: Heinrich Zschokke (1771-1848). Eine Biografie. Baden 2013 : hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, ISBN 978-3-03919-273-1 710 S. € 52,00

: Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815-1848). . Köln 2013 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-21071-7 X, 662 S. € 79,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Graber, Historisches Seminar, Universität Zürich

Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, eine Biographie über einen Schweizer Schriftsteller und Politiker und eine Dissertation über die Volksaufklärung in Thüringen in einer Sammelrezension zu besprechen. Dieses Vorgehen ist jedoch gerechtfertigt, indem beide Werke wesentlich zur Erweiterung der Kenntnisse über die Volksaufklärung im 19. Jahrhundert beitragen, zumal sich die bisherigen von Holger Böning und Reinhart Siegert angeregten Forschungen schwergewichtig mit dem 18. Jahrhundert befasst haben.

Die voluminöse Studie von Werner Ort ist chronologisch aufgebaut und zeichnet anhand umfangreicher Quellenrecherchen und einer systematischen Analyse von Zschokkes hinterlassenen Schriften den Lebensweg des Literaten, Politikers und Staatsphilosophen nach. Als Leitfaden dient die 1842 veröffentlichte autobiographische Schrift „Eine Selbstschau“, in der Zschokke sein Leben aus der Retrospektive beschreibt. Der literarische Erfolg dieser Schrift erklärt sich nicht nur durch die spannende Schilderung des bewegten Lebens. Indem dieses immer wieder hinter die Beschreibung des politischen, sozialen und kulturellen Umfelds zurücktritt, ist die „Selbstschau“ auch ein Stück Zeitgeschichte. Selbstzeugnisse sind allerdings problematische Quellen, da sie als Ich-Konstruktionen Ereignisse bewusst oder unbewusst verfälschen, tabuisieren oder beschönigen. Um diesem Dilemma zu entgehen, konfrontiert Ort die Aussagen Zschokkes zu historischen Begebenheiten mit den Resultaten minutiöser Archivstudien und den Ergebnissen der neueren Forschungsliteratur. Die historischen Kontextualisierungen beeindrucken zwar durch breite Literaturkenntnisse, stützen sich allerdings etwas stark auf ältere Literatur ab, neuere Studien zur Aufklärung in der Schweiz (besonders zu Zürich), zur Helvetik und zur Regeneration hätten noch andere Sichtweisen auf die politischen und volksaufklärerischen Aktivitäten Zschokkes ermöglicht.

Die trotz ihres Umfangs von 618 Textseiten gut lesbare Studie zeichnet die einzelnen Stationen in Zschokkes Leben detailliert nach. Sohn eines Tuchmachermeisters, als Waisenkind in Magdeburg aufgewachsen, Theaterdichter einer Wandertruppe, Privatdozent für Philosophie und Theologie in Frankfurt (Oder), Schulleiter in Graubünden, Beamter der Helvetischen Republik, Forstinspektor, Grossrat des Kantons Aargau, Tagsatzungsabgeordneter und schließlich einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit; das sind nur die wichtigsten Wegmarken dieser beispiellosen Karriere. In achtzehn Hauptkapiteln wird dieses bewegte Leben ausführlich dargestellt: Die ersten drei Kapitel schildern Zschokkes Jugendzeit, den Bildungsgang und die ersten literarischen Experimente. Eine erste wichtige Zäsur in Zschokkes Leben wird in zwei weiteren Kapiteln beschrieben: die Reisen in die Schweiz und nach Paris. Sie führen zu einer doppelten Konfrontation: Dem Mythos Schweiz mit der politische Realität der alten Eidgenossenschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert und der anfänglichen Revolutionsbegeisterung mit den konkreten Revolutionserfahrungen. Die nächsten sechs Kapitel schildern die Wirksamkeit während der Helvetischen Republik als Regierungskommissär, „Krisenmanager“ und Regierungsstatthalter in der Innerschweiz, im Tessin und in Basel. Der aus sieben Kapiteln bestehende Schlussteil beschäftigt sich mit der Tätigkeit im Aargau während der Restaurations- und Regenerationszeit. Neben den forstwirtschaftlichen und politischen Aktivitäten rücken vor allem Zschokkes Engagement als Geschichtsschreiber, Zeitschriftenmacher und Volksaufklärer in den Fokus. Bei den subtilen Analysen der publizistischen und literarischen Tätigkeit überzeugen die profunden literaturwissenschaftlichen Kenntnisse des Autors. Ein Epilog befasst sich mit Zschokkes Bedeutung für die Nachwelt. Der Anhang enthält eine Zeittabelle mit den wichtigsten biographischen Daten, eine Zusammenstellung von Zschokkes Mitgliedschaften in Gesellschaften, seiner Ämter und Auszeichnungen, ein chronologisch geordnetes Werkverzeichnis sowie ein Personenregister.

