F. Raphaël: "...das Flüstern eines leisen Wehens..."

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Titel
"...das Flüstern eines leisen Wehens...". Beiträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Festschrift für Utz Jeggle


Herausgeber
Raphaël, Freddy
Erschienen
Konstanz 2001: UVK Verlag
Anzahl Seiten
582 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter F. N. Hoerz, Reutlingen

Utz Jeggle –Vertretern der Ethnowissenschaften ist dieser Mann bekannt, denn der emeritierte Tübinger Professor für empirische Kulturwissenschaft hat in der Fachgeschichte der deutschen Nachkriegsvolkskunde eine Reihe von Marksteinen gesetzt (z.B. Jeggle 1977). Weit über die Fachgrenzen hinaus jedoch hat Jeggle durch seine Forschungen über württembergische Landjuden Bekanntheit erlangt (v. a. Jeggle 1969, 1999). Die Juden, ihre Kulturgeschichte, ihre Rolle als Minderheit, ihre Vernichtung und ihr Vergessenwerden bilden in Jeggles Arbeit ein über Jahre fest stehendes Leitthema. Insofern ist es naheliegend, dass eine Festschrift aus Anlass von Jeggles 60. Geburtstag »Beiträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden« vereinigt, wobei die 27 Aufsätze in die Abschnitte »Jüdische Geschichte und Kultur«, »Ausgrenzung und Stigmatisierung« sowie »Gedächtnis und Erinnerung« gegliedert sind. Angesichts der thematischen Breite, die dem Werk zu Eigen ist, werden im Folgenden einige Texte ausführlicher besprochen, auf andere indes kann nur verwiesen werden.

Jüdische Geschichte und Kultur

Den Einstieg in den ersten Abschnitt hat Christoph Daxelmüller übernommen, der in »Pessach und Michelangelo« dazu auffordert, den forscherischen Blick von den West-Ost-Wanderungen abzuheben und nach Süden zu lenken. Eine sinnvolle Aufforderung, denn die Strahlkraft, die von jüdisch-historischen Stätten zwischen Prag und Lemberg ausgeht, macht zuweilen vergessen, dass das Italien der Renaissance ein attraktives Siedlungsgebiet für Juden gewesen ist.

Am Beispiel des Gelehrten Elija Levita Bachur verweist Daxelmüller auf die Wanderungsbewegung nach dem Süden. Elija, 1469 in Mittelfranken geboren, gelangt nach den Vertreibungen von 1488 nach Italien, wird in Venedig sesshaft. Venedig ist zu diesem Zeitpunkt ein attraktiver Ort für Juden aus ganz Europa – multikulturell und weltoffen. Als Hebraist gelangt Elija zu Ansehen, lehrt, publiziert und erhält schließlich einen Ruf an die Sorbonne. Doch Elija bleibt!

Ein in Franken geborener Jude, der in Italien Hebräisch lehrt und italienische Literatur ins Jüdischdeutsche übersetzt, ein Gelehrter, der selbstverständlich mit dem Klerus verkehrt – ein erstaunliches Bild aus der Renaissance, das den Prozess der Assimilation vorwegzunehmen scheint. »Das Ghetto stand stets offen«, schreibt Daxelmüller (S. 39), und diese erstaunliche Offenheit der italienischen Renaissance, lässt die Horizonterweiterung gen Süden wertvoll erscheinen.

»Rolle und Funktion der Hofjuden im 17. und 18. Jahrhundert« beleuchtet Julius H. Schoeps und fragt im Titel seines Beitrags, ob diese nun »Skrupellose Geschäftemacher oder Unternehmer modernen Stils?« gewesen seien. Ausgehend von Sombarts These, wonach den Hofjuden herausragende Bedeutung für die Entwicklung des modernen Staates zugekommen sei, liefert Schoeps eine ausbalancierte Analyse der Bedeutung der Hoffaktoren im absolutistischen Staatsgefüge.

Residenzen, Kriegszüge, Luxuswaren und handfeste Machtpolitik wurden von Hofjuden finanziert und gehandelt, und in der Tat scheint es als hätten die jüdischen Universalmanager vieles vorweg genommen, was sich in der kapitalistischen Moderne durchsetzte. In ihrer Funktion für die Herrschaft unverzichtbar, gelangten Hofjuden oft zu legendärem Reichtum und mussten sich doch damit abfinden, »Paria wie Parvenu in einer Person zu sein« (S. 49). Eine ambivalente Position, welche sowohl zeitgenössische Urteil- und Legendenbildung, als auch die Bewertung der Hofjuden durch die Geschichtsschreibung geprägt hat.

