L. Boyer: Elementarschulen und Elementarunterricht in Österreich

Titel
Elementarschulen und Elementarunterricht in Österreich. Illustrierte Chronik der Schul- und Methodengeschichte von den ältesten Quellen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Boyer, Ludwig
Erschienen
Graz 2012: Leykam
Anzahl Seiten
496 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 41,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Leitner, Graz

Ludwig Boyer hat eine illustrierte Chronik der Geschichte der Elementarschule auf dem Boden des heutigen Österreich und der Methoden, mit denen sie den Unterricht gestaltete oder zumindest zu gestalten versuchte, vorgelegt. Das derzeit geltende Schulrecht inkludiert für die ersten vier Schulstufen die Vermittlung einer für alle Schüler gemeinsamen Elementarbildung (Österreichisches Schulorganisationsgesetz 1962 in der derzeit geltenden Fassung, § 9 Abs. 2). Boyers Anliegen ist es, den Begriff „Elementarunterricht” in der so definierten Form auf die jeweilige historische Situation bezogen zu verstehen. Neben der Entwicklung der Elementarschulen bezieht er auch die Herausbildung des Sonderschulwesens sowie den Anfangsunterricht in den höheren Schulen mit ein, sofern dort die elementaren Kulturtechniken vermittelt wurden (siehe S. 9).

Ein weiteres Anliegen des Verfassers ist es, auf den Umstand hinzuweisen, dass eine ausgewogene, allgemeine Geschichtsschreibung nicht allein die Maßnahmen der Herrscher, sondern auch das reale Leben der Beherrschten darzustellen habe. Vor diesem Hintergrund müsse die „Schulhistoriographie neben den Maßnahmen der Schulgesetzgebung, Schulverwaltung und Schulaufsicht und den vielen anderen bedingenden Faktoren die ungeschminkte Wahrheit über den Schulalltag, über die Schul-, Unterrichts- und Erziehungswirklichkeit aufspüren und darlegen” (S. 9).

Wie schon aus dem Titel hervorgeht, ist dieses Werk eine Chronik, geordnet in Epochen, Jahrhunderten und, wo es die Quellenlage erlaubt, Jahren, sowie exakten, in Urkunden, Verordnungen, Erlässen etc. greifbaren Daten. In einem bei Eisenstadt im Burgenland 1903 beim Freilegen der Überreste einer römischen Villa aufgefundenen Ziegelfragment mit eingeritzten Buchstaben, wird eine Unterlage zum Lesen- und Schreibenlernen vermutet; am Magdalensberg in Kärnten fanden sich gleichfalls aus der Zeit um 100 v. Chr. zahlreiche Rundmarken mit Zahlen und Buchstaben, die sehr wahrscheinlich dem gleichen Zweck dienten.

Eine bedeutende Wurzel des Bildungssystems ist nach Boyer das Christentum. Mit diesem wurde das biblische Wissen weiterbefördert und damit auch die antike Kultur. Der Verfasser vertritt hier die Ansicht, dass sich das antike Wissen, ohne jemals vollkommen zu verschwinden, durch das Christentum über die Phase des Untergangs des Römischen Reiches, der Zeit der Völkerwanderung und des Frühmittelalters relativ unbeschadet gerettet habe. So war um 700 in Salzburg die erste Klosterschule entstanden, in der elementares Wissen vermittelt worden ist – etwa auch die Grundlagen des Griechischen und Lateinischen. Dies ist sicher zutreffend, doch sollten in diesem Kontext auch andere Aspekte der Geschichtswissenschaft berücksichtigt werden, etwa die Position Rolf Bergmeiers1, nach welcher das frühe Christentum in seiner Jenseitsorientierung und dem daraus resultierenden Fanatismus nur einen winzigen Teil des antiken Wissens vor dem Untergang bewahrt habe.

Im Hochmittelalter waren in den Städten und Märkten Lateinschulen entstanden, in denen Lesen und Schreiben gelehrt wurde; dem Anspruch des Bürgertums nach höherer Bildung entsprechend legte man auf Latein großen Wert. Die Kultur der ritterlich-höfischen Dichtung war allerdings nur einer elitären kleinen Schicht erschlossen, für die große Mehrheit der Bevölkerung war einzig die volkssprachliche Tradition bedeutend. 1446 gibt uns die „Ordnung der Schule zu St. Stephan in Wien” erstmals einen Einblick in die Organisation und den Lehrplan einer österreichischen Schule.

Die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts brachten das Schulsystem in Unordnung. Neben Missernten und Pest führte die Reformation teilweise zur Auflösung der Klosterschulen und somit naturgemäß zum Rückgang der allgemeinen elementaren Schulausbildung. Mangels Priester und einem Verfall des katholischen geistlichen Lebens konnten am Land in dieser Epoche viele Schulen nicht mehr weitergeführt werden, doch insbesondere durch die vom protestantischen Adel errichteten Landschaftsschulen wurde zumindest in den Städten über das Elementarwissen hinaus auch höhere Bildung vermittelt, was zahlreiche ausführliche Schulordnungen und Instruktionen bezeugen.

Die Rekatholisierung prägte das Schulwesen mit großer Vehemenz und Nachhaltigkeit. Die Katholische Kirche hatte neben dem Glaubensmonopol auch das der Bildung an sich gezogen und gab dieses lange nicht mehr ab. Den Höhepunkt des Einflusses der Katholischen Kirche sollte das Konkordat des Jahres 1855 bilden, indem sie Eherecht und Schulwesen dem staatlichen Bereich entzogen sowie vollständig übernommen hatte. Erst der verlorene Krieg gegen Preußen 1866 (man gab wegen der mangelhaften Bildung der Soldaten der Schule Mitschuld an der Niederlage) sowie die nunmehrige dominante liberale Politik schränkten die Privilegien der Katholischen Kirche ein.

