T. Gerhards: Heinrich von Treitschke

Titel
Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Gerhards, Thomas
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung – Wissenschaftliche Reihe 18
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
514 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Rebenich, Historisches Institut, Universität Bern

Heinrich von Treitschke (1834–1896) war schon zu Lebzeiten umstritten, und er polarisiert noch immer. Der Verfasser der fünfbändigen „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“ (1879–1894) gilt als Gallionsfigur nationalistischer Historiographie, die – überzeugt von Preußens Mission – den borussischen Machtstaat feierte; der Protagonist des Berliner Antisemitismusstreites (1879–1881) wird als Archeget der modernen Judenfeindschaft kritisiert, die weit in die bürgerlichen Wohnstuben vordrang und in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern endete; der politische Professor indes findet Anerkennung, der durch eine Vielzahl von Zeitungsartikeln in der Öffentlichkeit wirkte und den Rock des Bürgers selbstbewusst trug. Thomas Gerhards rekonstruiert in seiner umfangreichen Monographie, einer im Jahr 2009 an der Universität Düsseldorf abgeschlossenen Dissertation, Heinrich von Treitschkes „Nachleben“, das heißt seinen Einfluss auf spätere Generationen, seine politische Instrumentalisierung und seine öffentliche Wahrnehmung. Dies ist ein in der Tat innovatives Unterfangen. Die Umsetzung darf insgesamt als gelungen gelten.

Die Ausgangsbeobachtung ist rasch formuliert: „Viele Straßen sind mittlerweile umbenannt, das Ehrengrab ist aberkannt. Kein deutscher Historiker vor oder nach ihm wurde mehr verachtet als er, keiner hätte unglücklicher oder unzufriedener über das Erreichte sein können“ (S. 11). Zunächst rekapituliert Gerhards die „Stationen der Konfliktbiographie“ (S. 38–73): In Treitschkes Leben und Werk spiegelt sich die Geschichte des 19. Jahrhunderts. Der Historiker symbolisiert die Dominanz der Geschichtswissenschaft als der universitären und gesellschaftlichen Leitdisziplin, und er repräsentiert den Anspruch der akademisch gebildeten Elite auf kulturelle Hegemonie, soziale Exzellenz und politische Partizipation. Treitschke schrieb quellengesättigte Zeitgeschichte, und er fokussierte den Antagonismus zwischen Österreich und Preußen, zwischen kleindeutscher Vision und großdeutscher Gesinnung, zwischen Restauration und Fortschritt. Zum liberalen Staatsverständnis traten ein ausgeprägter Antikatholizismus und – vor allem – ein manifester Antisemitismus.

In den sieben nachfolgenden Kapiteln erfasst Gerhards überzeugend Treitschkes Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. Zunächst wendet er sich der Zeit von dessen Tod bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu (S. 74–139). Im späten Kaiserreich wurde der Historiker zwar als großer Geschichtsschreiber und „Mann der Tat und des Kampfes“ verehrt, doch den Zenit seiner öffentlichen Wirksamkeit hatte er längst überschritten. Autoren wie Nietzsche, Langbehn, Lagarde und Chamberlain bestimmten jetzt den nationalistischen Diskurs. Treitschke blieb ein bedeutender Platz in der studentischen Erinnerungsliteratur, in der seine Vorlesungen weniger ihres Inhaltes als vielmehr ihres ‚Eventcharakters‘ wegen erinnert wurden: Mehr als seine historische Sinnstiftung faszinierten das Auditorium seine leidenschaftlichen Ausbrüche und emotionalen Urteile.

Im Anschluss untersucht Gerhards den „Historikerstreit“ (S. 140–169), der zwischen 1914 und 1918 in Großbritannien und Deutschland um Treitschke geführt wurde. Während hier das Kriegsgeschehen seine Wahrnehmung konditionierte und man seine Werke als Zeugnis eines „kulturlosen Reiches“ interpretierte, „das sich durch seine Kriegsführung von den zivilisierten Nationen verabschiedet zu haben schien“ (S. 409f.), beherrschten dort die konservativen und liberalen Verteidiger des Machtstaatspanegyrikers die Bühne; nicht nur alldeutsche Annexionisten, sondern auch entschiedene Gegner von Weltherrschaftsgelüsten beriefen sich im „Krieg der Geister“ auf den Historiographen des preußischen Staates.