Über »Vornamenswahl in jüdischen Landgemeinden Südwestdeutschlands zwischen 1800 und 1900« schreibt Andrea Hoffmann und fragt, inwieweit die Namenswahl als »Indikator für Modernisierung und Akkulturation« zu werten sei. Dabei zeigt Hoffmann, dass die Vornamenswahl im Verlauf der Zeit zunehmend neutralisiert und damit die jüdisch-aufklärerische Idee von der Privatisierung des Jüdischen in die Praxis umgesetzt worden ist. Dass es gerade wohlhabende und an urbanen Verhältnissen orientierte Familien waren, welche sich am schnellsten von der Vergabe jüdischer Vornamen trennten, zeigt, dass dem Trend zum nichtjüdischen Vornamen das Bedürfnis nach demonstrativer Modernität zu Grunde lag. Kulturelles Kapital zu bilden, um im Kontext einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft an sozialer Höhe zu gewinnen, dies war eine Erfolgsstrategie der Modernisierungsgewinner. Zugleich aber verweist Hoffmann darauf, dass in den Registern bei zahlreichen Namensgebungen neben den zuerst genannten Rufnamen auch noch hebräisch geschriebene Namen verzeichnet wurden. Gleichsam als Spaltprodukt der Modernisierung kam eine parallele Namensgebung auf, wobei bislang offen bleibt, ob die jüdischen Parallelnamen im Alltag eine Rolle spielten oder aber – wie Hoffmann formuliert – »dieser Traditionalismus im religiösen Kontext eine verborgene und nur interne Entschuldungsfunktion hatte, mit dem der eigenen zur Schau getragenen Modernisierung gegengesteuert wurde« (S. 99).

Ebenfalls mit Fragen der Modernisierung setzt sich Martin Ulmer auseinander, wobei er »Moderne Großstädter« im Auge hat und im Untertitel »Aspekte jüdischer Lebenswelten in Stuttgart« ankündigt. Doch die eher vage Ankündigung weicht alsbald klaren Fragestellungen und Antworten: Ausgehend von der von Volkov (1994) übernommenen These, wonach Juden Vermittler im Modernisierungsprozess gewesen seien, inauguriert Ulmer Sozialstruktur, Wertewelten und Verhalten des jüdischen Bürgertums in Stuttgart. Die hohe Bedeutung der Bildung, die innovativen Geschäftsstrategien, die rasche Ausbreitung technischer Neuerungen und die Partizipation jüdischer Stuttgarter an der Stadtentwicklung – all dies zieht Ulmer heran, um die Modernität der Stuttgarter Juden nachzuweisen. Auch die innerjüdische Erneuerung, die Gründung der Stuttgarter Bne Briss-Loge und die Reform der Bestattungskultur scheinen geeignet, die These von der Vorreiterschaft der jüdischen Bevölkerung bei der Entwicklung eines modern-urbanen Lebensstils zu verifizieren. Dabei verweist Ulmer aber auch darauf, dass die Modernisierung in Kultusangelegenheiten verspätet und nur infolge des äußeren und inneren Drucks Einzug gehalten hat. Als Hintergründe für den Fortschrittsoptimismus der verbürgerlichten Stadtjuden nennt Ulmer zunächst drei Erklärungsansätze: 1. Die lange vor dem Kaiserreich erfolgten Vorprägungen der Juden: Handelskompetenz, Bildung, Mobilität. 2. Die Fähigkeit zur Bildung sozialen Kapitals und die Identifikation mit dem urbanen Erfolgsraum. 3. Die Ausgrenzung vom sozialen Leben des nichtjüdischen Bürgertums, die eine Adaption neuer gesellschaftlicher Normen erleichterte. Wirklich bestechend aber fällt Ulmers vierter Erklärungsansatz aus: Unter Berufung auf den Philosophen Isaiah Berlin heißt es, dass die jüdische Selbstwahrnehmung des Andersseins die Fähigkeit zu besonders subtiler Beobachtung und zur Ausbildung einer Art Vorform der Trendforschung geführt habe.

