B. Stråth: Sveriges historia

: Sveriges historia: 1830–1920. . Stockholm 2012 : Norstedts, ISBN 978-91-1-302442-4 712 S. Skr 325

: Sveriges historia: 1920-1965. . Stockholm 2012 : Norstedts, ISBN 978-91-1-302390-8

: Sveriges historia: 1965-2012. . Stockholm 2013 : Norstedts, ISBN 978-91-1-302391-5

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Mohnike, Département d’études scandinaves, Université de Strasbourg

„An diesen Büchern haben wir 15 000 Jahre lang gearbeitet“, heißt es in den Werbematerialien des Stockholmer Verlages Norstedts, um die neue Geschichte Schwedens (Sveriges Historia) zu präsentieren. Es ist ein prachtvolles, achtbändiges Werk, dessen Buchrücken im Regal eine in Nebel gehüllte schwedische Naturlandschaft evozieren. Jeder Band umfasst zwischen 500 und 700 Seiten, enthält zahlreiche Illustrationen – alles in allem 4.854 Seiten Nationalgeschichte, die circa 13.000 vor Christus mit dem Ende der Eiszeit beginnt und 2012 ihr vorläufiges Ende findet. Es handelt sich um sorgfältig gebundene und ausgestattete Bände, die zum Blättern einladen, zum Querlesen, Eintauchen, zum Nachdenken, ja und auch zum Schwelgen und Träumen – ein wahrhaft heroischer Kraftakt, an dem zahlreiche namhafte schwedische Historiker unter der Leitung des Lundenser Geschichtsprofessors Dick Harrison gearbeitet haben, mit einem Wort: Ein Standardwerk für jedes gebildete Haus.

All dies ist sicherlich bewundernswert, aber – es liegt ein wenig der Geruch des langen 19. Jahrhunderts über dem Projekt. Deutlich ist der Wille eine kulturelle und nationale Biographie Schwedens als kollektives Subjekt zu schreiben – es ist die Geschichte, an der „wir 15 000 Jahre gearbeitet haben“, das heißt wohl: „wir Schweden, die wir seit 15 000 Jahren hier leben“. Es handelt sich so um einen historiographischen Ansatz, der so nach der Diskussion der Zulässigkeit derart in die Vergangenheit reichender großer nationaler Erzählungen in den letzten Jahrzehnte erstaunt und verblüfft. Schweden, eine Nation seit 15 000 Jahren?

Natürlich liegen die Dinge bei genauerem Hinsehen nicht so einfach, wie ich es hier einleitend formuliert habe, schließlich hat nicht zuletzt auch die schwedische Geschichtswissenschaft rege an den methodologischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte teilgenommen. Dies zeigt sich schon in der Struktur und Anlage des Werkes. So wird in allen Bänden durch die jeweiligen Autoren auf die Gemachtheit von Geschichte, auf die von der subjektiven Perspektive des Historikers und den aktuellen gesellschaftlichen Interessen gefärbte Erzählweise von Geschichte hingewiesen. Zudem werden die um zeitliche, kulturelle oder regionale Knotenpunkte (um auf die Begrifflichkeit von Linda Hutcheon zurückzugreifen) gruppierten Erzählstränge immer wieder durch thematische Kapitel, auch durch farbiges Papier vom Rest abgehoben, unterbrochen, um die Mehrstimmigkeit der Geschichte zu betonen. Es handelt sich dabei nicht nur um politische Geschichte, sondern auch Sozial-, Kultur-, Ideengeschichte mit postkolonialen oder von der Genderforschung inspirierten Einschlägen. Dennoch, ein gewisses Unbehagen bleibt, und dies möchte ich im folgenden ergründen. Dabei gehe ich genauer auf die drei letzten Bände ein, die mir hier zur Rezension vorliegen und die die Geschichte der Formierung des modernen Schwedens als Nation, Staat und Kultur seit 1830 erzählen.

