ verfehlen, wozu sie etwa das „lebensweltliche Paradigma“ von Hanns Haas rechnen (ebd.), das sie aber in ihren Merkmalskatalog der Mikrogeschichte selbst gar nicht aufgenommen haben (S. 10–13).

Mit ihrer starken Orientierung auf Forschungspositionen des Landeshistorikers Hanns Haas haben die Herausgeber eine konzeptionelle Vorentscheidung getroffen, deren Konsequenzen für den Zuschnitt des Bandes ihnen offenbar entgangen sind. Denn sie gehen im Anschluss an Perspektiven und Beobachtungen von Haas davon aus, dass die „Mikrogeschichte“ nicht nur „das Verstehen der historischen Akteure“ erlaube, sondern auch das „Erklären von Einstellungen und Handlungen durch die Analysen von Handlungsmotivationen“ ermögliche (S. 10). Damit vereinseitigen sie kurzerhand die Vorgehensweisen in der Mikrogeschichte auf die induktive Methode, wofür im Übrigen auch Otto Ulbricht plädiert (S. 23). Verhaltensweisen und Entscheidungen von Akteuren jedoch ausschließlich oder zumindest überwiegend aus ihren Einstellungen und Motiven verstehen oder erklären zu wollen, ist zum einen begründungsbedürftig, zum anderen wird damit eklatant die Wirkmächtigkeit von Prozessen, Strukturen, Bedingungen, Wechselwirkungen etc. und erst recht deren Eigendynamik unterschätzt, die sich mitunter hinter dem Rücken der Akteure vollzieht und zumeist erst ex post in ihrer Tragweite erkannt werden kann. Auf diesen spezifischen Erkenntnismodus der Geschichtswissenschaft weist Boyer ausdrücklich hin (S. 88). Zumindest dem Herausgeber Ernst Langthaler sind solche Einsichten auch durchaus vertraut, denn er verwendet in seinem eigenen Beitrag über die globale Entfaltung der Sojabohnen-Schweinefleisch-Nahrungskette im 20. Jahrhundert ganz selbstverständlich Struktur- und Prozessbegriffe wie etwa „Durchstaatlichung“, „Marktintegration“, „agrar-industrielle Nahrungsketten“, „agrar-industrieller Komplex“ und „Weltagrarsystem“ (S. 57–68), die er freilich nur sehr sporadisch beispielsweise mit Mais und Sojabohnen anbauenden Farmern im Mittleren Westen der USA in Beziehung setzt. Inwiefern eine solche klassisch wirtschafts- und sozialhistorisch vorgehende Analyse elementar auf mikrogeschichtliche Ansätze angewiesen ist, bleibt letztlich unerfindlich.

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