Stigmatisierung und Ausgrenzung

Über »Kontinuität und Umbruch judenfeindlicher Bildpolemik« schreibt Peter K. Klein am Beispiel von »‘Judenspottkarten‘ vom Kaiserreich zur NS-Zeit«. Bildpostkarten zählen um die vorige Jahrhundertwende zu den bedeutendsten Massenmedien und werden täglich millionenfach verschickt. Ein Anteil von 1-3% entfällt dabei auf Karten mit antisemitischem Inhalt. Käufer und Empfänger solcher Karten fanden sich vor allem in der bürgerlichen Mittelschicht. Interessant erscheint, dass die Mitteilungen auf derlei Karten selten auf die Bildmotive Bezug nehmen und insofern die Motivation zur Bildauswahl unklar bleibt. Genau dies aber – so stellt Klein richtig heraus – zeigt, dass die Motive selbstverständlicher Teil der Alltagsästhetik waren. Ob Diffamierung physiognomischer Merkmale, ob Stigmatisierung des jüdischen Handelswesens – die Liste antisemitischer Spottmotive ist lang und motivgeschichtlich ungleichzeitig. Besonders gerne aber wird Militärisches thematisiert, wobei dem Akt der Musterung herausragende Bedeutung zukommt. Anhand beispielhaft herangezogener Abbildungen wird deutlich gemacht, worauf diese Form der Spottkarten abzielt: Die angeblich minderwertige Physis der Juden. Für Klein ein Zeichen für die Popularisierung des modernen, biologisch-rassistisch argumentierenden Antisemitismus.

Ausgehend von metaphorischen Elementen im deutschen Immigrationsdiskurs versucht Uli Linke mit »The Politics of Blood« eine feministisch inspirierte Annäherung an »Antisemitic Imagineries after 1945«. Dabei wird diagnostiziert, dass die »German national order« auf einer ethno-rassischen Blutästhetik aufbaue und danach trachte, ein »pure interior« durch Abschottung zu erzielen (S. 393). Die argumentative Hauptstoßrichtung ist damit vorgegeben, denn der »German ’national body‘, in its preoccupation with interiority, closure, and cleanliness, stands opposed to the liquid female/Jewish/foreign body with its imputed contaminating influences« (S. 396). Dabei unterzieht Linke zunächst aktuelle politische Diskurse einer näheren Betrachtung, greift Stoibers Angst vor der »durchmischten und durchraßten Gesellschaft« und die Debatte über das Staatsbürgerschaftsrecht auf, unterstreicht die Bedeutung genealogischer Aspekte im Kontext dieser Diskussionen, um sodann zum Kern zu gelangen: dem »German discourse of liquidation«, der sich auf Blut bezieht. Ein Diskurs, der Sexualität und Geschlechtsidentität (»gender identity«) ebenso einschließt wie die Biologisierung des Anderen. Und mehr noch: The German disourse of liquidation […] is integrated into a pattern of domination that transforms the racial other into ’woman‘« (S. 403). Vor diesem Hintergrund werden jene Metaphern untersucht, welche den Immigrationsdiskurs bestimmen. Etwa das Bild von der Migranten-»Flut« und die Furcht, dieser Flut nicht mehr »Herr« werden zu können. Dementsprechend sieht Linke dann auch in den politischen Diskursen der achtziger Jahre das Bild von einem gepanzerten männlichen Leib (»armored [male] body«) und einer weiblichen Flut (»inundating [female] flood«). Einer Flut, der man(n) rhetorisch mit »assertions of manhood« – Gesetz, Herrschaft (»control«) und Zügelung (»containment«) zu begegnen versuche (S. 424).