Von Interesse für diese Besprechung ist vor allem die von Werner Ort herausgearbeitete Bedeutung Zschokkes für die Volksaufklärung. Dessen Entwicklung entspricht derjenigen vieler Volksaufklärer im 19. Jahrhundert. Ausgehend von der moralisch-praktischen Aufklärung wird das Schwergewicht auf die Erziehung der unteren Gesellschaftsschichten gelegt. Die „Volksbildung“ wird als Schlüssel zur Lösung der sozialen und gesellschaftlichen Probleme gesehen. Staat und Gesellschaft sollen auf evolutionärem Weg, durch aufgeklärte Reformen, schrittweise verändert werden. Hier hätte allenfalls die von der neuesten Helvetikforschung herausgearbeitete Anschlussfähigkeit der Staatsvorstellungen der helvetischen Elite an den Reformabsolutismus thematisiert werden können. Die Favorisierung der evolutionären Entwicklung ist bedingt durch die Erfahrungen mit der Französischen Revolution und der Helvetischen Republik. Selbst die immer stärkere Annäherung an den politischen Liberalismus ändert nichts an der ablehnenden Haltung gegenüber revolutionären Umwälzungen. Allerdings werden dadurch die bestehenden Feindbilder noch konturierter: Die konservativen Mächte wie die ultramontane katholische Kirche, die Volksfrömmigkeit mit ihren Ritualen und die Jesuiten. Obwohl Zschokke den größten Teil seines Lebens in der republikanischen Schweiz verbringt, lehnt er die Monarchie nicht grundsätzlich ab, sondern setzt auf die Reformbereitschaft der Herrscher. Leitvorstellung ist ein gemäßigter Konstitutionalismus. Dies zeigt etwa sein Geschichtswerk zu Bayern. Abgelehnt werden Bewegungen, die versuchen, die Gesellschaft auf gewaltsamem Wege zu verändern. Hier bieten Zschokkes schweizergeschichtliche Darstellungen reiches Anschauungsmaterial: Der Bauernkrieg von 1653, die Zehntunruhen in der Spätphase der Helvetik und der bedeutendste nachhelvetische Volksaufstand, der sogenannte Bockenkrieg von 1804 im Kanton Zürich, werden negativ bewertet. Verantwortlich für diese politische Haltung ist nicht nur das allgemeine Revolutionstrauma des Bildungsbürgertums, im Fall Zschokkes wird dieses noch bestärkt durch seine persönlichen Erfahrungen: 1802 wird sein Wohnsitz auf Schloss Biberstein beinahe von einem Landsturm geplündert. Dies führt zu einer eingeschränkten Sichtweise auf das Volk, die für Zschokke und die meisten Volksaufklärer typisch ist. Der Wandel des Volks vom Erziehungsobjekt zum eigenständigen Subjekt mit konkreten Ansprüchen macht es zum Feindbild, zum „Pöbel“. Der „rottierende Pöbel“ liegt außerhalb der Reichweite volksaufklärerischer Bestrebungen. „Agency“ des Volkes und Volksaufklärung vertragen sich nicht. Die pejorativ wahrgenommen Auftritte des Volkes sind allerdings im demokratiegeschichtlichen Kontext der Schweiz von eminenter Bedeutung: Nicht nur der Kampf der liberalen Elite für Pressefreiheit und Volkssouveränität war für die Demokratieentwicklung relevant. Die Transformation der repräsentativen zur direkten Demokratie musste gegen den Willen der liberalen Eliten durchgesetzt werden. Träger dieser Bewegungen waren die unteren und mittleren Bevölkerungsschichten mit ihren Protestaktionen, Volksversammlungen und martialisch bewaffneten Landstürmen. Sie dokumentieren die Rolle des handelnden Volkes jenseits des imaginierten Aktionsspielraums der Volksaufklärer. Die eingeschränkte Perspektive der volksaufklärerischen Akteure reflektiert sich gleichsam in der an einer wenig hinterfragten Fortschrittsteleologie orientierten liberalen Meistererzählung, die allgemein die Volksaufklärungsgeschichtsschreibung prägt. Eine verstärkte Thematisierung dieser Dimension hätte eine alternative Sichtweise auf die Wirksamkeit und die politische Bedeutung Zschokkes eröffnet, die Werner Orts sowohl einfühlsam wie auch mit kritischer Distanz verfasste Biographie doch stellenweise vermissen lässt.

