A. Fedyashin: Liberals under Autocracy

Cover
Titel
Liberals under Autocracy. Modernization and Civil Society in Russia, 1866–1904


Autor(en)
Fedyashin, Anton A.
Erschienen
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 22,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kirsten Bönker, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Universität Bielefeld

Liberale Werte und der Liberalismus als politische Kraft sind in der heutigen russischen Gesellschaft fast bedeutungslos. Sie sind durch die ökonomischen Brachialreformen Anfang der 1990er-Jahre in Verruf geraten, weil sich die Wirtschaftsexperten und Reformbefürworter als Exponenten eines neuen Liberalismus präsentierten. Viele Menschen lehnten ihn als aus dem Westen importiertes Konzept ab und sehnten sich stattdessen nach der sozialen Sicherheit der Sowjetunion.

Anton F. Fedyashins 2012 als Buch veröffentlichte Dissertation ist ein Beitrag zu dieser Debatte um den Liberalismus in Russland. Er will das historische Erbe beschreiben und mögliche Entwicklungen aufzeigen. Daher fragt er nach den Inhalten der liberalen Bewegung, ihren Theorien und Praktiken während der sozio-ökonomischen Transformationsprozesse des Zarenreiches und wendet sich dabei dem Monatsjournal Westnik Jewropy (Der Bote Europas) und seinen intellektuellen Trägern zu. Die Zeitschrift erschien von 1866 bis 1918 und war mit einer Auflage von bis zu 8.000 Exemplaren das wohl einflussreichste Sprachrohr einer Gruppe von Liberalen, die den Semstva, den Organen der lokalen und regionalen Selbstverwaltung, nahe stand.

Fedyashin nähert sich seinem Gegenstand mit einer sehr weiten, an die Konzeption des Westnik angelehnten Arbeitsdefinition des Liberalismus. Während andere russische Liberale jener Zeit westliche Modelle, Naturrechtstheorien, Neukantianismus, das Christentum, Sozialismus und Marxismus in den Mittelpunkt stellten, bezog sich der Westnik allein auf die Semstwo-Organe (da ein nationales Parlament bis 1905 fehlte). Deren Streben nach sozio-ökonomischem Fortschritt auf lokaler Ebene war nach Fedyashin der Kern des russischen Liberalismus, wie er sich im Westnik Jewropy zeigte (S. 13). Tatsächlich kommt Fedyashin im Laufe seiner Darstellung wiederholt auf die Bedeutung der lokalpolitischen Praktiken zu sprechen. Einen konkreten Bezug zu Akteuren vor Ort, zu Semstwo- und Stadtdumaverordneten, zu Semstwo- und städtischen Angestellten oder zu Mitgliedern wohltätiger Vereine stellt der Autor nicht her. Ebenso bleibt unklar, welchen analytischen Mehrwert diese unpräzise und kryptische Definition gegenüber anderen liberalen Konzepten hat.

Fedyashin gliedert seine Arbeit in drei größere Abschnitte. Der erste Teil beschreibt die Biographien der vier Herausgeber Michail Stasjulewitsch, Alexandr Pypin, Konstantin Arsenjew und Leonid Slonimskij. Sie entstammten sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnissen und nahmen unterschiedliche akademische Ausbildungswege. Dennoch fanden sie durch ihr Interesse, gesellschaftliche Entwicklungen zu reflektieren und das politische Leben in Russland zu gestalten, zueinander.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Gründung des Journals und seiner konzeptuellen Entwicklung. Nach dem Tod Nikolaus I. 1855 erlebte die Presseöffentlichkeit einen erheblichen Aufschwung; der Westnik wurde Ende der 1860er-Jahre zu einer wichtigen liberalen Stimme neben den einflussreichen Organen Otetschestwennye Sapiski von Andrej Krajewskij und Moskowskije Wedomosti von Michail Katkow. Das Journal setzte sich mit den zentralen Denkströmungen der Zeit, dem Populismus und Marxismus, auseinander und entwickelte ‚liberale‘ Ansichten, die zumeist auf pragmatischen, an der Arbeit des Semstwo orientierten Erwägungen beruhten. Die Herausgeber positionierten sich in umstrittenen Themenfeldern wie der Verteilung des Landbesitzes, der polnische Frage oder pan-slawischen Expansionsbestrebungen, wobei sie einen unreflektierten Chauvinismus ablehnten. Fedyashov beschreibt, wie das Journal dem literarischen Feld ein publizistisches Forum bot und literarische Texte als politisches Artikulationsmittel einsetzte.

