I. U. Paul u.a. (Hrsg.): Der historische Roman

Cover
Titel
Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft.


Herausgeber
Paul, Ina Ulrike; Faber, Richard
Erschienen
Anzahl Seiten
536 S., mit Abb.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Deupmann, Institut für Germanistik, Karlsruher Institut für Technologie

„Der historische Roman ist erstens ein Roman und zweitens keine Historie.“1 Nähme man Alfred Döblins Diktum beim Wort, würden historische Romane kaum in den Fokus des gemeinsamen Interesses von Literatur- und Geschichtswissenschaft geraten. Tatsächlich wirft Döblins Satz jedoch mehr Fragen auf, als er im Gestus der Klarstellung beantwortet: Wie ist die Beziehung zwischen Literatur und Geschichte, Fiktion und historischem Wissen, ästhetischer und historiografischer Form in Hinsicht auf den historischen Roman zu denken? Literarizität storniert jedenfalls nicht einfach Historizität, sondern gehört womöglich zu deren Darstellungsbedingungen.

Die 27 aus Geschichts-, Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften kommenden Beiträger/innen des Bandes, der in Teilen auf eine Ringvorlesung von 2009 zurückgeht, arbeiten sich an solchen Fragen in theoretisch unterschiedlich ambitionierten Anläufen ab. Die Herausgeber, die Historikerin Ina Ulrike Paul und der Literatur- und Religionssoziologe Richard Faber (beide Freie Universität Berlin), haben die Texte in drei Sektionen gegliedert: In der ersten geht es um das Nähe- und Konfliktverhältnis von „Geschichtsschreibung und Literatur“, in der zweiten um exemplarische „Fallstudien“, in der dritten, kürzesten, um „[k]ontrafaktische Zeitgeschichte“ in Romanen seit 1945. Gattungsbezogen gibt sich der Band eher großzügig: Tatsächlich untersuchen die Aufsätze nicht nur historische Romane, sondern auch Erzählungen, Dramen und Filme. Dem Gewinn an Einsichten und Anregungen schadet diese Inkonsequenz freilich nicht.

Dass Darstellungen von Geschichte erzählende Verfahren in Anspruch nehmen, ist keine neue Erkenntnis, wie der wiederholte Rekurs der ersten Sektion auf Überlegungen bei Droysen, Carlyle und White verdeutlicht. Den Anfang macht Burkhard Gladigows historisch weit ausholender Beitrag, der anhand von Fiktionen außerirdischer Beobachter von der Antike bis zur modernen Science Fiction das menschliche Zeit- und Geschichtsverständnis beleuchtet. Im nachfolgenden Interview unternimmt Jörn Rüsen einen pointierten Klärungsversuch der ‚metahistorischen’ Probleme von „Wahrheit, Sinn und Konstruktion“, indem er (gegen Hayden White) die „Tatsachenrichtigkeit“ (S. 47) zum unabdingbaren Kriterium historischer Wissenschaft erklärt – und damit auch zum Korrektiv aller journalistischen und literarischen Repräsentation von Vergangenheit. Das wird an einer ‚false memory’ wie Binjamins Wilkomirskis pseudo-autobiografischen „Bruchstücken. Aus einer Kindheit 1939–1948“ von 1995 besonders flagrant; Katja Stopka nimmt dieses Buch zum Anlass ihres Plädoyers für eine „engere Kooperation zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft“ (S. 79). Rüsens Aussagen bringen jedoch eine zentrale Einsicht des Bandes auf den Punkt: Literatur trägt zur Selbstreflexion der historischen Wissenschaften, ihrer Erkenntnisbedingungen und Darstellungsformen bei. Glauben Historiker, sie seien „Herren des Verfahrens“, geraten ihre Darstellungen zu „schlechte[r] Literatur“ (S. 53). Otto Gerhard Oexles Aufsatz spitzt diese Überlegung zu, indem er in Claude Simons Romanen über Ereignisse im Zweiten Weltkrieg die „Destruktion jeglichen Anspruchs“ ausmacht, „zu wissen oder gar sagen zu können, ‚wie es eigentlich gewesen’“ (S. 65). Die wechselvollen Annäherungen und Entfernungen zwischen Geschichte und Literatur vom Historismus bis zur Gegenwart rekonstruiert Wolfgang E. J. Weber unter dem Gesichtspunkt der historiografischen Methodologie.

Einen ungewöhnlichen Beitrag zur Sektion liefert Jürgen Link mit „Prolegomena“ zu seinem eigenen „aktualhistorischen Roman“ „Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee“ (2008), einem literarischen Versuch, „Struktur- wie Ereignisgeschichte, [...] Kultur-, Diskurs-, Intelligenz- und Subjektivitätsgeschichte“ zusammenzuführen (S. 116). In der Doppelrolle als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller skizziert Link darin im Blick auf die ‚1968er’ eine Autorpoetik, die die spezifische Leistung literarischer Darstellung exponiert: Ihre Geschichte lässt sich womöglich nur in der „Mehrstimmigkeit“ eines Textes darstellen, dessen ‚Ich’, wie sein Romanauszug veranschaulicht, durch ein „‚zerbröckelnde[s]‘ Wir“ (S. 118) ersetzt wird.