Die von Prof. Dr. Werner Greiling betreute Dissertation von Alexander Krünes beschäftigt sich mit der Volksaufklärung in Thüringen. Dieses war schon im 18. Jahrhundert ein Zentrum volksaufklärerischer Aktivitäten. Persönlichkeiten wie Rudolf Zacharias Becker oder Christian Gotthilf Salzmann gelten als Pioniere der gemeinnützig-praktischen Aufklärung. Der Fokus der Arbeit liegt jedoch auf der Zeit des Vormärz. Anhand der von 1815–1848 erschienenen Periodika wird die weitere Entwicklung der Volksaufklärung in Thüringen analysiert um Kontinuitäten und Brüche sichtbar zu machen. Nach einer Einführung in die Thematik, einer weit ausholenden Begriffsbestimmung volksaufklärerischer Termini und einem Rückblick auf das 18. Jahrhundert untersucht Krünes die Entwicklung der Volksaufklärung im 19. Jahrhundert. In detaillierten Fallstudien wird der Fokus auf die Akteure der Volksaufklärung, die Zeitschriften und Zeitungen für den „Gemeinen Mann“, das Themenspektrum der wichtigsten Periodika sowie auf die durch die Obrigkeiten gesetzten Aktionsspielräume und Entfaltungsmöglichkeiten gerichtet. Die beiden Schlusskapitel befassen sich mit der Bedeutung der Volksaufklärung für die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und der Situation nach der Revolution von 1848/49. Es wird gezeigt, wie die „traditionelle Volksaufklärung“ durch den Ausbau des Schul- und Bibliothekswesens und durch einen tiefgreifenden Strukturwandel der Gesellschaft allmählich ihre ursprüngliche Funktion verliert. Der Anhang enthält eine Bibliographie der an das „Volk“ adressierten Periodika in Thüringen von 1800 bis 1848, zwei Berichte der Herzoglichen Landesregierung betreffend das Bibliothekswesen, einen Text von Pfarrer Heinrich Schwerdt zur „politischen Volksbildung“ sowie ein Orts- und Personenregister. Der geschickt gewählte Aufbau der Arbeit ermöglicht eine multiperspektivische Auswertung des umfangreichen Quellenkorpus, führt allerdings auch zu gewissen Wiederholungen und Überschneidungen, welche die Lesbarkeit etwas beeinträchtigen.

