C. Chatterjee u.a. (Hrsg.): Americans Experience Russia

Titel
Americans Experience Russia. Encountering the Enigma, 1917 to the Present


Herausgeber
Chatterjee, Choi; Holmgren, Beth
Reihe
Routledge Studies in Cultural History
Erschienen
London 2012: Routledge
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
$ 140.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Susanne Jobst, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Angesichts einer kaum noch zu bewältigenden Masse an Konferenz- und sonstigen Sammelbänden wird über deren Sinn und Unsinn in den letzten Jahren viel diskutiert. In Rezensionen wird zunehmend häufig festgestellt, der zu besprechenden Publikation fehle der thematische Fokus und sie werde allein durch zwei Buchdeckel irgendwie zusammengehalten. Auch dem von der Osteuropahistorikerin Choi Chatterjee und der Slawistin Beth Holmgren herausgegebenen vorliegenden Band kann man diesen Vorwurf machen, erscheint deren grundsätzlich lobenswertes Ansinnen, den Einfluss des US-amerikanisch-russischen „encounters“ auf die Formung des Bildes der eigenen (US-amerikanischen) kollektiven Identität zu beleuchten, doch höchst disparat umgesetzt. Vielmehr geht es dann recht einseitig um die Wahrnehmung Russlands durch Amerikaner, und nicht um die Rückwirkungen, die diese Wahrnehmung auf die amerikanische Identität hat. Dabei sind einzelne Beiträge für sich genommen durchaus inspirierend. Doch der Reihe nach.

In ihrer Einleitung stellen die Herausgeberinnen fest, dass das US-amerikanische „Russland-Erleben“ im Gegensatz zum westeuropäischen Blick auf den ostslawischen Teil Europas von der Forschung wenig beleuchtet wurde. Dem ist ohne weiteres zuzustimmen, löste doch das bereits 1994 erschienene Buch Larry Wolffs über die ‚Entdeckung‘ Osteuropas eine Vielzahl weiterer Befassungen mit dem Thema der west-osteuropäischen Begegnungen und Wertungen aus.1 Genauso treffend sind die nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Befunde, das Russland-Bild nordamerikanischer Eliten sei einerseits stark von der Lektüre Tolstois und Dostojewskis geprägt gewesen und andererseits stark orientalisiert, haftet(e) dem größten Reich der Erde doch das Stigma der Rückständigkeit und Minderzivilisiertheit an. Dass nach 1917/18 zudem der Faktor der ideologischen Differenz immens relevant wurde, wird nur am Rande erwähnt. Die alles in allem instruktive Einleitung wurde aber offenbar von den meisten Autor/innen nur partiell gelesen, denn kaum jemand geht den aufgeworfenen Fragen nach. Haften geblieben ist offenbar hingegen ein weiterer Aspekt, welchen die Herausgeberinnen betonen: Ausdrücklich geht es ihnen um „personal interactions and the myriad of emotional and physical experiences that influenced Americans’ knowledge […] about a Russian/Soviet Union that inspired, fascinated, repelled or, sometimes, reeducated them“ (S. 2). Nun ist die Geschichte der Emotion ein interdisziplinärer Zugang zur „modern imagination“ (S. 2) und ein vielversprechendes Untersuchungsfeld, da aber weder Herausgeberinnen noch AutorInnen sich mit irgendwelchen theoretisch-methodischen Einordnungen herumplagen, werden auch diese Aspekte höchst unterschiedlich behandelt. So werden sehr individualisierte, subjektive Blicke auf Russland präsentiert, welche die Einordnung in größere Zusammenhänge vermissen lassen. Und diese Blicke sind zudem die der US-amerikanischen weißen Oberschichten, immerhin männlichen und weiblichen Geschlechts. Kaum einmal wird versucht, die Respons, die Wahrnehmung „der Russen“ mitzudenken oder das Erleben amerikanischer Mittelschichtsangehöriger zu beleuchten; auch diese hat es nämlich zuweilen in die Sowjetunion verschlagen. Und selbst wenn hier Quellenmangel eine Rolle bei der Vernachlässigung gespielt haben sollte, so wäre dies zumindest einer Erwähnung wert gewesen.