Der erste dieser drei Bände, koordiniert und zu großen Teilen geschrieben von Bo Stråth, einen ausgewiesenen Kenner des nation building im Norden, beschreibt die Zeit von 1830 bis 1920, also die Zeit von den revolutionären Juli-Unruhen in Paris und ganz Europa bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und der erstmaligen Übernahme der Regierungsverantwortung durch die schwedischen Sozialdemokraten. Er ist in drei große Teile geteilt, die die Geschichte der Periode zunächst als politische, dann als ökonomische sowie schließlich als kulturelle Umstrukturierung der Gesellschaft zeichnen. Bo Stråth betont aber einleitend und auch im laufenden Text immer wieder, dass diese drei Bereiche interagieren, dass die Industrialisierung von Land und Stadt Einfluss hatte auf die Kulturproduktion und die Politik und umgekehrt. Das Leitmotiv ist das des Fortschritts, das mit der Suche nach der Vergangenheit korreliert – Schweden wurde kartographiert, dokumentiert, statistisch erfasst, aber auch auf einen Zeitlauf projiziert: Die Suche und Konstruktion der heroischen Wikingerzeit und so weiter diente gleichzeitig der Schaffung nationaler Identitätsmuster wie auch der Akzentuierung der Möglichkeit von Entwicklung und Veränderung. Statt des Königs als zentraler Repräsentanz des Staates rückten immer größere Teile der Bevölkerung als „Volk“ in den Mittelpunkt der Gesellschaft: zunächst wohlhabende Männer, spät im 19. Jahrhundert auch Frauen und schließlich immer stärker auch die ärmeren Schichten, die schließlich durch Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie in die Nation integriert wurden. Neben dieser „inneren Geschichte“ Schwedens spielt für Stråth auch immer wieder das Internationale eine Rolle, die Definition des Eigenen durch die Anforderungen und Missverständnisse des Anderen. Rassentheorie, Tourismus, Kolonialismus, aber auch Neutralitätspolitik und Sozialistische Internationale spielten auf der internationalen, aber auch nationalen Bühne eine entscheidende Rolle für das sich entwickelnde und verändernde Schweden, dessen Telos in Stråths Geschichte das Schweden der Sozialdemokratie war.

Hier setzt der zweite Band an. Für ihn zeichnet Yvonne Hirdmann, die viel zur kritischen Aufarbeitung des Wohlfahrtsstaates geleistet hat, unter Mitarbeit von Urban Lundberg und Jenny Björkmann verantwortlich. Er beschreibt jene Epoche, in der der schwedische Staat unter Federführung der Sozialdemokraten zu jener wohlfahrtsstaatlichen Modellgesellschaft umgebaut wurde, die noch immer unser Bild von Schweden prägt. Dieser Band geht stärker chronologisch vor; die verschiedenen Kapitel summieren dabei verschiedene Aspekte der jeweiligen Epoche. Dabei bilden Beobachtungen zu politischer Geschichte, Konsum-, Kunst-, Gendergeschichte ein facettenreiches Panorama, das dem Leser die historische Komplexität nahebringt. Wir entdecken die Gleichzeitigkeit von Frauen- und Arbeiterwahlrecht mit Jazz und neuen Geschlechtermodellen in Roman, Kunst und Film, von Hygiene und Euthanasie, Elektrizität und Sozialer Ingenieurskunst, Aufrüstung und Neutralität. Schwedische Geschichte erscheint ambivalent, Schatten- und Lichtseiten werden gleichberechtigt berücksichtigt und, wenn auch weniger als in Bo Stråths Band, in einen internationalen Kontext gestellt.