Die rechtlichen Grundlagen für eine staatliche Reform der Elementarschulen, die „Allgemeine Schulordnung”, stammt aus dem Jahr 1774. Organisator dieses bedeutendsten deutschen wie österreichischen Werkes war Johann Ignaz Felbiger, Abt des Augustiner-Chorherren-Stiftes zu Sagan in Niederschlesien. Es sah Trivialschulen in verschiedenen Konstellationen in allen kleinen Städten und Märkten vor, mehrklassige Hauptschulen für alle größeren Städte. Zur Ausbildung der Lehrer richtete man sogenannte Normalschulen ein. Felbigers Unterrichtsmethoden blieben zwar nicht ohne Kritik, diese fiel aber, da er die Unterstützung der Kaiserin Maria Theresias genoss, auf keinen fruchtbaren Boden.

Die Revolution des Jahres 1848 hatte erstmals eine Phase liberaler Schulpolitik auch für die Elementarschulen eingeleitet, mit dem „Entwurf der Grundzüge des öffentlichen Unterrichtswesens in Österreich” wurden auch die Prämissen für die Volksschulen und die Lehrerausbildung festgelegt, eine Schulpflicht vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr verordnet. Nach einer der Revolution folgenden Phase der Restauration und des erwähnten Konkordats mit der katholischen Kirche konnte sich ein freierer Geist wieder in der liberalen Phase durchsetzen. Insbesondere das Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869 bildete in diesem Kontext einen Eckpfeiler der österreichischen Schulgeschichte, in dem die Grundsätze des Unterrichtswesens österreichischer Volksschulen festgelegt wurden. Die Beziehung zwischen Staat und Kirche wurde erstmals klar und endgültig getrennt.

Ludwig Boyer weist in seinem Werk nicht zuletzt auch auf das zutiefst patriarchalische, von männlichen Prämissen und Vorstellungen ausgehende Prinzip des Schulwesens hin, das Mädchen und Frauen den Zugang zu höherer Bildung bis 1897 verwehrte, indem es „Geschlechtercharaktere” generierte, die zudem in außerordentlich diskriminierender und benachteiligender Behandlung der Lehrerinnen gipfelten.

Die Jahre hin zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wiesen neue Unterrichtsfächer wie naturwissenschaftliche Gegenstände, aber auch Turnen und Musik auf. Jene Lehrbücher, die zur Verwendung zugelassen waren, fasste man erstmals in einem approbierten Verzeichnis zusammen.

Neben der Entwicklung des Schulwesens für sogenannte „normalbegabte” Kinder zeichnet der Autor mit großer Akribie auch die Entstehung und Verbreitung der Schulen für körperlich und geistig eingeschränkte Kinder seit ihren Anfängen nach – so die Entstehung der ersten Lehranstalten für Blinde und Sehbehinderte sowie für Gehörlose, aber auch den Anfang jenes Unterrichtes, der geistig zurückgebliebene Kinder zu integrieren versuchte.

Aufschlussreich ist auch Boyers Nachzeichnung der Unterrichtsdidaktik, beginnend mit Felbiger, dessen Unterrichtsmethoden lange prägend wirkten. Der Verfasser verabsäumt es nicht, herausragende Persönlichkeiten, heute würde man diese als Reformpädagogen bezeichnen, näher zu betrachten und deren Methoden des Unterrichtens eingehender zu beschreiben. Es sei hier nur Vincenz Eduard Milde genannt, der dem Unterricht in seinem 1811 erschienen „Lehrbuch der allgemeinen Erziehungskunde zum Gebrauche der öffentlichen Vorlesungen” neue Wege gewiesen hat. Dieses fortschrittliche Werk enthielt Einsichten über die Entwicklung des Kindes und Erkenntnisse aus der Eltern- und Schulpädagogik, die oft erst lange Zeit später – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zum Inhalt einer allgemeinen Pädagogik werden konnten.

Ludwig Boyers Publikation ist eine sorgfältig gefertigte, überaus detailreiche und illustrierte Chronik der Schulgeschichte und ihrer Methodik in Österreich. Neben den Originalquellen stützt sich der Autor in erster Linie auf die wissenschaftliche Standardliteratur, etwa auf Helmut Engelbrechts verdienstvolle mehrbändige Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Allerdings vermisst der Leser zeitgemäße wissenschaftliche Erkenntnisse der Kulturwissenschaften2 oder interdisziplinäre Forschungsansätze. In jedem Fall aber ist diese Chronik eine entscheidende Hilfe für jene, die sich über die Entwicklung der österreichischen Elementarschule einen Überblick verschaffen wollen. Für alle, die tiefer in die Materie einzutauchen gedenken, liefert sie interessante Anregungen.

Anmerkungen:
1 Rolf Bergmeier, Schatten über Europa. Der Untergang der antiken Kultur, München 2012.
2 Um einige Beispiele zu geben: Sonja Rinofner-Kreidl (Hrsg.), Zwischen Orientierung und Krise. Zum Umgang mit Wissen in der Moderne, Wien 1998; Adam Erik, Gerald Grimm (Hrsg.), Die Pädagogik des Herbartianismus in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Wien 2009.

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