Titel
Armut und Wahnsinn. "Arme Irre" und ihre Familien im Spannungsfeld von Psychiatrie und Armenfürsorge in Glasgow, 1875–1921


Autor(en)
Gründler, Jens
Erschienen
Oldenburg 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VII, 376 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Kanis-Seyfried, Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin, ZfP Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm, Ravensburg-Weissenau

In den Sozialwissenschaften hat die sogenannte „Geschichte von unten“ bereits seit den 1980er-Jahren ihren festen Platz in der wissenschaftlichen Forschung eingenommen. Dagegen löste die Medizin- und Psychiatriegeschichte erst allmählich ihren einschränkenden Blick von hierarchischem Standesdenken und positivistischer Fortschrittsgeschichte, und wendete ihn auch jenen zu, die als Gegenstand historischer Untersuchungen lange Zeit nicht relevant waren, obwohl sie zu einer kritischen und zukunftsweisenden Geschichtsbetrachtung viel beizutragen haben: Patienten, einfache Menschen aus den unteren Schichten des Personals, Familienangehörige von Kranken.

Bekanntlich war Roy Porter einer der Ersten, der die übliche Entwicklungshistorie medizinischer Institutionen, Fächer und dem Tun der Herrschenden beiseitegelegt und stattdessen den Focus auf die Unterschichten, die weniger Privilegierten und deren eigene Perspektive gerichtet hatte. Sein Plädoyer für eine „Medizingeschichte von unten“ fügte den beiden herkömmlichen Forschungsrichtungen – der jahrzehntelang variantenreich beschriebenen Erfolgsgeschichte zum einen und der Theorienreplik auf Foucault und Goffman (Anstalt als „totale Institution“, als Ort uneingeschränkter Macht, der Disziplinierung und sozialer Kontrolle) zum anderen – eine dritte hinzu, in der Theorie und praktische Erfahrungswelt auf eine bisher nicht dagewesene Art und Weise miteinander verbunden und Wechselwirkungen ins Visier genommen werden.

In seiner Dissertation über die schottische Anstalt für arme Geisteskranke „Woodilee“ ist Jens Gründler dem Ansatz Porters gefolgt und hat eine anschauliche „Geschichte von unten“ geschrieben, die die klassischen Theorien zwar rezipiert und im Rahmen von zeitgenössischen administrativen, rechtlichen und politischen Kontexten auf ihre Relevanz hin überprüft, die aber auch den einzelnen Menschen sichtbar macht: der mikrogeschichtliche Ansatz und die Fokussierung auf Patienten und ihre Familien ermöglichen es ihm gleichermaßen, die Strukturen der Armen- und Irrenfürsorge in ihren eigenen sozialen Kräftefeldern zu untersuchen und zu interpretieren (S. 3). Hier folgt Gründler dem Konzept Alf Lüdtkes, wonach soziales Miteinander mitgeprägt ist durch Herrschaft und Macht, die scheinbar Machtlosen jedoch über eine Reihe von Handlungsspielräumen verfügen. Unter Zuhilfenahme bestimmter Strategien, Aneignungen, Eigensinn und Arrangements wird ihnen so eine deutliche Einflussnahme möglich (S. 4).

In der nun publizierten überarbeiteten Fassung seiner Dissertation hat Gründler historische Quellenbestände wie Krankenakten des Woodilee Asylum und Fallakten der Armenfürsorge der Armengemeinde Barony akribisch untersucht und auf deren Grundlage eine ganze Reihe von Fragestellungen entwickelt, die im Verlauf der Arbeit und im Rahmen des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses zufriedenstellend beantwortet werden.

In seiner gründlichen Aufarbeitung der institutionellen, rechtlichen und politischen Entwicklungen und Ausdifferenzierungen der schottischen Irrenfürsorge im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stellt Gründler fest, dass diese nicht linear oder eindimensional verliefen, sondern von zahlreichen Akteur(inn)en beeinflusst, verzögert, verändert, genutzt und auch infrage gestellt wurden. Gesetzgebungsverfahren, die die rechtliche Basis von Einweisung und Unterbringung bildeten, wirkten sich ebenso aus wie die architektonische Anordnung und Ausstattung der Gebäude oder die Qualität der medizinischen Betreuung. Gleichzeitig belegt er anhand von Fallbeispielen, dass Patienten wie Angehörige einen entscheidenden Anteil an der Ausgestaltung des Anstaltsalltags hatten. „Durch die Analyse verschiedener Quellen wird deutlich, dass Motive und Praktiken des Zwangs mit Motiven der mitfühlenden Fürsorge gemeinsam auftraten und somit ein differenzierteres Bild der psychiatrischen Kliniken entworfen werden muss.“ (S. 10)

Die mikrogeschichtliche Methodik erlaubt eine auf das Individuum bezogene Rekonstruktion lebensweltlicher Erfahrungen, Handlungs- und Verhaltensweisen im Sinne von Ginzburg, Corbain u.a. Der schon rhetorischen Frage nach der repräsentativen Gültigkeit lokal eng begrenzter Forschungsergebnisse begegnet Gründler mit dem Verweis auf einschlägige mikrohistorische Publikationen, wonach individuelles Handeln immer auch gesellschaftliche, soziale und kulturelle Normen widerspiegelt.

