M. Löffelsender: Strafjustiz an der Heimatfront

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Titel
Strafjustiz an der Heimatfront. Die strafrechtliche Verfolgung von Frauen und Jugendlichen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939–1945


Autor(en)
Löffelsender, Michael
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 70
Erschienen
Tübingen 2012: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XII, 494 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Möckel, Göttingen

In den vergangenen Jahren sind die deutsche Kriegsgesellschaft und die Situation der sogenannten „Heimatfront“ verstärkt in den Fokus der Forschungen zum Nationalsozialismus gerückt. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildete hierbei der von Jörg Echternkamp herausgegebene Doppelband der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, der zentrale Aspekte der deutschen Kriegsgesellschaft der Jahre 1939–1945 aufgegriffen und diskutiert hat.1 In den folgenden Jahren sind hieran anschließend eine Reihe weiterer Veröffentlichungen erschienen, die diese Forschungen weitergeführt und durch neue Perspektiven ergänzt haben. Michael Löffelsenders Dissertation, die sich mit der „strafrechtlichen Verfolgung von Frauen und Jugendlichen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln“ in der Zeit des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzt, unternimmt den Versuch, den Bereich der Strafjustiz in diesen Kontext einer kultur- und sozialgeschichtlichen Analyse der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft einzuordnen. Die eigene Arbeit verortet er dabei an der Schnittstelle zwischen Rechts- und Gesellschaftsgeschichte und möchte sie als „Beitrag sowohl zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus als auch zur Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkriegs“ (S.9) verstanden wissen. In Anlehnung an aktuelle Diskussionen zur NS-„Volksgemeinschaft“ versteht Löffelsender die Strafjustiz dabei als zentralen Akteur der Dynamik von „Inklusion“ und „Exklusion“, wie sie in jüngerer Zeit als zentrales Merkmal der NS-Gesellschaft charakterisiert worden ist.2

Nach einem einleitenden Überblick, in dem Löffelsender vor allem auf den Erfahrungshintergrund des Ersten Weltkriegs als zentrales Motivationsmerkmal der NS-Justiz verweist, strukturieren sich die folgenden Abschnitte entlang eines idealtypischen Prozessverlaufs, der von der Tätigkeit der Staatsanwälte im Vorfeld der Anklageerhebung (Kapitel II), der Hinzuziehung außergerichtlicher Experten (Kapitel III), der konkreten richterlichen Urteilsfindung (Kapitel IV) bis zur Urteilsvollstreckung und den Möglichkeiten eines Gnadenverfahrens (Kapitel V) reichen. Kapitel II und III nehmen demnach zwei Entscheidungsinstanzen in den Blick, die der richterlichen Urteilssprechung vorgelagert waren. Dies galt zum einen für die Rolle der Staatsanwälte, die – wie Löffelsender feststellt – in den „vorgerichtlichen Entscheidungs- und Selektionsprozesse[n]“ (S. 74) eine zentrale filternde Funktion besaßen, indem sie darüber entschieden, welche Delikte überhaupt zum Objekt eines Gerichtsverfahren wurden, vor welchem Gericht diese Verfahren stattfanden und unter welchem der im Nationalsozialismus zum Teil konkurrierenden Gesetze die Anklage jeweils erfolgte. Wie Löffelsender überzeugend darlegt, konnte auf diese Weise ein Fahrraddiebstahl sowohl als nicht weiter zu verfolgendes Bagatelldelikt aufgefasst, zugleich aber auch mit der Begründung einer bewussten Ausnutzung der „Verdunklungsmaßnahmen“ unter der „Volksschädlingsverordnung“ vor einem Sondergericht verhandelt und mit unverhältnismäßig hohen Strafen geahndet werden (vgl. S. 136). Einen ähnlichen Bedeutungszuwachs wie in Bezug auf die Entscheidungsgewalt der Staatsanwälte kann Löffelsender auch für die gerichtsexternen Gutachter feststellen. Zwar bildete die hiermit verbundene „Hinwendung zum Täter“ (vgl. S. 149) keine völlig neue Entwicklung des Nationalsozialismus, fand in der Zeit des Zweiten Weltkriegs jedoch seine Zuspitzung in einem „stark tätertypenbezogenen Kriegsstrafrecht“ (S. 149), das vor allem auf das Persönlichkeitsprofil der Angeklagten und deren vermeintliche biologische Dispositionen rekurrierte.

Den Kern der Untersuchung bildet das IV. Kapitel, das sich mit der konkreten richterlichen Urteilspraxis beschäftigt. Als zentrale Felder der juristischen Verfolgung gegenüber Frauen und Jugendlichen identifiziert Löffelender dabei vor allem unterschiedliche Formen der sexuellen Devianz, Verstöße gegenüber der „Arbeitsdisziplin“ im Krieg sowie Delikte der politischen oder gesellschaftlichen Abweichung. In den meisten Fällen bildete der Krieg dabei keinen vollständigen Einschnitt. Er sorgte aber für eine deutliche Verschärfung der Rechtspraxis sowie eine moralische Aufladung spezifischer Straftaten und Abweichungen. Dies galt beispielsweise für das Phänomen illegaler Abtreibungen, die zwar schon vor 1939 unter bevölkerungspolitischen Argumenten bekämpft und bestraft, im Krieg aber noch drastischer verurteilt und als „Gefahr für das Volk“ klassifiziert wurden. In ähnlicher Weise begründeten die Richter bei Vergehen gegen die „Arbeitsdisziplin“ die Radikalisierung der Strafpraxis unter Hinweis auf die Kriegssituation und ahndeten sie in kriegswichtigen Betrieben mit besonderer Härte. Auf diese Weise konnten frühere Bagatelldelikte wie ein unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit argumentativ in die Nähe der „Wehrkraftzersetzung“ gerückt werden.

