S. Kmec u.a. (Hrsg.): Lieux de mémoire au Luxembourg

Titel
Lieux de mémoire au Luxembourg II: Jeux d’échelles. Erinnerungsorte in Luxemburg II: Perspektivenwechsel.


Herausgeber
Kmec, Sonja; Péporté, Pit
Erschienen
Luxembourg 2013: Editions Saint-Paul
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Oschema, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

"Judd mat Gaardebounen" – ein Nationalgericht des Luxemburgers? Schwierig zu sagen, denn nicht nur auf „Lëtzebuerger Buedem“ verspeist man gerne diese Kombination aus geräuchertem Schwein und Bohnen, sondern auch in Lothringen und im Saarland (S. 189). Zudem sind ‚Nationalgerichte‘, wie Rachel Reckinger zeigt, auch chronologischen Konjunkturen unterworfen: Was eine Broschüre der Tourismuszentrale noch 1998 als typisches Gericht führte, kann in den späteren Auflagen verschwunden sein.

Als Appetithäppchen verdeutlicht das Beispiel die Programmatik des Bandes, die Sonja Kmec und Pit Péporté in ihrer Einleitung umreißen (S. 5–11): Konzise greifen sie zunächst kritische Rückfragen zum Vorgängerband auf (der 2007 in erster Auflage erschien und ‚nationalen‘ Erinnerungsorten Luxemburgs gewidmet war), um dann zu methodischen Vorbestimmungen überzugehen. Der jetzt vorliegende Band will den nationalen Zuschnitt auflösen, indem er nicht einfach zu einer vagen europäischen oder transnationalen Verortung übergeht, sondern die vielfältigen Möglichkeiten der Bezugnahme auf Gegenstände vorführt, die zwar in Luxemburg verankert werden können, aber zugleich die nationale Grenze überschreiten.

Die – angesichts der reichen Bebilderung – buchstäblich bunte Auswahl von vierzig Beiträgen, eröffnet sodann in bündiger Kürze ein weites Panorama. Der spezifischen Situation Luxemburgs entsprechend, liegt jeweils etwa die Hälfte der Texte auf Deutsch und Französisch vor, mit Ausnahme von Kristine Horners Text über „Luxembourg American Cultural Heritage“ (S. 121–126) in englischer Sprache. Da die Herausgeber weder einer chronologischen, thematischen oder gar alphabetischen Ordnung folgen mochten (S. 9), ließen sie sich gewissermaßen assoziativ durch die Inhalte führen. Hieraus resultiert ein durchaus stimmiges Fortschreiten zwischen den einzelnen Texten, ohne dass von einem festen ‚roten Faden‘ oder gar einer Lektüreordnung die Rede sein könnte.

Die lockere Verknüpfung der Texte, die mehr als ‚Vignetten‘ erscheinen, denn als wissenschaftlich-trockene Analysen, spiegelt den Charakter des Bandes treffend wider: Zwar ist er durch die Diskussionen einer Tagung des Jahres 2006 inspiriert1, schon seine Gestaltung weist ihn aber als Lesebuch aus, das mit zahlreichen Bildern und prägnanten Texten zu einem Spaziergang durch Luxemburg einlädt. Dementsprechend sind auch die Anmerkungen an das Ende des Buchs verbannt, auf jeden Text folgen knappe Literaturhinweise.

Dass man die Auslagerung der Belege bei der Lektüre nicht weiter beklagt (zumindest ging es dem Rezensenten so), darf als Indiz für die gelungene Erfüllung der Zielsetzung gelten. Gerne folgt man den Autorinnen und Autoren auf dem Weg, der neben erwartbaren ‚Orten‘, wie dem „Steuerparadies“ (S. 85–90), der „Festung“ (S. 91–96) und „Schengen“ (S. 97–102), auch Ziele bereithält, die dem mit Luxemburg weniger vertrauten Leser nicht so geläufig sein dürften: das „Maulkorbgesetz“ (S. 31–36) von 1937, die „Republik“ (S. 25–30) und das „Kirchberg“-Quartier (S. 73–78) mit den Gebäuden der EU-Institutionen, aber auch die luxemburgischen Schmalspurbahnen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: „Jhangeli, Chareli & Benni“ (S. 145–150). Wie auch die regional oder lokal bezogenen ‚Orte‘ der „Kulturfabrik“ (S. 55–60) oder der „Produits culinaires régionaux“ (S. 181–186), steht hier unmittelbar die luxemburgische Verortung vor Augen. Zugleich sind die Gegenstände in einem strikt nationalen Rahmen nicht angemessen zu fassen, da sie mal mehr, mal weniger buchstäblich die Grenze überschreiten, wie etwa im Fall des Kernkraftwerks „Cattenom“ (S. 49–54) mit seiner Lage zwischen Luxemburg, Frankreich und Deutschland.

Mit Deutschland und Frankreich sind die wohl eindrücklichsten, zuweilen aber auch überraschendsten Beispiele des Bandes verbunden: So sind nicht nur die Konzentrationslager Hinzert (S. 37–42) und Ravensbrück (S. 43–48) auf ganz unterschiedliche Weise mit Luxemburg verknüpft – einmal durch die geographische Nähe, einmal durch die Deportation einer hohen Zahl an Luxemburger/innen und die späte Wiederbelebung als Erinnerungsort –, sondern auch die Kommune von Paris (S. 13–18). Auch „Goethe“ (S. 217–222) und „Victor Hugo“ (S. 211–216) sind als Erinnerungsorte zu entdecken, die in Luxemburg eigenständige Wurzeln schlagen konnten.