Der Band ist in sechs Abschnitte geteilt, die jeweils zwei bis drei Beiträge umfassen. Eine Ausnahme ist der einführende Beitrag von David Engerman. Er zeichnet die Rolle des Historikers und Diplomaten Archibald C. Coolidge bei der Professionalisierung von Russlandstudien in den USA nach. In dem kryptisch überschriebenen Abschnitt „Inside Stories. Utopia, Bohemia, Crucible“ steht in dem Beitrag von Lynn Mally die in den 1920er-Jahren zweimal die Sowjetunion bereisende Theatermacherin Hallie Flanagan im Mittelpunkt. Diese zeigte sich vom staatlich geförderten Polittheater in der UdSSR so stark beeindruckt, dass sie ‚linke‘ Sympathien entwickelte, welche sie später vor den berüchtigten „Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten“ brachten. Sehr spezifische Anverwandlungen und Sympathien für ein „gutes russisches Volk“ (gegenüber einer mitgedachten „bösen sowjetischen Führung“) zeigen die Beiträge von Lisa A. Kirschbaum über den Moskau-Korrespondenten und Verfasser der voluminösen Geschichte der Belagerung Leningrads, Harrison Salisbury, sowie von Frank Costigliola über die Moskauer Jahre des „Father of Containment“, George F. Kennan. Aus diesem Beitrag nimmt man vor allen Dingen aber das Hadern des frischverheirateten Diplomaten Kennan mit der Monogamie (auch angesichts attraktiver Sowjetbürgerinnen) und dem Alkohol mit.

Dass die USA und die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in einen ideologischen Wettbewerb eintraten, sondern auch in den um ‚das bessere Leben‘ als Zeichen der Überlegenheit des jeweils eigenen Systems, soll in zwei Beiträgen dargestellt werden: Emily S. Rosenberg erzählt, insgesamt leider nicht erhellend, über die „uplift mission“ der 1886 in Minsk geborenen und später in die USA ausgewanderten Büstenhalter-Produzentin Ida Cohen Rosenthal, welche sich während einer kurzen Reise in die Sowjetunion 1961 über den traurigen Zustand der volkseigenen Damenunterwäscheindustrie informieren konnte. Der noch am ehesten die amerikanisch-russische Wechselseitigkeit bei Kulturkontakten reflektierende Beitrag stammt von der Osteuropahistorikerin Barbara Walker, die die auch auf materiellen Geschenken basierenden Beziehungen zwischen amerikanischen Journalisten und russischen Intellektuellen genauso beleuchtet wie die Bedeutung eines komplexen Apanage-Systems in der sowjetischen Gesellschaft.

Der Abschnitt „Americans in the Russian Mirror“ ist schlichtweg falsch überschrieben, finden wir dort doch zum einen eine Art Werkstattbericht des Ethnologen David L. Ransel, der russische und tatarische Frauen über ihre Schwangerschaften und Kindererziehung befragt hat, und zum anderen die Vorstudie der mittlerweile veröffentlichten vergleichenden Studie Kate Browns über amerikanische und russische Atomstädte.2 Auch dieser Beitrag ist für sich genommen lesenswert, auch wenn die Naivität der Autorin frappiert: Zu Beginn ihrer Forschung wollte sie beispielsweise nicht glauben, dass ihre Arbeit in beiden Staaten und Verwaltungen gewisse Sicherheitsbedenken ausgelöst habe. Zwei Interviews mit russisch-amerikanischen Grenzgängern, der Filmemacherin Marina Goldovskaja und dem Publizisten John Freedman, sind mit „Living across Cultures“ überschrieben und in diesem Band nicht wirklich gut platziert.

Es erstaunt nicht, dass die in der Einleitung formulierte Agenda am prägnantesten in den Beiträgen der beiden Herausgeberinnen abgearbeitet wurde: Unter „Our Popular Russian Romance“ wird die Befassung Hollywoods mit dem sowjetischen Thema mit ihren Zäsuren sehr lesenswert dargestellt. Chatterjee zeichnet die verschiedenen Facetten auf: Hollywoods Faszination für die „böse“ Führung und das System, das durch amouröse Verbindungen zwischen männlichen Amerikanern und Sowjetbürgerinnen (zumindest im Film) aufgeweicht werden kann und das wohl am gelungensten in dem wunderbaren Greta-Garbo-Film „Ninotschka“ (1939) umgesetzt wurde. Holmgren schließt hier konsequent an, wenn sie die Bemühungen der Filmindustrie um ein neues Sowjetunion-Bild ab 1941 nachzeichnet. Da man nun verbündet war, mussten Stalin und sein rotes Imperium in sympathischeren, menschlicheren Farben geschildert werden. Ziel war es, „to create convincing pictures of a formerly alien Soviet world“ (S. 111).

In seiner Gesamtheit vermag „Americans Experience Russia“ aber trotz einiger gelungener Beiträge nicht überzeugen, da aufgeworfene Fragen wie die nach der Orientalisierung Russlands durch den amerikanischen Blick oder Ambivalenzen von ‚gutem russischem Volk‘ und ‚böser russischer Führung‘ zu wenig konsequent verfolgt wurden. Der überaus stolze Preis von 140 US-Dollar mag überdies potentielle Interessenten abschrecken.

Anmerkungen:
1 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.
2 Kate Brown, Plutopia. Nuclear Families, Atomic Cities, and the Great Soviet and American Plutonium Disasters, Oxford 2013.

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