Cover
Titel
Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion


Autor(en)
Herzberg, Julia
Reihe
1800–2000. Kulturgeschichten der Moderne 11
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christian Petersen, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Gewalttätig, naiv, stumm – dieses bis heute viele Publikationen über den russischen Bauern bestimmende Urteil nimmt Julia Herzberg zum Ausgangspunkt ihrer Studie über bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Ihr Buch, das auf einer 2011 in Bielefeld verteidigten und bei Stephan Merl und Susanne Schattenberg entstandenen Dissertation beruht, korrigiert solche Pauschalurteile und erweitert unser Wissen über das Selbstverständnis russischer Bauern und Bäuerinnen grundlegend. Und dies auf zwei Ebenen: Durch eine beeindruckende Forschungsleistung sowie durch eine innovative und überzeugend entfaltete Interpretation.

Blickt man zunächst auf die Forschung, die dem Buch zugrunde liegt, so widerlegt allein die Vielzahl der von Herzberg zusammengetragenen Dokumente das auch von prominenten Vertretern des Faches immer wieder genährte Bild der russischen Bauernschaft als einem Kollektiv, das sich allein durch Gewalt zu artikulieren wusste und von dem dementsprechend nicht zu erwarten steht, dass seine Angehörigen überhaupt irgendetwas über sich selbst zu Papier gebracht haben. Rund dreihundert bäuerliche Autobiographien aus einem Zeitraum von der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 bis zum Stalinismus der 1930er-Jahre hat Herzberg zusammengetragen – und neben der Aussagekraft der reinen Zahl vermag wohl jeder und jede, der oder die schon einmal mit Handschriften nicht-offizieller Natur zu tun hatte, ungefähr zu ermessen, welche Zeit und Ausdauer in ihrer Lektüre stecken, zumal es sich hier um individuelle Aufzeichnungen von Angehörigen der russischen Unterschichten handelt. Hinzu kommen die oft verschlungenen Pfade der Recherche, die ein solches Thema mit sich bringt, da die Tagebücher und Aufzeichnungen bäuerlicher Provenienz nicht in einem zentralen Bestand lagern, sondern sich vor allem in den diversen Nachlässen der Korrespondenzpartner finden. Als sehr erkenntnisfördernd erweist es sich da, dass Herzberg die Wege ihrer eigenen Nachforschungen nicht en passant erwähnt, sondern sie vielmehr zum Anlass für grundsätzliche Überlegungen zu Sammlungs- und Archivierungspraktiken nimmt – was zum analytischen und interpretatorischen Teil ihrer Arbeit überleitet.

Julia Herzberg verwendet bewusst den Begriff der „Autobiographik“ und entscheidet sich damit gegen die im deutschen Sprachgebrauch geläufigeren „Selbstzeugnisse“ oder „Ego-Dokumente“. Der Grund hierfür liegt in ihrem Erkenntnisinteresse: Ihr geht es um das „Gemachtwerden“ (S. 15) solcher Texte, in einem Dreieck von Anrufung, Adressierung und Archivierung. Entgegen einem traditionellen Verständnis von Autobiographik als einem individuellen und intimen Prozess vertritt sie eine Lesart solcher Dokumente als Ergebnisse komplexer Kommunikationssituationen, bei der deutlich mehr in den Blick gerät als nur der Verfasser oder die Verfasserin selbst. Sie fragt nach den Anlässen, die die Bauern und Bäuerinnen zur Feder greifen ließen (Anrufung), nach den Intentionen, die mit der Niederschrift der eigenen Lebensgeschichte verbunden waren (Adressierung) sowie nach den Wegen, auf denen die Texte für die Nachwelt erhalten oder dem Vergessen anheim gegeben wurden (Archivierung). Dieser Ansatz erweitert das dominierende Verständnis autobiographischer Texte und zeigt die Grenzen bisher weitgehend unbestrittener Konzepte der Autobiographieforschung auf, so etwa des „autobiographischen Pakts“ zwischen Autor und Leser nach Lejeune, der auf einer Einheit von Autor, Erzähler und Figur beruht.1 An zwei Beispielen sei erklärt, wie dieses Verständnis von Autobiographik als sozialem Handeln konkret umgesetzt wird und welche Erkenntnisse sich hieraus gewinnen lassen.