Der letztgenannte Literat, der natürlich viel mehr ist als nur das, fügt sich in einen thematischen Block rund um Vianden ein. Geradezu exemplarisch führt dieser Komplex das Kerninteresse des Bandes vor, nämlich den titelgebenden „Perspektivenwechsel“ (passender gibt dies allerdings das französische „jeux d’échelles“ wieder): Von der Gräfin „Yolanda von Vianden“ (S. 199–204), deren überlieferte Lebensgeschichte zwischen historischer Darstellung und literarischer Verklärung schwankt, über die „Burg Vianden“ (S. 205–210) bis hin zu „Hugo“ ist die chronologische und geographische Polyvalenz und Formbarkeit der Erinnerung nachzuvollziehen. Dies beginnt bei der Lebenserzählung „Yolanda von Vianden“ Heinrichs von Veldenz mit ihrem regionalen Bezug auf eine Herrschaft, die in ausgesprochener Konkurrenz zu Luxemburg stand. Der vernakularsprachlich verfasste Text selbst und sein ältester Zeuge, der „Codex Mariendalensis“ (14. Jahrhundert), wurden ab dem frühen 20. Jahrhundert dann zum Ausgangspunkt der (national verstandenen) luxemburgischen Sprach- und Literaturgeschichte stilisiert. Damit gerieten die nationsübergreifenden Bezüge der an regionalen Dialekten interessierten Forschung des 19. Jahrhunderts ebenso in den Hintergrund wie die weit ausgreifende katholische Erinnerung, für die Yolanda ein universal gültiges Exempel einer frommen Frauenfigur bot. Heute sind Yolanda und ihre Lebensbeschreibung zwischen diesen Polen des Nationalen, des Lokalen und des nicht räumlich determinierten Religiösen zu verorten. Auch die Burg von Vianden steht seit dem 19. Jahrhundert zwischen lokalen und nationalen Bezügen. Zugleich erschienen ihre Überreste dem Europäer Victor Hugo, der sich 1871 in Vianden aufhielt, als schützenswerte, „wunderbare Ruinen“ (S. 216).2

Derlei Vexierspiele zwischen dem lokalen Rahmen und europäischer Weite lassen sich an weiteren Beispielen nachvollziehen, die charakteristische Entwicklungen reflektieren: Das 19. und frühe 20. Jahrhundert erscheint als Periode der nationalen Verortung zahlreicher historischer Gegenstände und es überrascht wenig, dass Figuren wie „Peter von Aspelt“ (S. 223–228) oder dem „Heilige(n) Willibrord“ (S. 229–234) nach 1945 zuweilen eine europäische Rolle zugewiesen wurde. Die Nation kommt damit in den letzten Jahrzehnten diskreter daher, bleibt aber in der zunehmenden Pluralität der Erinnerungsbezüge neben dem europäischen Rahmen präsent, während zugleich verstärkt lokale und regionale Bezüge hinzukommen. All dies ist nicht sonderlich überraschend, lässt sich dem breiten Spektrum der Beiträge aber in eingängiger Weise entnehmen, die damit die von den Herausgebern formulierte Vielfalt der Bezugnahmen auf Erinnerungsorte einholen (S. 8f.). Eine systematische Zusammenschau, welche die Befunde über die reine Feststellung der Ambivalenz und Offenheit von Erinnerungsorten hinaus zu systematisieren versuchte, bietet der Band aber leider nicht.

Somit bleibt ein bunter Strauß, der Appetit auf die Lektüre machen kann – zumal einige spannende Blüten hier noch gar nicht benannt wurden, wie etwa die Präsenz von Luxemburgern in „Belgisch-Kongo“ (S. 133–138), die „Herzöge von Burgund“ (S. 103–108) und weitere. Selbstverständlich variiert die Qualität der einzelnen Texte; vor allem aber zeigen sich auch systematische Probleme und Chancen, die über den reinen Zufallsbefund hinausführen: So erhalten mehrere Beiträge eine „faktographische Schlagseite“, da sie dem Leser zunächst eine (ebenso nötige wie hilfreiche) Einführung zum Gegenstand selbst gegeben. Angesichts der Kürze der Texte vermittelt die Lektüre damit aber mehr als einmal den Eindruck von Überblicksartikeln, ohne dass die Konzentration auf den ‚Erinnerungsort‘ unmittelbar klar würde. Die Herausgeber greifen dies in ihrer Einleitung selbst auf (S. 9) – ihre skeptische Frage, ob alle der aufgegriffenen Gegenstände „tatsächlich [...] ein ‚lieu de mémoire‘“ seien, geht im konkreten Fall aber vielleicht am Problem vorbei. Natürlich wird weiter zu diskutieren sein, was einen Erinnerungsort ausmachen soll. Im vorliegenden Band, so scheint es, sind die Schwierigkeiten aber wohl eher mit der Frage der Perspektivierung verbunden. Damit sollte man den Band als das nehmen, was er sein möchte: Ein Lesebuch, das interessante Schneisen in eine immer noch aktuelle Debatte schlägt und zugleich am ‚Laboratorium Luxemburg‘ neue Wege zur Erweiterung der Perspektiven zwischen der irreführenden Alternative einer rein lokalen, nationalen oder europäischen Verortung der Erinnerungskultur eröffnet.

Anmerkungen:
1 Benoît Majerus u.a. (Hrsg.), Dépasser le cadre national des „lieux de mémoire“ / Nationale Erinnerungsorte hinterfragt, Brüssel 2009.
2 Diese Bemerkung findet sich bei Hugos Eintrag ins Besucherregister der Burg (heute Archives du Palais grand-ducal), der hier im Auszug abgebildet ist.

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