Der dritte Abschnitt präsentiert, wie der Westnik Jewropy sein Liberalismusverständnis als ein an lokalpolitischen Praktiken orientiertes Konzept entwickelte. Der „Bote“ sah hier ein hervorragendes Betätigungsfeld, die sozio-ökonomische Modernisierung der Gesellschaft voranzutreiben, da gesellschaftlicher Wandel von ‚unten‘ kommen und bei der bäuerlichen Bevölkerung ansetzen müsse. Im Zentrum stand ein vielfältiges Interesse, das sich unter anderem auf die Reorganisation der bäuerlichen Landwirtschaft, der Steuer- und Schulpolitik oder die Entwicklung der russischen Volkswirtschaft im globalen Kontext bezog. Nach 1905 lenkte das Journal jedoch sein Interesse stärker auf die Staatsduma, die lokalen Angelegenheiten traten zurück.

Das alles ist spannend und für das Verständnis der politischen Geschichte des ausgehenden Zarenreiches von zentraler Bedeutung. Doch so neu ist es im Einzelnen, anders als der Autor behauptet, nicht. Trotz umfangreicher Forschungen sieht Fedyashin ein nennenswertes Forschungsdefizit darin, dass kein ausreichend differenziertes und abwägendes Bild des Liberalismus im Zarenreich gezeichnet worden sei. Zu Unrecht sei ihm, ähnlich wie dem deutschen und österreichischen Liberalismus, das Stigma eines Sonderwegs angeheftet worden (S. 7). Der Westnik Jewropy sei als Angelpunkt liberaler Konzeption und der entstehenden Öffentlichkeit bislang nicht entsprechend gewürdigt worden (S. 6). Das ist aus ideengeschichtlicher Sicht nicht ganz falsch, obwohl die meisten der von Fedyashin genannten Autoren – wie auch andere, die er nicht erwähnt –, den Westnik als Quelle herangezogen und seine Konzeptionen ausgewertet haben. Die Schwerpunkte, mit denen der Autor den Forschungsstand präsentiert und die Auswahl seines Untersuchungsgegenstandes rechtfertigt, sind zum Teil schlicht überholt: Sie zielen eher eng auf die liberale Bewegung und ihre vergleichsweise kleine hauptstädtische Elite, ohne angrenzende Untersuchungsbereiche in der Gesellschaft des Zarenreiches angemessen zu berücksichtigen. Zudem beschränkt sich der Autor in seiner Rezeption auf die anglo-amerikanische und russische Literatur.

Auch methodisch und konzeptionell lässt das Buch vieles offen. Fraglos war der Westnik Jewropy ein prägendes Organ in der politischen Landschaft des ausgehenden Zarenreiches und verdient daher eine eigenständige Analyse. Jedoch verbindet Fedyashin mit der Auswahl seines Untersuchungsgegenstandes und seiner Vorgehensweise einen weder explizierten noch reflektierten methodischen Vorgriff auf die Bedeutung eines kleinen Kreises von Akteuren, ihrer Ideen und Publikationen für die Gesellschaftsgeschichte. So bezieht sich Fedyashin überraschenderweise nicht auf die intellectual history, aus der er konzeptionelle Anregungen hätte gewinnen können. Vielmehr schreibt er die Höhenkammgeschichte eines spezifischen liberalen Konzepts. Auch wenn er einzelne bereits bekannte Aspekte zu einem dichten Gesamtbild zusammenfügt, bleibt es doch unverbunden mit einer Geschichte seiner Wirkung und konkreten Umsetzung vor Ort. Obwohl Fedyashin die lokale Praxisorientierung des Westnik Jewropy betont, erfährt man nichts über lokale Diskussionen oder über das Publikum des Journals. Der Leser kommt schlicht nicht vor.

Darüber hinaus bleibt die Einordnung in die Gesellschaftsgeschichte des ausgehenden Zarenreiches unbefriedigend, da Fedyashin keinen besonderen Wert auf präzise Begriffe legt. So ruft er bereits im Untertitel die „civil society“ auf, ohne dass das umstrittene Konzept erläutert wird. Sie bleibt eine „black box“ und wird als gegeben vorausgesetzt. Gleichfalls leuchtet nicht ein, warum der Autor dem Westnik Jewropy wiederholt „extra-parliamentary liberal values“ bzw. eine „extra-parliamentary social significance“ zuschreibt und ihn in den Kontext eines „extra-parliamentarism“ bzw. einer „extra-parliamentary civil society“ stellt (S. 6, 8, 125, 197, 201). Er zielt darauf, dass es bis 1905 kein nationales Parlament gegeben hat. Warum er allerdings nicht versucht, diese Begriffe zu systematisieren und auf das Semstwo oder die hier nicht erwähnten Stadtverordnetenversammlungen anzuwenden, bleibt unklar.

Der Leser findet in dem Buch einen schnellen Zugriff auf zentrale liberale Argumente im politischen Diskurs des ausgehenden Zarenreiches. Dennoch hätte dieses wichtige Thema einen deutlich differenzierten methodischen Zugriff, mehr inhaltliche Kontextualisierung und einen klaren Bezug zu Akteuren und Praktiken jenseits des elitären Zirkels verdient.

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