K.-P. Friedrich (Bearb.): Verfolgung und Ermordung Bd. 9

Cover
Titel
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Band 9: Generalgouvernement August 1941–1945


Herausgeber
Friedrich, Klaus-Peter
Reihe
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
878 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Lehnstaedt, Deutsches Historisches Institut Warschau

Die auf 16 Bände angelegte Edition „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (VEJ) schreitet voran. Sieben Teile sind inzwischen erschienen, wobei der vorliegende Band die Nummer 9 trägt, also die Reihenfolge nicht ganz eingehalten wurde. Ganz im Sinne der Herausgeber, dem Bundesarchiv, dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und den Lehrstühlen von Ulrich Herbert und Gertrud Pickhan (Götz Aly ist inzwischen aus diesem illustren Kreis ausgeschieden), geht damit eine wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit einher. Dazu zählen beispielsweise Dokumentenlesungen im Radio oder Buchvorstellungen im Ausland. Im besten Sinne richtet sich diese Edition an einen weiten Leserkreis: Die ausgewählten Dokumente sind repräsentativ für Opfer, Täter und Zuschauer, aber auch in ihren Gattungen; sie sind umfassend kommentiert in einer Weise, die sie auch interessierten Laien erschließen; beigegebene Karten und ausführliche Einleitungen ergänzen das Material zusätzlich.

Gar nicht passen will dazu aber der nur prohibitiv zu nennende Preis von 60 Euro, den der Oldenbourg-Verlag aufruft. Zweifellos liegt hier ein auch buchbinderisch hochwertiges Produkt vor, aber bei einem derartigen Prestigeprojekt sollten sich die Herausgeber sowie insbesondere der Geldgeber Deutsche Forschungsgemeinschaft die Frage nach der Veröffentlichungsform stellen. Damit soll keinesfalls einer Internetpublikation das Wort geredet werden, denn so lässt sich die hier angestrebte Öffentlichkeit sicher nicht erreichen. Gleichwohl zeigen die VEJ exemplarisch, wie sehr die Geschichtswissenschaft mit ihrem Publikationsmodell auf dem Holzweg ist: Dank üppiger Zuzahlungen wird von den Verlagen ohne Blick auf potentielle Abnehmer gedruckt – und lediglich an Fachbibliotheken verkauft. Dabei hätten diese Reihe und der vorliegende Band viele Leser – und nicht nur Fachleute – mehr als verdient.

Im vorliegenden Band sind hier 296 Dokumente auf fast 900 Seiten ediert – in vielen Fällen bisher unveröffentlichte Quellen aus dem Zeitraum zwischen August 1941 und Februar 1945 –, die sich auf den Judenmord im besetzten Generalgouvernement Polen beziehen. Ein Team aus 14 Fachübersetzern hat ganze Arbeit geleistet, so dass nicht nur im Original bereits deutsche Texte, sondern auch solche auf Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, Slowakisch, Englisch und Französisch abgedruckt sind. Das dient der Repräsentativität der Auswahl und einer sehr breiten Perspektive, die es erlaubt, den Holocaust in diesem Gebiet in seiner Gesamtheit und seiner internationalen Dimension zu sehen. Das erleichtern zudem ein umfassendes Register sowie je eine Karte des Ghettos Warschau und des Generalgouvernements Polen.

Zu lesen – und nur zu lesen, denn es gibt ausschließlich Textquellen1 – sind einerseits in der Forschung bereits bekannte und vielfach herangezogene Schlüsseldokumente wie etwa der berüchtigte Report des SS- und Polizeiführers Friedrich Katzmann über die Ermordung der Juden in Ostgalizien, der Abschlussbericht der „Aktion Reinhard“ oder Aufzeichnungen des Warschauer Judenratsvorsitzenden Adam Czerniaków. In der Auswahl finden sich „Prominente“ wie Hans Frank, Jürgen Stroop, Halina Nelken, Jan Karski, Wilm Hosenfeld sowie immer wieder die Ausnahmeerscheinung Emanuel Ringelblum, der mit seiner Gruppe „Oneg Shabat“ schon zeitgenössisch eine Dokumentation des Holocaust versuchte; auf diese Sammlung, das heutige Archiwum Ringelbluma (Ringelblum-Archiv), greift der Band vielfach zurück.2