Herzberg gliedert ihre Quellen in drei Gruppen, die sich in entsprechenden Kapiteln der Arbeit abbilden: Autobiographik in Presse und Publizistik, Autobiographieprojekte sowie autobiographisches Schreiben im Familienkreis. Alle drei begreift sie als „Kommunikationsräume“ (S. 14), die das Schreiben über das eigene Leben erst ermöglichten, in denen aber auch bestimmte Regeln, Netzwerke und Ausschlüsse ihre Wirkung entfalteten. Das Beispiel des später als „Bauern-Dichter“ (poet-krest’janin) bekannt gewordenen Spiridon Droshshin illustriert, wie die Autobiographen und Autobiographinnen versuchten, diese Räume für sich zu nutzen. Von Droshshin existieren insgesamt zehn autobiographische Texte, die sich über einen Zeitraum von 1884 bis 1930 erstrecken. Durch deren vergleichende Lektüre gelingt es Herzberg, den Kontext ‚hinter‘ dem gedruckten Text deutlich zu machen und zu zeigen, welche gezielten Änderungen Droshshin an seiner Lebensgeschichte vornahm, um sich in die jeweiligen zeitgenössischen Diskurse einzuschreiben. Präsentierte er 1884 in „Russkai Starina“ noch das klassische „Aufstiegsnarrativ“ (S. 121) des bäuerlichen Autodidakten, der aus eigenem Antrieb seine Herkunft hinter sich lassen konnte, so verschob sich der Fokus in den folgenden Fassungen immer mehr in Richtung einer Betonung seiner bäuerlichen Wurzeln. Droshshin idealisierte nun das Leben des ‚einfachen‘ russischen Menschen in der Dorfgemeinschaft und zeichnete die Stadt, die er während seiner Aufenthalte in St. Petersburg kennen gelernt hatte, zunehmend in düsteren Farben. Seine Verleger und Förderer unterstützten diesen Imagewandel, da sie das russische Volk (narod) als Verkörperung einer besseren Zukunft ansahen. Zugleich wird deutlich, welche Punkte des eigenen Lebens Droshshin ausblendete, wie etwa seine intensive Nutzung der städtischen Bildungsangebote der Stadt, ohne die er gar nicht in der Lage gewesen wäre, später über den ‚Moloch Stadt‘ zu schreiben. Sein Beispiel zeigt, dass das Verfassen einer Autobiographie mehr war nur als nur ein stiller Akt des Schreibens; es eröffnete Handlungsspielräume, die man jedoch nur erkennen kann, wenn man die Bauern und Bäuerinnen als handelnde Individuen ernst nimmt.

Ein zweites Beispiel für den von Herzberg gewählten Ansatz der „gemachten“ Biographie sind ihre Ausführungen zu den nur in sehr geringer Zahl überlieferten bäuerlichen Autobiographien von Frauen. Sind die Leerstellen im Archiv tatsächlich Folge dessen, dass Bäuerinnen nicht über ihr Leben geschrieben haben? Wie Herzberg zeigen kann, haben Frauen aufgrund ihrer benachteiligten sozialen und kulturellen Stellung tatsächlich seltener Aufzeichnungen hinterlassen als Männer – aber zugleich deutlich häufiger, als es die Findbücher heute wiedergeben. Es waren männliche Netzwerke, die darüber entschieden, was aufbewahrt oder publiziert wurde, und die wenigen autobiographischen Texte, die wir heute in den ‚dicken Journalen‘ finden, wären ohne männliche Protektion nie dort gelandet, weshalb Herzberg in diesem Kontext von „kooperativen Autobiographien“ (S. 390) spricht.

Weitere gewichtige Punkte der Arbeit wie etwa die Aufschlüsselung der langjährigen Autobiographieprojekte von Wladimir Bontsch-Bruewitsch oder Nikolai Rubakin seien hier nur noch erwähnt und zur eigenen Lektüre empfohlen. Drei sehr hilfreiche Register ergänzen das Buch. Insgesamt bleibt nach der Lektüre der Eindruck einer Arbeit, die ein wirkliches Lesevergnügen bereitet und zugleich neue Fragen provoziert. So ließe sich etwa darüber diskutieren, was das Konzept der „gemachten“ Biographie für die Referentialität autobiographischer Texte bedeutet. Gibt es trotz allem noch Bezüge zur Welt jenseits des Textes, die wir aus solchen Dokumenten gewinnen können, oder lassen sie sich nur noch als textuelle Konstruktionen analysieren? Gerade für die Lebenswelten der Unterschichten ist dies eine zentrale Frage, denn hier sind individuelle Zeugnisse häufig unsere einzigen Quellen. Julia Herzberg hat ein intellektuell wie sprachlich äußerst anregendes Buch geschrieben, das sowohl für die osteuropäische Geschichte wie auch für die Autobiographieforschung neue Perspektiven eröffnet.

Anmerkung:
1 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt (1973/1975), in: Günter Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 214–257.

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