H. Locher u.a. (Hrsg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie

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Titel
Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie.


Herausgeber
Locher, Hubert; Markantonatos, Adriana
Reihe
Transformationen des Visuellen 1
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S., mit 29 Farb- und 127 SW-Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabelle de Keghel, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Eberhard-Karls-Universität Tübingen / Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Das Interesse des Historikers Reinhart Koselleck an der Fotografie und an der Bildforschung ist im Bewusstsein der akademischen Öffentlichkeit wenig präsent, denn der 2006 verstorbene Gelehrte ist vor allem als Begriffshistoriker bekannt geworden: Die von ihm konzipierten und mitherausgegebenen „Geschichtlichen Grundbegriffe“ sind ein Standardwerk.1 Auch seine Forschungen zu historischen Umbrüchen in der Zeitwahrnehmung wurden breit rezipiert.2 Der dritte wichtige Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit war das Totengedenken in der Denkmalskultur.3

Aus seiner Faszination für die Memorialkultur heraus fotografierte der reisefreudige Historiker viele Denkmäler in aller Welt – vorwiegend in Deutschland und Frankreich, aber auch in anderen Ländern, etwa in der Ukraine sowie in den USA. Darüber hinaus sammelte er – unterstützt durch Familie, Freundeskreis und Kolleg/innen – Postkarten, Zeitungsausschnitte und Werbematerial mit abgedruckten Fotografien. So entstand ein umfangreiches, etwa 30.000 Bilder umfassendes Fotoarchiv, das von Koselleck selbst katalogisiert und durch zusätzliche Informationen ergänzt wurde, zum Beispiel durch Reisenotizen und Korrespondenz.

2010 fand anlässlich der Übergabe von Kosellecks Fotosammlung an das Bildarchiv Foto Marburg4 eine Tagung statt, deren Ergebnisse jetzt in Form eines Sammelbandes vorliegen. Die Herausgeberin und der Herausgeber, die beide am Marburger Bildarchiv tätig sind, konnten für die Publikation zahlreiche prominente Repräsentant/innen der Bildforschung gewinnen. Die Autor/innen vertreten ein breites Spektrum an Disziplinen, das von der Kunstgeschichte und Geschichte über die Ethnologie bis zur Medienwissenschaft reicht. Ihre Beiträge behandeln verschiedene Aspekte der visuellen Kultur von der Frühen Neuzeit bis heute. Meist stehen Fotos im Mittelpunkt der Analyse, vereinzelt aber auch Filme, Gemälde und Zeichnungen. Der Band enthält drei Schwerpunkte. Etwa ein Drittel des Buches ist Kosellecks Bildnachlass und seiner Reflexion über Bilder gewidmet. Ein weiteres Drittel beschäftigt sich mit Themen und Wirkungsweisen der visuellen Kultur, denen das besondere Interesse Kosellecks galt. Das letzte Drittel der Artikel knüpft methodisch an Koselleck an.

Unter den Beiträgen über Kosellecks Schaffen sind vor allem die Texte des Kunsthistorikers Hubert Locher hervorzuheben, die am Anfang und am Ende des Sammelbandes stehen. Sie ordnen Kosellecks Arbeit in die kunst- und geschichtswissenschaftliche Forschung ein und machen deutlich, warum Koselleck den in den 1960er-Jahren in der Kunstgeschichte noch wenig gebräuchlichen Begriff der „Ikonologie“ verwendete, nicht den weiter verbreiteten Terminus der „Ikonografie“: Im Mittelpunkt von Kosellecks Interesse habe die politische Wirksamkeit von Bildern gestanden, die er nicht zuletzt auf ihre ästhetische Dimension und auf die größere Eingängigkeit des Bildes gegenüber dem Wort zurückgeführt habe (S. 25, S. 295). Deutlich weniger sei es Koselleck um die Erforschung der „Bildmotive und Inhalte“ gegangen (S. 298). Wie Locher betont, ist der Begriff der „Ikonologie“ bereits für eine frühe, kurze Skizze von Kosellecks Ansatz aus dem Jahr 1963 charakteristisch, die im Nachlass gefunden wurde und als Faksimile im Band abgedruckt ist („Zur politischen Ikonologie“, S. 295). Ausgehend von diesem Text führt Locher Kosellecks Beschäftigung mit Bildern auf dessen eigene Erfahrungen mit der Langzeitwirkung visueller nationalsozialistischer Propaganda zurück (S. 296). Ergänzend stellt Daniela Bohde fest, dass Koselleck die Arbeiten Erwin Panofskys zwar kannte, dass er jedoch ein ganz eigenes Verständnis von Ikonologie entwickelte, das nicht an Panofsky orientiert war (S. 211).

Adriana Markantonatos stellt einige Fotos aus dem Nachlass Kosellecks vor und akzentuiert dabei vor allem den Zusammenhang zwischen Fotografieren, Reisen und den unterwegs gesammelten „Er-fahrungen“ (S. 32). Direkt daran anknüpfend, beschäftigt sich Jörg Probst mit dem Phänomen der Unschärfe in den Bildern Kosellecks. Da sie nicht selten aus dem fahrenden Auto aufgenommen wurden, sind sie oft verwackelt. Dass Koselleck solche Fotos dennoch aufbewahrt hat, selbst wenn er technisch perfekte Reproduktionen desselben Motivs besaß, spricht dafür, dass sie für ihn aufgrund des Verfremdungseffekts einen eigenen Wert hatten. Probst interpretiert solche Aufnahmen überzeugend als eine „autoritätskritische oder gar anti-autoritäre Form“ (S. 78).