In der Weimarer Republik, der das nächste Kapitel gewidmet ist (S. 170–204), bestimmte ein differenzierender Umgang mit Treitschkes Erbe die wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Diskussion. Eine mehrheitlich nationalkonservativ orientierte Zunft begann, seine Machtstaatsapologie und seinen Bellizismus zu dekonstruieren. Andererseits eröffneten seine Schriften in dem von Krisen und Konvulsionen erschütterten Land die Möglichkeit, sich in die große Vergangenheit der Reichsgründungszeit zu flüchten; aber der „zum inhaltsleeren ‚Mann und Kämpfer‘ stilisierte“ (S. 203) Historiker diente selbst reaktionären Kreisen nicht mehr als historiographisches Paradigma, da sein geistesaristokratischer Etatismus nicht zu ihrem völkischen Credo passte.

Das „Dritte Reich“ und seine Elite vereinnahmten Treitschke dann in doppelter Weise (S. 205–254): Walter Frank und andere NS-Ideologen feierten den „Tatmenschen“ als wirkmächtigen Repräsentanten einer antihistoristischen Geschichtsauffassung und als bedeutenden Vorgänger des nationalsozialistischen Antisemitismus. Dagegen erhoben sich die Stimmen liberaler Historiker (Walter Goetz und Friedrich Meinecke), die in Treitschke den Vertreter traditioneller liberaler Anschauungen erkannten, die nicht mit der rassistischen Volkstumspolitik des „Dritten Reiches“ übereinstimmten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es ruhiger um Treitschke. In der frühen Bundesrepublik (S. 255–284) gab es zwar Äußerungen, die mit apologetischem Unterton ein „gerechtes“ Verstehen einforderten; doch der „politisch-moralisch gezähmte Historismus“ (Ernst Schulin) der Geschichtswissenschaft betrieb konsequent die Historisierung Treitschkes und die seiner „nationalistischen Machtstaatsfixierung“ (S. 282). In den 1960er-Jahren wurde durch Walter Boehlichs Quellensammlung zum „Berliner Antisemitismusstreit“ (1965) Treitschkes Antisemitismus wiederentdeckt1; als sein prominentester Gegner galt der Althistoriker Theodor Mommsen, der den liberalen Emanzipationsgedanken verteidigt habe. Unterdessen enttarnte die DDR-Geschichtsschreibung (S. 285–304) Treitschke als den Ahnvater der imperialistischen Geschichtsideologie der BRD und verlieh ihm das Epitheton „präfaschistisch“; Gnade fand im Osten Deutschlands nur der liberale Jungpolitiker, sofern er sich im antifeudalen Kampf mit Marx und Engels auf einer Linie befand.

In den vier Dezennien von 1960 bis 2000, die Gerhards auf über hundert Seiten analysiert (S. 305–408), war der preußische Historiker Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher und politischer Debatten. Seine Schriften wurden historiographiegeschichtlich ausführlich analysiert, seine politische Entwicklung breit kontextualisiert, vor allem aber seine Bedeutung für den Antisemitismus des Kaiserreichs und des „Dritten Reiches“ eingehend diskutiert. Die Öffentlichkeit sah zahlreiche, bisweilen jahrelange Auseinandersetzungen um Treitschke-Straßen, in denen der Historiker allzu eilfertig zum „antisemitischen Vordenker“ des Nationalsozialismus stilisiert wurde. Und „Treitschke redivivus“ blieb ein Schimpfwort, das zuerst konservativen Historikern wie Gerhard Ritter und Ernst Nolte nachgerufen wurde, dann aber auch dem linksliberalen Hans-Ulrich Wehler.