Der dritte Band schließlich wurde von Kjell Östberg unter Mitarbeit von Jenny Andersson koordiniert und zum Großteil geschrieben. Er analysiert jene Periode, in denen der schwedische Wohlfahrtsstaat zunächst als gegeben angesehen wird und so seit dem Ende der 1960er Jahre zum Reibungspunkt für jüngere Generationen wird. Gegen Ende des Kalten Krieges gerät Schweden in eine Wirtschafts- und Identitätskrise, die zum Umbau des bisher tendenziell kollektivistischen Gesellschaft zu einem mehr auf individualistischen, säkularisierten und von liberalistischen Ideen inspirierten Werten basiertes Ideal führt. In der Erzählstruktur entspricht der Band in vielem dem vorherigen – in chronologisch geordneten, etwa je ein Jahrzehnt umfassenden Kapiteln werden politische, wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte mit einander konfrontiert, vereint, verwoben, so dass ein ziselierter Teppich der schwedischen Gesellschaftsgeschichte aus verschiedenen, ineinander gesetzten kleinen Geschichten gewoben wird. Den roten Faden bildet hier denn auch, wie in den anderen Bänden, Schweden als Nation, und natürlich spielt der internationale Kontext eine wichtige Rolle, hier jedoch mehr als Spiegel und Bezugspunkt für Veränderungen, die man vereinfachend als den Wandel Schwedens von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland beschreiben kann.

Die Vielstimmigkeit des historischen Erzählens der drei Bände könnte also, im Gegensatz zur Verlagswerbung und der Anlage des Werkes, als Versuch gewertet werden, den Fallen des vom 19. Jahrhundert geerbten Genres zu entgehen – die vielen Geschichten ersetzen die große. Nichtsdestotrotz bleibt auch der eingangs zitierte Traum von der großen Geschichte artikuliert. In ihrer Einleitung zum abschließenden Band des Geschichtswerkes präsentieren uns Östberg und Andersson einen geschichtsphilosophischen Wurf, der die große Geschichte des 15 000 Jahre alten Schwedens aktualisiert. Sie interpretieren hier die gesellschaftlichen Veränderungen und Umbrüche der letzten 50 Jahre als das Überschreiten des Klimax eines Einigungs- und Homogenisierungsprozesses, der in den vorherigen sieben Bänden beschrieben wurde und somit seit dem Beginn der schwedischen Frühgeschichte bis in die 1960er Jahre reicht: „Diese Entwicklung hin zu Zentralismus und Einheit erreichte ihren Klimax in den 1960er Jahren. [...] Der starke Staat hat zu wachsen aufgehört, Schweden ist eine multikulturelle und säkulare Gesellschaft, kollektive Lösungen wurden von individuellen Idealen herausgefordert“ (S.13). Hier wird der Versuch zumindest dieser beiden Autoren und des Gesamtherausgebers der Reihe deutlich, eine große Erzählung Schwedens als Nation zu erzählen, die mir unzulässig vereinfacht erscheint.

Alle Bände werden von umfangreichen und nützlichen Bibliographien abgeschlossen. Einziger Wermutstropfen auch hier – sie ist allzu schwedisch, zu national: Sie führen fast ausschließlich schwedischsprachige Forschung auf, Ausnahmen bilden nur einige englischsprachige Publikationen, zumeist von Schweden in Schweden publiziert, sowie vereinzelte dänische und norwegische Titel. Forschungsbeiträge in anderen Sprachen werden ignoriert; andere Forschungstraditionen erscheinen dadurch als irrelevant – da sie nicht zu „uns“ gehören, die wir „15 000 Jahre daran gearbeitet haben“?

Natürlich wäre es unzulässig, diesen Vorwurf nationaler Nabelschau jedem der Beiträger zu machen – je nach methodisch-kritischem Bewusstsein durchbrechen sie mehr oder weniger deutlich die vorgegebenen Rahmen der großen Geschichte – insbesondere Bo Stråth scheint mir hier vorbildlich, vielleicht auch, weil nation building sein Forschungsthema und auch das seines Bandes ist. Insgesamt ist es ein wunderbares und jedem an Schwedischer Geschichte interessierten Leser zu empfehlendes Werk, eine Summe der bisherigen Forschung.

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