Alexander Krünes vermag in seiner umfangreichen Studie überzeugend nachzuweisen, dass die Volksaufklärung nach 1800 nicht an Intensität verliert und dass sich bereits existierende Tendenzen fortsetzen oder noch verstärken. Das Personal besteht immer noch aus dem Bildungsbürgertum, das durch ein aufklärerisches Milieu geprägt ist. Besonders prädestiniert sind Pfarrer, die durch ihre direkten Kontakte zur Landbevölkerung als „klerikale Volkserzieher“ und als Spezialisten „vor Ort“ ihre Wirksamkeit entfalten können. Dazu kommen Verwaltungsbeamte, Schullehrer, Buchhändler und einige am Leistungsprinzip orientierte Adlige. Besonders interessant ist Krünes Vorstellung der verschiedenen Buchhändlertypen: Durch neue Entwicklungen auf dem Buchmarkt findet eine Akzentverschiebung von einer gemeinnützigen zu einer vermehrt profitorientierten Haltung statt. Neue Vertriebsformen, Ausrichtung auf die Nachfrage nach berufsspezifischer Bildungsliteratur und die Verlagerung auf die politische Volksaufklärung kennzeichnen die Verkaufsstrategie dieser neuen Buchhändlergeneration. Auch im Hinblick auf die Medien sind vorwiegend Kontinuitäten festzustellen. Zeitschriften und Zeitungen, gelehrte Sozietäten, bürgerliche Vereine und Organisationen sorgen für Verbreitung volksaufklärerischen Gedankenguts und intendieren eine Verbesserung des Bildungsniveaus des „gemeinen Mannes“. Dazu gehören die Aneignung neuen Wissens, eine vernunftgeleitete Lebens- und Denkweise und zunehmend die Internalisierung eines bürgerlichen Wertekanons. Eine besondere Rolle im 19. Jahrhundert spielen die Periodika. In einer umfassenden Darstellung des thüringischen Pressewesens nach 1800 wird die Bedeutung der verschiedenen Zeitungstypen für die Volksaufklärung analysiert. Neben den Nachrichten- und Kreisblättern finden auch die Regierungs- und Intelligenzblätter als indirekte Vermittler zusätzlich Beachtung. Ein weiterer Fokus wird auf Themenschwerpunkte und konkrete Gestaltung der Volksaufklärung gelegt. Dazu werden wichtige Leitmedien wie die „Dorfzeitung“, der „Allgemeine Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen“, aber auch später entstandene Medien wie der „Thüringer Volksfreund“ und das „Allgemeine Volksblatt der Deutschen“ systematisch ausgewertet. Angesichts der großen Unterschiede hinsichtlich der Themenwahl, Akzentsetzung, Programmatik und Reichweite stellt sich die Frage, ob der Begriff „Volksaufklärung“ noch adäquat ist, oder ob nicht – wie in der neueren Aufklärungsforschung – die Pluralform „Volksaufklärungen“ gewählt werden sollte. Die Breite der Ansätze, sie reichen von einer „verhältnismäßigen Aufklärung“ bis zur politischen Volksaufklärung, würde dies rechtfertigen. Trotz des Variantenreichtums sind aber auch hier Kontinuitäten auszumachen. Das Themenspektrum, das am Ende des 18. Jahrhunderts bereits erschlossen ist, erfährt im 19. Jahrhundert keine grundsätzliche Neuausrichtung. Auch im Vormärz dominieren immer noch ökonomische und sittlich-moralische Inhalte, praktische Lebenshilfe und Erziehung zum patriotisch agierenden Staatsbürger stehen im Vordergrund. Nur allmählich findet, gekoppelt an konkrete politische Ereignisse, eine Verlagerung auf rechtliche, politische und soziale Themen statt. Bedingt durch Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Wirtschaftskrisen rückt die soziale Frage ins Blickfeld der Volksaufklärer: Pauperismus und Auswanderung bieten Gelegenheit, die Regierungen an ihre Verantwortung für das Volk zu erinnern und verhaltene Kritik an deren mangelnder Reformbereitschaft zu üben.