Aufgebaut in drei Abschnitte, wendet sich Gründlers Untersuchung zunächst dem Kontext von Psychiatrie und Armenfürsorge in Schottland zu. Hier zeichnet er die institutionelle Verflechtung von Armen- und Irrenfürsorge nach, befasst sich mit den Pflichten und Rechten seiner Protagonisten sowie der Rekonstruktion der administrativen Rahmenbedingungen. In einem zweiten Abschnitt geht er den verschiedenen Wegen nach, die die Patienten in die Anstaltsfürsorge brachten, ihrem Alltag dort sowie den Freiräumen, die Kranke und Familienmitglieder ausnutzten, um bestmöglichen Einfluss auf die hierarchische Struktur und die den Tagesablauf streng reglementierende Hausordnung zu nehmen. Im dritten Abschnitt werden schließlich die Möglichkeiten, die Anstalt wieder zu verlassen, beschrieben. Gleichzeitig wird auf die Lebensläufe ehemaliger Psychiatriepatienten bzw. ihrer Angehörigen während und vor allem nach dem Anstaltsaufenthalt eingegangen. Diese biografischen Rekonstruktionen geben Auskunft über geglückte oder misslungene Behandlungen bzw. Wiedereingliederungen ehemaliger Patienten in ihre Familien und in die Gesellschaft.

Letzteres ist in medizinhistorischen Untersuchungen generell noch wenig praktiziert worden, insofern hat Gründler hier nicht nur in Bezug auf Woodilee auf eine Forschungslücke aufmerksam gemacht. Da die zumeist als Quellen hinzugezogenen Krankenakten nur Auskunft über die Zeit des Anstaltsaufenthaltes und seine Vorgeschichte Auskunft geben, bedarf es hier der Hinzuziehung zusätzlicher archivalischer Aktenbestände. In seiner Untersuchung konnte Gründler diesbezüglich Akten der staatlichen Armenfürsorge auswerten, da Woodilee als Anstalt für arme Geisteskranke explizit ausgewiesen war. Diese Patienten und/oder ihre Familien waren häufig auch im normalen Leben auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Diese Zuwendungen wurden von den zuständigen Behörden und Institutionen schriftlich dokumentiert.

Das Bild, das so von der schottischen Anstalt Woodilee und ihren Patienten entsteht, inspiriert zum Vergleich mit historischen Forschungen zu Anstalten in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern. Der im 19. Jahrhundert in der Medizin sich zunehmend durchsetzende Begriff vom Wahnsinn als zu behandelnder Krankheit führte auch in Deutschland zu entsprechenden Gesetzesvorschriften, baulich-architektonischen und medizinisch-therapeutischen Konzepten. Die Ideen bezüglich moral treatment und non-restraint wurden zur selben Zeit verwirklicht, die sinnvolle Beschäftigung der Kranken, der Aufenthalt an frischer Luft, diätetische Maßnahmen sowie feste Tagesstrukturen bildeten auch hierzulande die Basis therapeutischer Mittel.

Gründlers Untersuchungsergebnisse zu Woodilee decken sich in vielerlei Hinsicht mit den Ergebnissen der Forschungsprojekte aus verschiedenen deutschen Regionen, so zum Beispiel Württemberg. Hier wie dort stiegen Patientenzahlen in denselben Zeiträumen signifikant an, während die Zahl der als geheilt anzusehenden Patienten sank und immer mehr Kranke dauerhaft Pflege benötigten. Einweisung und Unterbringung in eine Anstalt unterlagen der Kontrolle verschiedener Institutionen und Behörden; Gründe für den Aufenthalt waren sowohl die Wahrnehmung eines (zeitlich begrenzten) Fürsorgeangebots für einen Kranken als auch die Kontrolle und Sicherung eines sich und andere gefährdenden Menschen sowie die Sanktionierung abweichenden Verhaltens. Dabei waren die Patienten „keineswegs nur ohnmächtige Zuschauer, sondern durchaus in der Lage, sich Freiräume, Eigensinnigkeiten und Widerständigkeiten in der Anstalt einzurichten“ (S. 355). Auf diese Weise wurden Hierarchien gebrochen und der ärztlichen, institutionellen Macht Grenzen gesetzt.

Im Hinblick auf künftige medizinhistorische Forschungsvorhaben im Bereich der Anstaltsgeschichte würden vergleichende Studien auf nationaler wie transnationaler Ebene ein weiterer Erkenntnisgewinn sein. Angesichts der bereits existierenden Vielzahl an hermeneutischen Arbeiten würde eine Zusammenführung der Ergebnisse einen lohnenden differenzierten Überblick über die Geschichte der psychiatrischen Versorgung bieten.

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