Die zweite, umfangreichste Sektion zu literarischen „Fallstudien“2 setzt mit Margarete Zimmermanns Deutung von Annie Ernaux’ „hybride[n]“, gattungsmäßig kaum einzuordnenden „Les Années“ als historischer ‚Soziographie‘ in der Nachfolge Marcel Prousts und Virginia Woolfs ein, die sich auf das Partikulare als Erinnerungsträger berufen. Damit ist eine – quer durch den Band führende – Reihe eröffnet, die die (‚kritische’) Referenz von Literatur auf geschichtliche Wirklichkeit unterstreicht. Das wird zumal am Beitrag des Mitherausgebers Richard Faber über Fontanes „Effi Briest“ deutlich: Er weist mit Carlo Ginzburg alle „modischen Theorien“ zurück, welche Geschichte in Fiktion auflösen (S. 393), und sieht in Fontanes Romanfiktion ein Produkt ‚teilnehmender’ Beobachtung. Diesem Interesse am Autor als „Historiograph[en] der zeitgenössischen Verhältnisse“ folgen auch Perdita Ladwigs Aufsatz über „Die Vizekönige“ des italienischen Journalisten und literarischen ‚Veristen’ Federico De Roberto, Brunhilde Wehingers gendertheoretische Überlegungen zu George Sands „Nanon“ sowie die Beiträge von Christine de Gemeaux über Marguerite Yourcenars „Die Schwarze Flamme“ und von Helmut Hanko über Leo Perutz’ „Nachts unter der Steinernen Brücke“. Jens Flemmings (leider mit falschem Kolumnentitel versehener) Aufsatz versteht Arnold Zweigs autobiografisches „Schreiben über den Krieg“ („Der Große Krieg der weißen Männer“) als Form einer Therapie, „um das Trauma des Kriegserlebnisses zu bannen“ (S. 291). Ricarda Huchs quellentreues Roman-Panorama „Der große Krieg in Deutschland“ inszeniert nach Gerhard Bauer wie bei Tolstoi oder Stendhal die „Unübersichtlichkeit“ der Gemengelage im Dreißigjährigen Krieg. In die Reihe gehört auch der Beitrag der Medienwissenschaftlerin Karin Bruns über Uli Edels „Der Baader-Meinhof-Komplex“, den sie überraschenderweise als „Romanverfilmung“ vorstellt.3 Ihre Analyse intermedialer Authentifizierungsverfahren wirft allerdings überlegenswerte Anschlussfragen auf: Sind „Polizeidokumente, Pressefotografien und Tonbandaufnahmen“, Fernsehbilder etc. tatsächlich „Zeichen erster Ordnung“ (S. 156) oder nicht bereits darstellende Formen, die die Referenz auf historische Ereignisse ‚aufschieben’?

Eine andere Reihe von Beiträgen stellt den Rekurs literarischer Texte auf Erinnerung und Überlieferung ins Zentrum: Andreas Pfersmann untersucht Augusto Roa Bastos und Patrick Chamoiseaus Romane anhand ihrer Anmerkungspraxis als Medien einer Gegengeschichte, die sich gegenüber ‚offiziellen’ Darstellungen dissident verhält. Gegengeschichte akzentuiert eine ‚Geschichte von unten’, also die apokryphe Geschichte kollektiver Akteure oder ihrer Repräsentanten, die im öffentlichen Diskurs zum Schweigen gebracht worden sind. Diese „benjaminartige Idee“ (S. 184)4 bestimmt für Heribert Tommek auch Peter Weiß’ Dokumentardrama „Viet Nam Diskurs“, das er als Vorstufe zum Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ interpretiert. Eine andere Art von Gegengeschichte, die das verdrängende Schweigen über die NS-Vergangenheit bricht und damit „das Beschriebene [selbst] auszulöschen“ versucht (S. 231), findet sich Josef P. Mautner zufolge in Thomas Bernhards „Auslöschung“. Dass der historische Roman auch die Bibelkritik zu seiner Sache machen kann, beleuchtet Martin Leutzsch anhand der ‚Mutter’ aller Jesusromane, Carl Heinrich Venturinis „Natürliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth“. Indem er die Evangelien dem poetologischen Maßstab der ‚Wahrscheinlichkeit‘ unterstellt, behält der reich mit Quellenbelegen ausgestattete Roman das Jesusbild eines unpolitischen Reformators übrig.