Durch den gewählten Zeitraum der Untersuchung drängt sich die Frage auf, welche Spuren die politischen Ereignisse wie die Julirevolution in Frankreich und ihre Auswirkungen im Deutschen Bund in der thüringischen Volksaufklärung hinterlassen haben: Krünes stellt hier einen Politisierungsschub im Zeitabschnitt 1830–1835 fest. Die politische Volksaufklärung erreicht eine neue Intensität und nimmt schärfere Konturen an. Defizite der politisch-rechtlichen Situation und ökonomische Missstände werden deutlicher benannt. Die Volksaufklärer orientieren sich vermehrt am politischen Liberalismus und insistieren auf einer schrittweisen Modernisierung der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Damit nehmen sie eine gemäßigt-liberale Haltung ein. Die ständischen Schranken sollen abgebaut und der Übergang zum monarchisch-konstitutionellen Verfassungsstaat eingeleitet werden. Damit rückt auch die Vorstellung einer einheitlichen deutschen Kultur- und Staatsnation ins Zentrum. Das Volk wird als Gemeinschaft gleichwertiger Staatsbürger begriffen. Viele Volksaufklärer plädieren deshalb für Meinungsfreiheit, individuelle Freiheit und Rechtsgleichheit. Allerdings wird Meinungs- und Pressefreiheit weniger als Grundrecht denn als Mittel zur Konfliktvermeidung und als Revolutionsprophylaxe gesehen. In Thüringen ist die Möglichkeit für die Propagierung liberaler Forderungen größer als in anderen deutschen Territorien, zumal die staatliche Repression weniger ausgeprägt ist. Die thüringischen Fürsten haben eine positive Haltung zur Aufklärung und verfolgen eher eine milde Pressepolitik. Zudem entwickelt sich ein persönliches Verhältnis zu volksaufklärerisch engagierten Staatsbeamten und – vor allem aus wirtschaftlichen Gründen – ein staatliches Schutzbedürfnis gegenüber einheimischen Verlegern und Buchhändlern. In einer subtilen Analyse der Zensurakten zeichnet Krünes ein differenziertes Bild der Pressepolitik der thüringischen Staaten nach. Er vermag die Unterschiede zwischen den einzelnen Fürsten- und Herzogtümern ebenso herauszuarbeiten wie die Grenzen des Widerstandes gegenüber Druckversuchen des Deutschen Bundes. Allerdings hat die zurückhaltende Zensurpraxis auch mit der politischen Harmlosigkeit der thüringischen Volksaufklärungspublizistik zu tun, die selbst von den restriktiveren Bundesorganen zunehmend als ungefährlich eingestuft wird. Die Landesherren geraten sowieso nicht ins Visier radikaler Kritik. Die thüringische Volksaufklärung bleibt bis zur Revolution 1848 – trotz emanzipatorischen Impulsen - in letzter Instanz obrigkeitskonform.