Michael Löffelsenders Untersuchung beruht auf der Analyse einer beeindruckenden Anzahl unterschiedlicher Gerichtsverfahren, die im vorliegenden Text nicht detaillierter dargestellt werden können. Stattdessen soll hier auf die zentralen Entwicklungslinien verwiesen werden, die Löffelsender als charakteristisch für die Strafjustiz der Kriegszeit identifiziert. Hierzu gehört unter anderem der deutlich höhere Ermessensspielraum, der sich durch die bewusst offenen juristischen Formulierungen und Generalklauseln der NS-Justiz für viele Akteure ergab. Ein weiteres Merkmal bestand in der starken Fixierung auf die Persönlichkeit der Angeklagten und die hiermit verbundene Bedeutung außergerichtlicher (medizinischer und psychiatrischer) Gutachter, deren Einschätzungen die Richter oftmals bis in den Wortlaut hinein folgten. Vor allem gegenüber weiblichen Angeklagten gingen diese Persönlichkeitseinschätzungen darüber hinaus mit kaum hinterfragten Geschlechternormen und -vorurteilen einher. In einer letzten Argumentationslinie verweist Löffelsender schließlich auf die Eigendynamik der Kriegssituation im Kontext der Strafverfolgung, in deren Kontext bestimmte Delikte überhaupt erst entstanden oder aber eine neue, symbolisch und moralisch aufgeladene Bedeutung erhielten. Auf diese Weise kann Löffelsender sehr überzeugend die Spezifik der nationalsozialistischen Urteilspraxis im Krieg herausarbeiten, ohne deren weiter zurückreichende Traditionslinien aus dem Blick zu verlieren.

Etwas ambivalenter muss dagegen sein Anspruch bewertet werden, auf der Grundlage der dargestellten Quellen einen Beitrag zur gesellschaftsgeschichtlichen Analyse der NS-„Volksgemeinschaft“ leisten zu können. Dies ist zum einen auf die Quellenbasis der Untersuchung zurückzuführen, die fast ausschließlich auf justizinterne Überlieferungen zurückgreift. Aus diesem Grund geraten einerseits die Angeklagten selbst nur selten in direkter Weise in den Blick. Zum anderen kann auf dieser Basis auch die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der zeitgenössischen Urteilspraxis nur sehr eingeschränkt eingeschätzt werden. Vor allem die These, dass die Bedeutung der Justiz darin bestanden habe, die Grenzen der „Volksgemeinschaft“ zu definieren und die Dynamik von Inklusion und Exklusion in der konkreten juristischen Praxis auszuformulieren, muss in Hinblick auf die von ihm dargestellten Quellen eher mit Skepsis betrachtet werden. In vielen Fällen verweisen seine Quellen stattdessen gerade nicht auf feste Regeln der Inklusion und Exklusion, die in den verschiedenen Urteilen in gleicher Weise zur Anwendung gekommen wären. Stattdessen lag die Bedeutung des Volksgemeinschaftsmythos wohl vor allem darin, dass er ein bewusst nebulöses Konzept blieb, das auch in der juristischen Praxis oftmals in willkürlicher Weise als radikalisierendes Argument in Anspruch genommen werden konnte. Ähnlich wie es Löffelsender auch für andere Begriffe darstellt, bildete die Rede von der „Volksgemeinschaft“ demnach vor allem eine weitere Generalklausel, deren primärer Zweck darin bestand, den argumentativen Handlungsspielraum der politischen und juristischen Instanzen bis an die Grenzen der Willkür zu erhöhen.

Insgesamt lässt sich für Löffelsenders äußerst instruktive Arbeit auf eine dreifache Kontextualisierung verweisen, die er zum Teil schon selbst als weiter zu verfolgende Forschungsfragen aufgreift: Zum einen verweist er auf die synchrone Perspektive, in der für die Zeit des Zweiten Weltkriegs auf andere Gesellschaften – wie etwa nach Großbritannien oder Japan – geschaut werden könnte, um auf diese Weise nach den spezifischen Merkmalen der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft zu fragen. In diachroner Perspektive könnte darüber hinaus noch genauer nach der Bedeutung des Kriegsbeginns im Jahr 1939 gefragt und jene Traditionslinien herausgearbeitet werden, die schon auf die ersten Jahre der NS-Herrschaft sowie auf noch weiter zurückreichende Traditionen zurückweisen. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch vor allem die von Löffelsender selbst immer wieder angemahnte Kontextualisierung der juristischen Praxis innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in der Zeit des Krieges. Zu fragen ist demnach nicht nur nach den justizinternen Argumentationsstrukturen und den politisch formulierten Vorgaben, sondern auch nach deren gesellschaftlicher Wahrnehmung und Akzeptanz sowie den Handlungs- und Argumentationsspielräumen der vor den Gerichten angeklagten Protagonisten. Michael Löffelsenders Arbeit liefert hierzu eine Reihe wichtiger Ansatzpunkte. Die von ihm proklamierte Verbindung von Rechts- und Gesellschaftsgeschichte zur Analyse der nationalsozialistischen Kriegsgesellschaft ist demnach als ein äußerst vielversprechender Ansatz zu bewerten, der auch für weitere Forschungen ein großes Forschungspotenzial beinhaltet.

Anmerkungen:
1 Jörg Echternkamp (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd.9/1: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben, Stuttgart 2004 und Bd.9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939–1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, Stuttgart 2005.
2 So vor allem: Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919–1939, Hamburg 2007.

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