C. Paye: "Der französischen Sprache mächtig"

Cover
Titel
"Der französischen Sprache mächtig". Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807–1813


Autor(en)
Paye, Claudie
Reihe
Pariser Historische Studien
Erschienen
Oldenburg 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
600 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Knauer, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität

Mit der Untersuchung sprachlicher Kommunikation im weiteren Sinne fügt sich Claudie Payes lesenswerte Dissertationsschrift in eine Reihe neuerer Ansätze zur Geschichte der napoleonischen Herrschaft in Deutschland, die nicht primär nach Traditionsbrüchen und Legitimationsdefiziten fragt, sondern Kontinuitäten und Integrationspraktiken in den Blick nimmt. Als Exempel hierfür dient das von einem jüngeren Bruder des Kaisers regierte Königreich Westphalen.1 Im Kern geht es Paye um die Frage, welche Sprachpolitik jenes deutsch-französische Staatswesen verfolgte und welche Bezüge zwischen den beiden Amts- und Öffentlichkeitssprachen in Hinsicht auf die Konstruktion einer „westphälischen Nation“ bestanden (S. 25). Wichtigste Grundlage bilden die von der Forschung noch kaum berücksichtigten, da in der russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg verwahrten Akten der westphälischen Hohen Polizei, unter denen vor allem die Spitzelberichte der zumeist deutschen Polizeiagenten aufschlussreiches Material bieten.

Das Buch ist in vier teilweise sehr umfangreiche Teile untergliedert. Der erste analysiert die offizielle Sprachpolitik Westphalens, wobei ein Schwerpunkt bei der Spannung zwischen den staatlichen Direktiven und der tatsächlichen Sprachpraxis liegt. Teil zwei befasst sich mit „Sprach- und Kommunikationspraktiken“, Teil drei mit einer Analyse des Sprachbewusstseins, der Verständigungsschwierigkeiten und Sprachkonflikte. Der vierte und letzte Teil fasst die Ergebnisse im Wesentlichen zusammen. Paye zeigt zunächst, dass die Regierung bewusst einen pragmatischen Weg einschlug und das Französische bevorzugte, ohne das Deutsche gänzlich zu verdrängen. Einerseits zielte die Administration kulturell auf eine „Assimilation und ,Degermanisierung‘ der Westphalen“ (S. 67), indem sie Französisch als Einheitssprache förderte. Andererseits sorgte der Staat für Nischen, die den parallelen oder subsidiären Gebrauch der deutschen Sprache ermöglichten. Nach königlichem Beschluss vom März 1808 war zwar für Verhandlungen des Staatsrates und die Korrespondenz der Minister untereinander das Französische obligatorisch. Aber schon die Präfekten hatten lediglich in ihren Schreiben an die Ministerien und Generaldirektionen die erste Amtssprache zu benutzen, während sie gegenüber den nachgeordneten Behörden auf Deutsch kommunizieren sollten. Die Präfekten agierten somit als Bindeglied zwischen den deutschen und den französischen Verwaltungsbereichen. Gerichte, Lokalverwaltung und Friedensrichter benutzten ausschließlich die deutsche Sprache. Dagegen war für die Amtsblätter und offiziellen Zeitungen der Kolinguismus vorgeschrieben. Der Westphälische Moniteur, das staatliche Zentralorgan, erschien in den sechs Jahren, in denen das Königreich existierte, mit jeweils zweisprachigen Textspalten. Dass sich der Französisierung einer des Französischen weitgehend unkundigen Bevölkerung erhebliche praktische Probleme entgegenstellten, zeigt Payes Untersuchung des Lehrpersonals und der Lehrpläne. Den Schulen traute man eine führende Rolle bei der Etablierung einer französisch-westphälischen Identität zu. Tatsächlich erwies sich die Suche nach geeignetem Lehrpersonal als überaus schwierig. Die Lehrpläne sahen zwar mehrstündigen Französischunterricht und Fachunterricht in französischer Sprache vor, konnten dies mangels sprachkundiger Lehrer aber kaum umsetzen. Von einer „systematischen sprachlichen Französisierung“ (S. 97) kann somit auch in diesem Falle keine Rede sein.

Der Hauptteil der Arbeit befasst sich mit „Sprach- und Kommunikationspraktiken“. Vor allem hier geht die Studie neue Wege, indem sie innovative Zugänge zur bilingualen Sprach- und Kommunikationskultur Wesphalens erschließt. Dafür werden unter anderem die Biographien der im staatlichen Auftrag sowie für Privatleute tätigen Übersetzer analysiert. Gefragt wird nach deren Übersetzungspraxis, aber auch nach den Grundlagen des Spracherwerbs. Viele dieser zumeist aus Deutschland stammenden Übersetzer kamen aus der Militärverwaltung, andere arbeiteten als Präfektursekretäre, wobei sich der Staat bemühte, für seine Verwaltung so viel Zweisprachige wie möglich einzustellen, um die vorgeschriebenen Übersetzungsvorgänge verwaltungsintern bewältigen zu können (S. 121). Besonders interessant ist Payes Analyse der damals gebräuchlichen Sprachlehrbücher und ihrer Autoren, insbesondere der so genannten „Dolmetscher“, die sich von konventionellen Sprachführern dadurch unterschieden, dass sie für den schnellen Spracherwerb zur privaten Konversation oder für das Wirtshausgespräch nur die gängigsten Vokabeln und Redewedungen enthielten (S. 194). Dass sich mit Sprache Politik machen ließ, zeigt nicht zuletzt das Aufkommen russischer Dolmetscher, die zu Beginn des Jahres 1813, als sich die Niederlage Napoleons abzeichnete, neu aufgelegt wurden. Die westphälische Administration sah hierin ein Zeichen, dass die Bevölkerung nicht mehr an die Zukunft des Landes glaubte, worauf sie mit Zensur und Repressalien reagierte.