Damit sind die Grenzen der Volksaufklärung benannt. Sie werden in der Arbeit zwar angesprochen, hätten aber noch konturierter herausgearbeitet werden können. Folgende Befunde verweisen auf die von den Volksaufklärern gezogene Grenzlinie: Radikalere Forderungen werden umgehend kritisiert, revolutionäre Umtriebe konsequent verurteilt und die Einführung republikanischer oder demokratischer Verhältnisse abgelehnt. Selbst die politische Neuorientierung einer Minderheit nach 1848 ändert nichts an diesem Sachverhalt. Für die Mehrheit der Volksaufklärer steht die Abschaffung der Monarchie oder die Veränderung der Eigentumsverhältnisse nicht zur Debatte. Volksaufklärung bleibt restringierte Aufklärung, eine grundsätzliche Auflehnung gegen die Obrigkeiten und die real existierenden Herrschaftsverhältnisse liegt nicht mehr in ihrem Denkhorizont. Angesichts der zunehmenden Radikalisierung und Fundamentalpolitisierung der unteren Gesellschaftsschichten ist es unwahrscheinlich, dass die pädagogischen Bemühungen der Volksaufklärer jene noch erreichen. Durch die Verschärfung der sozialen Gegensätze nach 1830 vergrößert sich die Kluft zwischen anvisierten Adressaten und den Protagonisten der Volksaufklärung. Dies zeigt sich auch in den Beobachtungen zur Rezeption der Schriften, indem einige Periodika ihr Erscheinen nach kurzer Zeit wieder einstellen. Zwar vermag die Arbeit anhand von Berichten von obrigkeitlichen Beamten wie Justizamtmann Jacob zu Zella plausibel nachzuweisen, dass die Aktivitäten der Volksaufklärer zur Erosion altständischer Strukturen und zur Verankerung liberaler Leitideen in der breiten Bevölkerung beigetragen haben. Allerdings müssen die Beamten feststellen, dass die Unterschichten die vermittelten Begriffe und Bildungsinhalte eigenständig interpretieren, sodass sich eine Eigendynamik entwickelt, die weit über die Intentionen der Volksaufklärer hinausgeht. Dies konstatieren auch die Volksaufklärer selbst. Diejenige Sozialgruppe, die ihren Erziehungsbemühungen entgleitet, erfährt als „Pöbel“ eine immer negativere Konnotierung. Dieser Aspekt bleibt in der Arbeit allerdings unterbelichtet. Durch einen Blick auf kulturanthropologisch inspirierte Forschungen hätte gezeigt werden können, dass diese „plebejischen Schichten“ eigene Vorstellungen einer autonomen Lebensgestaltung und Wissensaneignung entwickelten, die als „Plebejische Kultur“ 1 beschrieben werden können. Diese steht in diametralem Gegensatz zu dem von den bürgerlichen Volksaufklärern propagierten liberal-kapitalistischen Modernisierungspfad. Die Rationalitäten von bildungsbürgerlicher Aufklärungskultur und Volkskultur liegen zu weit auseinander. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Dichotomie hätte dazu beigetragen, den Widerstand der unteren Bevölkerungsschichten gegen die Volksaufklärung sowie die vorhandenen Rezeptionsdefizite und Akzeptanzprobleme umfassender zu erklären. In diesem Kontext muss auch die von Alexander Krünes vorgetragene These, dass die Volksaufklärung „Grundlage der Fundamentalpolitisierung“ bildete, und „die hohe Beteiligung der breiten Masse der Bevölkerung am Revolutionsgeschehen des Jahres 1848“ befördert hätte (S. 551), stark relativiert werden. Im Gegenteil: Es könnte sogar danach gefragt werden, weshalb die Fundamentalpolitisierung und Massenmobilisierung trotz obrigkeitskonformer Indoktrination durch die Volksaufklärer erfolgt ist. Auch die schroffe Zurückweisung der These Rudolf Schendas 2, dass die Volksaufklärung dem „gemeinen Mann“ vor allem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit eingeflösst hätte, erscheint in diesem Kontext in anderem Licht. Die Eroberung des öffentlichen Raumes durch die unteren Gesellschaftsschichten und deren eigenständige Protest- und Widerstandsformen, die Manfred Gailus auf die griffige Formel „Straße und Brot“ 3 gebracht hat, sind wohl kaum der Wirksamkeit der Volksaufklärer zuzuschreiben.

Beide Arbeiten überzeugen durch ihre breiten Quellenrecherchen und liefern vor allem wichtige neue Erkenntnisse zur volksaufklärerischen Publizistik im 19. Jahrhundert. In beiden Arbeiten scheint jedoch ein generelles Defizit der Volksaufklärungsforschung auf. Angeregt durch die verdienstvollen Pionierarbeiten von Holger Böning und Reinhart Siegert wird der Fokus schwergewichtig auf die Produktions- und Distributionsseite gelegt, die Rezeptions- und Perzeptionsseite bleibt unterbelichtet. Dies hat nicht nur mit der schwierigen Quellenlage zu tun. Weiterführen würde nur eine Erweiterung des Blickfeldes, eine verstärkte Beschäftigung mit den Ergebnissen der historischen Protestforschung und den Forschungen zur Volkskultur. Dadurch könnten die Verhaltensdispositionen der plebejischen Volksschichten besser erschlossen und spezifische Erklärungsmuster für deren Widerstände gegen Volksaufklärer und Volksaufklärung gefunden werden. Dies könnte die Forschung auch davor bewahren, die Fortschritts- und Modernisierungsoptik der Volksaufklärer implizit zu übernehmen und sich dadurch allzu stark mit ihrem Forschungsgegenstand zu identifizieren.

Anmerkungen:
1 Hans Medick, Plebejische Kultur, plebejische Öffentlichkeit, plebejische Ökonomie. Über Erfahrungen und Verhaltensweisen Besitzarmer und Besitzloser in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: Robert M. Berdahl / Alf Lüdtke u. a. (Hrsg.), Klassen und Kultur: sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982, S. 157–204.
2 Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe, 1770–1910, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1988 (1. Aufl. 1970), S. 141.
3 Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preussens, 1847–1849, Göttingen 1990.

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