Gerhards bewegt sich souverän in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Erhellend sind die epochen-, länder- und systemübergreifenden Vergleiche. An manchen Stellen hätte man sich eine Straffung gewünscht. Die den einzelnen Kapiteln vorangestellten, einleitenden Bemerkungen zur jeweiligen Situation der Geschichtswissenschaft hätten in die Darstellung integriert werden können. Genretypisch sind die ausführlichen Bemerkungen zu Methodik und theoretischen Implikationen (S. 11–19); souverän hingegen ist die Hinführung zur Forschungsdiskussion und zur Quellenlage (S. 20–31), originell der „enzyklopädische Prolog“, der mit Hilfe der einschlägigen Lemmata aus den großen Enzyklopädien einen kursorischen Überblick über die Treitschke-Rezeption der letzten 150 Jahre gibt und wichtige Ergebnisse antizipiert (S. 31–37). Insgesamt ist die Dissertation gut geschrieben. Bisweilen formuliert Gerhards zu salopp (zum Beispiel S. 7: „das unverschämte Glück“) oder ungeschickt (S. 18: „ein kurzer Abriss zum jeweiligen Zustand der Geschichtsschreibung“). Ärgerlich sind die Verstümmelungen einfacher lateinischer Wendungen, die weder dem Autor noch den Gutachtern aufgefallen sind: S. 45 muss man statt Lukubrationen das unsinnige „Lukrubationen“ lesen. S. 381 wird ausgerechnet Theodor Mommsen das monstrum grammaticum Kontradiktionen „in adjecte“ zugeschrieben; die Sache wird dadurch nicht besser, dass Gerhards hier aus zweiter Hand zitiert und die Herausgeberin des Briefes an Werner von Siemens denselben Fehler gemacht hat.2 Um richtig in adjecto zu korrigieren, muss man nicht das Original einsehen, wohl aber über elementare Lateinkenntnisse verfügen.

In dieser Dissertation werden detailliert und anschaulich wesentliche Stationen der Instrumentalisierung und Aktualisierung des Historikers Heinrich von Treitschke beschrieben. „Sein Name blieb wirksam, da er einen symbolischen Wert gewonnen hatte. Mit ihm verband man bestimmte Äußerungen und Werte, die zentral waren für das historische und politische Denken dieser Zeit, ohne das[s] immer genau danach gefragt wurde, wie Treitschke selbst dazu stand.“ (S. 416f.) Aus gutem Grund betont der Autor, dass die grobe Einteilung in eine „positive“ Wahrnehmung Treitschkes, die bis 1945 dauerte, und eine „negative“ Perzeption, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost- und Westdeutschland einsetzte, zu kurz greift. Er konzentriert sich deshalb auf „die moderateren Zwischentöne, die es zu jeder Zeit gab“ (S. 411). Zu Recht warnt er vor der unkritischen Übernahme simplifizierender Dichotomien, die komplexen historischen Formationen nicht gerecht werden; so kann die Antisemitismus-Diskussion im Kaiserreich im Allgemeinen und im liberalen Milieu im Besonderen nicht befriedigend mit der Antithese Mommsen-Treitschke erfasst werden. Indem Gerhards ein beeindruckendes Panorama der Wertungen und Urteile der Nachwelt zeichnet, entwirft er zugleich ein differenziertes Porträt von Treitschke. Denn die späteren Ambivalenzen und Paradoxien reflektieren die Widersprüche und Inkonsistenzen, die sich in Treitschkes Werken selbst finden; seine Politikvorlesungen etwa, 1897/98 postum von Max Cornicelius ediert, charakterisiert Gerhards treffend als „ein Sammelsurium apodiktischer Urteile“ (S. 168), das zu völlig unterschiedlichen Interpretationen geradezu einlud. Mit seiner Dissertation hat Gerhards nicht nur Treitschkes wissenschaftlichen und politischen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen zum ersten Mal umfassend untersucht, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der deutschen Gelehrtenrepublik im 19. und 20. Jahrhundert geleistet.

Anmerkungen:
1 Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt am Main 1965.
2 Auguste Zeiß-Horbach, Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Leipzig 2008 (Diss. Leipzig 2007), S. 46.

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