»Versuchte Erdung. Oder: Der ’jüdische Beitrag‘ zur Wiener Kultur« – unter diesem Titel schreibt Konrad Köstlin über die letztlich misslungene Integration der Juden im Kontext der bürgerlich-urbanen Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert wird die »Sesshaftigkeit […] zum Merkmal der ’richtigen Völker‘« und »fehlende Sesshaftigkeit« zum »Defekt und Mangel« (S. 453). Zur gleichen Zeit wird jüdische Existenz zum Synonym von urbaner Existenz, denn die Juden machen von den neuen Bürgerrechten der freien Niederlassungswahl Gebrauch, gehen dorthin, wo es für sie interessant ist, bauen eigene Häuser, Handelsgeschäfte und Palais – und: Museen. Museen, in welchen die eigene Herkunftsgeschichte erzählt, aber auch »abgelegte und ausgelebte Kultur deponiert wird« (S. 456). Damit ist ein doppelter Anspruch manifestiert: Jener der dauerhaften Niederlassung am Ort und jener des Abschüttelns überkommener Kulturformen zugunsten der Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Unter Berufung auf Stefan Zweig argumentiert Köstlin, dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das »ausdrücklich Jüdische« keine Rolle gespielt habe: »Wenn klar ist, dass Juden dazugehören, dann ist klar dass sie dabei sind« (S. 463). So einfach ist das; zumindest dann, wenn man den Blick auf bestimmte Wiener Milieus verengt.
Das Jüdische in der Kultur nun – und hier schlägt Köstlin einen Bogen in die Nachkriegsmoderne – sei ein ausgrenzender Kunstgriff. In der Tat lassen die Tätigkeiten jüdisch-bürgerlicher Wissenschaftler, Künstler und Ärzte keine inhaltlichen Unterschiede zur Arbeit nichtjüdischer Kollegen erkennen. Thematisiert wird ihr Jüdischsein gleichwohl. Und dieses Jüdische zu suchen und zu finden ist – so Köstlin – auch dann noch ein Akt der Ausgrenzung, wenn man in philosemitischer Absicht handelt (S. 460).

Gedächtnis und Erinnerung

Einen Ausflug in das Marais, nach »Paris, rue de Rosiers« unternimmt Nina Gorgus, um am Beispiel dieses jüdischen Viertels »Von Erinnerung und jüdischer Folklore« zu künden. Le Marais: Vor Jahren noch als heruntergekommenes, gleichwohl pittoreskes Viertel bekannt gewesen, ist heute eine Art Trend-Quartier, geprägt von Boutiquen, Cafés und Restaurants und von fashionablem Nachtleben. Und mittendrin die rue des Roisiers, die den jüdischen Kern des Viertels markiert. Freitagnachmittags wird hier früher geschlossen und der Gehweg gefegt. Ein jüdisches Ambiente mit allem Drum und Dran – Gorgus spricht davon, dass die Szenerie die Vorstellung eines »intakten Judentums« erwecke (S. 512) und davon, dass das Bild den Eindruck mache, es handle sich bei dem jüdischen Marais um etwas, was schon immer da gewesen sei. Doch das Marais, das heute als das jüdische Viertel von Paris gilt, war nur eine bevorzugte Wohngegend der Juden und durchaus kein Siedlungsgebiet mit langer Geschichte. Auf das Jüdische festgelegt ist das Quartier vor allem durch die Literatur (Léo Malet, Léon-Paul Fargue, Egon Erwin Kisch). Insofern sind mit dem Viertel Bilder verknüpft, die dem Stadtteil ein jüdisches Gepräge verleihen. Für die jüdische Bevölkerung der Stadt ist das Viertel Kristallisationspunkt, denn die rue des Rosiers – so argumentiert Gorgus unter Berufung auf Halbwachs – sei ein räumlicher Rahmen, den das kollektive Gedächtnis brauche, um ihn mit Bildern zu füllen. Die rue des Rosiers – eine jüdische Straße für jene, die mit ihr spezifische Bilder verknüpfen, ein Erinnerungsort, für jene, die fremd sind, gleichwohl ein unverwechselbar jüdischer Ort, auch wenn manches, was koscher scheint, nur »koscher style« ist.

Siebenundzwanzig Beiträge auf 582 Seiten – acht dieser Beiträge konnten etwas ausführlicher gewürdigt werden, neunzehn Aufsätze hingegen mussten unberücksichtigt bleiben, wobei sich in der Entscheidung, wer oder was ausführlicher besprochen wird, vor allem die Interessenlage des Rezensenten und nicht zwangsläufig dessen Urteil über die Qualität des jeweiligen Textes reflektiert.

Die Verpflichtung zur thematischen Eingrenzung einer Festschrift hat ihre Kehrseite dort, wo Autoren etwas liefern sollen, was nicht zu ihrem thematischen »Kerngeschäft« zählt. Gleichwohl: Gemessen am Standard vergleichbarer Festschriften ist »… das Flüstern eines leisen Wehens…« durchaus noch kompakt genug geraten, um als Buch, nicht nur als Festgabe, sinnvoll zu erscheinen.

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