Eine dritte Perspektive richtet sich auf die Adaption historischer Darstellungsverfahren, Stoffe und Gestalten. Ludwig Stockinger und Ulrike Weymann machen dabei Romanbiografien zum Gegenstand: Stockinger bezieht Friedrich von Hardenbergs romantische Bestimmung des Romans als einheitsstiftende „Mythologie der Geschichte“ auf Penelope Fitzgeralds „The Blue Flower“; Weymann interpretiert Heinrich Manns „Henri Quatre“ mit Michail Bachtin als grotesk-karnevalistische Außerkraftsetzung etablierter Ordnungen. Die Savonarola-Erzählungen, die Ralf Georg Czapla untersucht, demonstrieren dagegen die Adaptionsfähigkeit einer historischer Gestalt: Von Thomas Manns Erzählung „Gladius Dei“ über Fritz Steins „Savonarola der Zweite“ bis zu Friedrich Norfolks faschistischem Roman „Der Kondottiere“ werden fiktive oder an zeitgenössischen Personen orientierte Figuren in die historische Kontur eingetragen; die Reihe kommt bei der Überblendung Joseph Goebbels’ mit dem „Glaubenseiferer“ aus (S. 369). Eine spielerische Adaption historiografischer ‚Quellen’ führt die Mitherausgeberin Ina Ulrike Paul an Daniel Kehlmanns Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt“ vor: Die für manche ‚Experten‘ anstößigen Inkongruenzen zwischen Figur und Person (Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß) demonstrieren letztlich die Konstruktivität jeglicher Geschichte (S. 176f.). Solch spielerischer Umgang mit historischen Stoffen bleibt im vorliegenden Band leider die Ausnahme. Virtuos potenziert wird das Verhältnis von Geschichte und (dramatischem) Spiel freilich in Arthur (nicht Alfred, S. 371!) Schnitzlers Einakter „Der grüne Kakadu“ (Erhard Stölting), wo die Geschichte als Spiel vom Ernst der Geschichte (der Französischen Revolution) eingeholt wird.

Die letzte Sektion erweitert den Fokus auf die ‚Uchronie’, die auch in der Geschichtswissenschaft die Probe auf die „Schlüssigkeit von Materialanordnungen, Narrationen und Konklusionen“ anstellt (S. 470). Kontrafaktische Fiktionen wirken Erhard Schütz zufolge als „parabolische“ Spiegel, indem sie apokryphe Versionen der Geschichte darbieten und zugleich von der eigenen Gegenwart Zeugnis ablegen (S. 476). Den „kindlichen Wunsch“, die Grauen des Nationalsozialismus ungeschehen zu machen – ein Motor der politischen Geschichte nach 1945 –, bewahrt indes nur die Fiktion (S. 485). Alfred Anderschs „Winterspelt“, analysiert von Barbara Picht, entspricht als Erzählung einer potenziellen Devianz der Geschichte freilich nur fast dem Typus des allohistorischen (alternativgeschichtlichen) Romans: Zwar scheitert der Plan der kampflosen Übergabe eines Bataillons bei der Ardennen-Offensive, aber der Roman führt vor, dass Geschichte aus dem entsteht, was man für möglich hält (S. 502f.). Dass die ‚faits accomplis’ der Geschichte die Denkmöglichkeiten nicht begrenzen sollten, macht Philip K. Dicks Alternativweltroman „The Man in the High Castle“ geltend, wie Reinhard Brenneke abschließend argumentiert: Selbst wenn die erdachte Welt alternativlos erscheint, so erinnert die kontrafaktische Konstruktion doch daran „that we have to take responsibility for the whole of history“ (S. 520).

Angesichts der zahlreichen vorkommenden Autoren und Titel vermisst man ein Personen- und Werkregister. Eine sorgfältige Schlussredaktion hätte dem Buch ebenfalls gut getan. Dass literatur- und geschichtswissenschaftliche Forschungen jedoch in einen ertragreichen Dialog treten können, lässt sich bei der Lektüre des umfangreichen Bandes erleben.

Anmerkungen:
1 Alfred Döblin, Der historische Roman und wir [1936], in: ders., Aufsätze zur Literatur, hrsg. von Walter Muschg, Olten 1963, S. 169; in der Einleitung des rezensierten Bandes zit. auf S. 15.
2 Die Entstehungszeit der untersuchten Werke ist im Inhaltsverzeichnis jeweils genannt; die Auswahl stammt aus dem Zeitraum 1800–2008.
3 Stefan Aust bezeichnet seinen „Baader-Meinhof-Komplex“ (zuerst 1985) dagegen als „Protokoll“ oder „Chronik“ – was allerdings den Anteil der ‚Tatsachenphantasie’ (um noch einmal einen Ausdruck Döblins zu gebrauchen) überspielt.
4 Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1940], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 693–704.