Unter den zahlreichen Beiträgen, die sich thematisch, methodisch oder in den behandelten Bildmotiven an Koselleck orientieren, sollen hier drei herausgegriffen werden. Sie können aufgrund der angebotenen Interpretation, wegen der gewählten Perspektive oder hinsichtlich ihrer Methodik als besonders innovativ gelten.

Michael Diers überrascht mit der Relektüre eines der meistdiskutierten Fotos aus dem Kontext der Anschläge vom 11. September 2001 in New York. Das Bild des deutschen Fotografen Thomas Hoepker, betitelt „Blick von Williamsburg“, zeigt entspannt wirkende junge Leute in Brooklyn, die sich auf einer Terrasse am Ufer des East River unterhalten, während im Hintergrund Rauch von den Twin Towers aufsteigt (S. 137).5 Anhand einer minutiösen Bildanalyse weist Diers nach, dass das Foto – anders als meist angenommen – keineswegs eine gleichgültige Reaktion auf den Terrorakt repräsentiert. Dementsprechend bezeichnet er die bisherige Rezeptionsgeschichte des Bildes (insbesondere in Internet-Diskussionsforen) als Missverständnis. Dies untermauert er mit einer Rekonstruktion des Entstehungskontextes. Hier zeigt sich, welches Potenzial in einer Kombination von Bild- und Diskursanalyse steckt, die Kosellecks Anregungen in zeitgemäßer Weise aufgreift und fortführt.

Barbara Klemm, die jahrzehntelang als Fotografin für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gearbeitet und das Bildgedächtnis in Deutschland nachhaltig geprägt hat6, schreibt als einzige Autorin im Band aus der Perspektive einer Bildproduzentin. Sie erläutert in ihrem Beitrag die Entstehungskontexte und die Komposition einiger ihrer Fotos sowie die Intentionen, die sie damit verfolgt hat. Hierdurch ergeben sich aufschlussreiche Einsichten in die Möglichkeiten und Grenzen der Visualisierung von Politik. Methodisch interessant ist der Aufsatz von Godehard Janzing, der Kosellecks Überlegungen zur „Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“ (S. 126) auf den Bereich der visuellen Kultur überträgt, indem er den Einsatz von Bild-Gegensatzpaaren in kriegerischen Auseinandersetzungen analysiert.

Wie sich in diesem schlaglichtartigen Überblick bereits andeutet, wird das Buch zwar nicht von einer verbindenden These zusammengehalten – aber doch von der wichtigen Prämisse, dass es produktiv sei, verbale bzw. textbasierte Ausdrucksformen des Politischen mit der Sprache der politischen Bildästhetik zusammenzudenken. Thematisch sind manche Artikel nur locker miteinander verbunden, vor allem dann, wenn sie lediglich einen sehr allgemeinen Bezug zu Kosellecks Werk erkennen lassen. Einen „strengen systematischen Zugriff“ zu bieten, hatten die Herausgeber/innen allerdings auch nicht beansprucht. Vielmehr sollte ein interdisziplinärer „Rundblick“ zu Kosellecks Bildarchiv und zur politischen Ikonologie unternommen werden (S. 6). Dies ist den Herausgeber/innen mit diesem anregenden Sammelband gut gelungen. Ein zusätzliches Verdienst des Buches liegt darin, dass dort viele der analysierten Bilder abgedruckt sind. So lassen sich die publizierten Analysen besser nachvollziehen, und es bleibt auch Raum für eigene Überlegungen (etwa zum eigentümlichen Zusammentreffen des hohen geschichtstheoretischen Anspruchs mit dem immer wieder aufscheinenden Humor in Kosellecks Werk). Es ist zu hoffen, dass im Verlauf der Erschließung von Kosellecks Bildarchiv weitere Publikationen entstehen. Vielversprechende Themen wären die Sammel- und Visualisierungsstrategien Kosellecks, seine Nutzung der Fotografie als Reflexionsmedium oder die Interpretation von Teilbeständen seiner Sammlung als Reiseberichte. Auch bestimmte Untersuchungs- und Darstellungsmethoden ließen sich im Anschluss an Koselleck weiter ausbauen, etwa die Arbeit mit Bild-Gegensatzpaaren oder die Kombination von Bild- und Diskursanalyse.

Anmerkungen:
1 Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997. Aus der inzwischen recht umfangreichen Sekundärliteratur siehe etwa Hans Joas / Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main 2011.
2 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979; Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000.
3 Ders. / Michael Jeismann (Hrsg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Reinhart Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998.
4 Der schriftliche Nachlass und Kosellecks Bibliothek befinden sich seit 2008 im Deutschen Literaturarchiv Marbach und werden dort erschlossen; mit dem Bildarchiv Foto Marburg besteht eine enge Kooperation.
5 Das Foto findet sich auch hundertfach im Internet; siehe etwa Norbert Denkel, Thomas Hoepkers 9/11-Foto und seine Geschichte, in: Tagesspiegel, 09.09.2011, <http://www.tagesspiegel.de/kultur/raserei-und-stillstand-thomas-hoepkers-9-11-foto-und-seine-geschichte/4594932.html> (24.05.2014).
6 Vgl. etwa: Fotografie als visuelle Geschichtsschreibung. Ein Gespräch mit Barbara Klemm, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 246-265, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Klemm-2-2005> (24.05.2014).