Des Weiteren werden „französisierte“ oder von professionellen Schreibern erstellte Bittschriften untersucht sowie nonverbale Kommunikationsformen, die gleichwohl über die Sprache ihre Wirkung erzielten. Hier geht es einerseits um Karikaturen und staatskritische Installationen, andererseits um den pejorativen wie auch Bilder stürmenden Umgang mit Hoheitszeichen. So lässt sich das Verspotten und Beseitigen westphälischer Wappen als signifikante Kommunikationsverweigerung begreifen, bei der sich die Sprache – etwa als verbaler Angriff – und das dargestellte, verfremdete oder zerstörte Herrschaftssysmbol aufeinander beziehen. Diese Interdependenz von Bild und Schrift findet sich exemplarisch bei den antinapoleonischen Karikaturen, die oftmals erst dadurch publik wurden, indem man über sie sprach (S. 293).

Die im dritten Teil gestellte Frage nach Verständigungsschwierigkeiten und Sprachbarrieren, die sich schon daraus ergaben, dass die überwiegende Mehrheit der Westphalen gar nicht oder doch nur mangelhaft das Französische beherrschte, wird unter dreierlei Aspekten untersucht. Geht es zunächst um Unzulänglichkeiten der Übersetzungen, „Hemmungen, sich in der Fremdsprache auszudrücken“ (S. 363) und die doch eher seltenen Fälle fließender Sprachbeherrschung, wird anschließend nach Formen und Folgen französischer Sprachdominanz gefragt. So war die Bereitschaft der Bürger, sich die jeweils andere Sprache anzueignen, höchst unterschiedlich ausgeprägt. Bekannt ist das Beispiel des Monarchen (König „Lustik“), der zwar ankündigte, Deutsch zu lernen, aber keinerlei Schritte in diese Richtung unternahm. Der letzte Aspekt gilt durch mangelnde Sprachkenntnis ausgelösten Konfliktsituationen, die im Falle von Hof und Verwaltung, aber auch am Beispiel der königlichen Bibliothek und des Kasseler Theaterlebens thematisiert werden.

Paye zeichnet ein vielschichtiges, perspektivenreiches und instruktives Bild westphälischer Sprach(en)politik und Sprachpraxis, das für die Westphalenforschung wie für die Geschichte des napoleonischen Deutschland insgesamt einen erheblichen Gewinn darstellt. Tatsächlich, so Paye, ging es oftmals weniger um sprachliche, denn um kulturelle Differenzen. So war etwa die soziokulturelle Kluft in der westphälischen Hofgesellschaft, bei der Angehörige der einheimischen Aristokratie auf bürgerliche Parteigänger des Königs trafen, die dieser aus seinem Vorleben als französischer Marineoffizier nach Kassel mitgebracht hatte, für die gescheiterte Kommunikation wohl eher verantwortlich zu machen als sprachliche Verständigungsschwierigkeiten (S. 478). Die Kennzeichnung des westphälischen Adels als deutsch beziehungsweise französisch besitzt aber auch ein gewisses Manko. Sie geht etwa darüber hinweg, dass im Königreich eine adelige Verwaltungselite unter anderem aus Hessen-Kassel, Braunschweig, Preußen und Hannover zusammentraf, die über sehr unterschiedliche Staatstraditionen und kulturelle Erfahrungen verfügte. Dies gilt letzlich für die Bevölkerung insgesamt. So lebten die Bewohner der Hauptstadt Kassel bis 1806 unter der Regentschaft des als frankophob bekannten hessischen Landgrafen und Kurfürsten Wilhelm I., der die französische Kunst und Kultur in seinem Land massiv bekämpfte, während etwa der Braunschweiger Hof bis zu seiner Vertreibung eine besondere Affinität zur französischen Aufklärung pflegte. Eine stärkere Berücksichtigung solcher regionalen Differenzierungen und Sonderentwicklungen unterhalb der Schwelle des Nationalen könnte bei der Frage nach der sprachlich-kommunikativen Praxis des napoleonischen Zeitalters vermutlich noch Neues zutage fördern.

Anmerkung:
1 Zu Identitätsbildung und Erinnerungskultur etwa Armin Owzar, Eine Nation auf Widerruf: Zum politischen Bewusstseinswandel im Königreich Westphalen, in: Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk: Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a.M. 2006, S. 43–72; Anika Bethan, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen, Paderborn 2012.

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