Andererseits präsentieren die Herausgeber unbekannte, exemplarische und gelegentlich überraschende Dokumente, bei denen selbst Experten Entdeckungen machen dürften. So gibt es frühe Nachrichten für die polnische Exilregierung über die Vernichtungslager, einen Brief des griechisch-katholischen Metropoliten von Lemberg an Papst Pius XII. mit ähnlichem Gehalt, ein Protokoll des Judenrats aus Gniewoszów – eine kleine jüdische Gemeinde im Distrikt Radom mit knapp 1.600 Mitgliedern –, Schreiben der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, immer wieder Tagebucheinträge und Briefe von Opfern, aber auch Täterquellen wie eine Stellungnahme der Rasseforscherin Elfriede Fliethmann, die ihre Arbeit am Krakauer Institut für Deutsche Ostarbeit beschreibt, oder den Erfahrungsbericht einer Besatzerin aus Warschau, in dem die Okkupanten zu Opfern stilisiert werden. Dazu kommen Texte von Polen, wie etwa eine Aufzeichnung der Lehrerin Franciszka Reizer, die die Jagd auf Juden im Spätherbst 1942 beschreibt, oder die Meldung des polnischen Polizeipostens in Chęciny, der sich an dieser Jagd beteiligte und im Februar 1943 eine Jüdin erschoss. Insgesamt entsteht so ein eindrückliches Panorama, das die fließenden Übergänge zwischen dem Grauen der Vernichtung, der Kenntnis davon und Beteiligung daran sowie dem unbedingten Überlebenswillen der Opfer wiedergibt.

Die Einleitung zeichnet die Entwicklung der „Endlösung“ im Generalgouvernement seit Sommer 1941 in den großen Zügen nach und bietet verlässliche Orientierung, selbst wenn das nicht mehr so konzise geschieht, wie im Band 4 der VEJ, der alle besetzten polnischen Gebiete bis zu diesem Zeitraum in den Blick nahm.3 Der Text ist mehr ein Abhandeln einzelner Aspekte des Holocaust als eine knappe Gesamtdarstellung, gelegentlich wirken die Fußnoten nun, als wenn neue Literatur zum Holocaust gewissermaßen noch untergebracht werden musste. Die Kenntnis der Verfasser ist hervorragend, aber es zeigt sich exemplarisch die Diskrepanz zwischen Breitenanspruch und wissenschaftlicher Akkuratesse der Edition: Der interessierte Leser wird wenig mit dem Hinweis auf eine unveröffentlichte hebräische Dissertation anfangen können, während sich der Fachhistoriker durchaus darüber freut. Gleichwohl würde Letzterer vermutlich einer Dokumentenauswahl den Vorzug geben, die geschlossener einzelne Aspekte abbildet, anstatt Breite in exemplarischer Form anzustreben.

Adam Rotfeld, der ehemalige polnische Außenminister und selbst Überlebender des Holocaust (geboren 1938 in der Nähe von Lemberg, heute L’viv / Ukraine; nach dem Mord an seinen Eltern versteckten ihn ukrainisch-katholische Mönche), hat bei einer Präsentation des vorliegenden Bandes außerdem darauf hingewiesen, dass wohl nur Kunst und Poesie die Empfindungen der Opfer angemessen wiedergeben und vermitteln können. Deshalb seien die VEJ zwar eine grundsätzlich hochwillkommene Edition, aber mit eingeschränkter Perspektive, die sich überdies eindeutig an ein deutsches Zielpublikum wende. Daran werde auch eine – zumal reduzierte – Auswahl der hier gedruckten Texte, die in Zusammenarbeit mit dem Instytut Pamięci Narodowej (Institut des nationalen Gedenkens) in Warschau demnächst auf Polnisch vorliegen soll, nichts ändern. Mit derartigen Gesichtspunkten ist man freilich schon wieder bei der konzeptionellen Diskussion der Quellensammlung angelangt – und der Frage, wer diese auf welche Art nutzen soll. Daran arbeiten sich die Rezensenten seit dem Erscheinen der ersten Bände ab. Letztlich ist die stete Rückkehr zu diesen Aspekten wohl ein Zeichen für die herausragende Qualität der Edition und auch dieses Bandes: es gibt im Grunde nichts anderes zu kritisieren.

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme ist Dokument 178, ein Bericht des jüdischen Untergrunds im Warschauer Ghetto vom 15.11.1942 über das Vernichtungslager Treblinka, dessen Originalskizze abgedruckt ist.
2 Das „Ringelblum-Archiv“, ein zentraler Bestand des Holocaust in Polen, wird zur Zeit in einer auf Vollständigkeit angelegten, vielbändigen polnischen Edition, die in mancher Hinsicht deutlich hinter den Standards der VEJ zurückbleibt, vom Żydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut) in Warschau herausgegeben. Vgl. hierzu: Stephan Lehnstaedt, Who Will Edit Their History? The Jewish Historical Institute in Warsaw and the Ringelblum Archive, in: Yad Vashem Studies 40-1 (2012), S. 247–262.
3 Klaus-Peter Friedrich (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Band 4: Polen September 1939 – Juli 1941, München 2011.

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