P. Simonson u.a. (Hrsg.): The Handbook of Communication History

Cover
Titel
The Handbook of Communication History.


Herausgeber
Simonson, Peter; Peck, Janice; Craig, Robert T.; Jackson, John
Reihe
ICA Handbook Series
Erschienen
London 2012: Routledge
Anzahl Seiten
511 S.
Preis
£70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Stöber, Institut für Kommunikationswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Titel sind Versprechen. Von einem Handbuch erwartet man in der Regel eine kompetente Einführung in alle Belange des behandelten Objekts; bei einem internationalen Handbuch ist das kaum einzulösen. Vergleichen wir den ersten Eindruck, die Ansprüche der Herausgeber und die eigenen Wünsche und Vorstellungen. Hier beeindruckt zunächst die Liste prominenter Beiträger, die die Herausgeber gewinnen konnten: Allen voran wären sicherlich Peter Burke und Lucien Sfez zu nennen. Den deutschen Leser/innen bestens bekannt dürften auch Joseph Seethaler und Andreas Fickers sein. Die Belesenheit der Autorinnen und Autoren ist stupende. In einem Fall (Gender and Media von Karen Ross) ist die Literaturliste fast länger als der zugegeben knappe Beitrag. Das, was die insgesamt 30 Beiträge liefern, sind fast durchweg Miszellen. Allerdings fehlt es leider bisweilen an kritischer Distanz zu der referierten Literatur.

Die Miszellen referieren die Kommunikationsgeschichtsschreibung in fünf Abschnitten, die lakonisch und daher erklärungsbedürftig überschrieben sind mit: „Field“, „Modes“, „Media“, „Society“ und „World“. Der erste Part umreißt das Allgemeine, das Feld: als Geschichte der Kommunikationsgeschichte, als Geschichte der Mediengeschichte, als Geschichte der Kommunikationsforschung. Der zweite Abschnitt behandelt das Publikum, die Rhetorik, Konversation, die visuelle Kommunikation und die Musik-Kommunikation. Im Dritten werden Pressemedien, Journalismusgeschichte, die Geschichte der Telekommunikation, die des Radios, des Fernsehens und der „new Media“ geschildert. Filmgeschichte wird nur als Unterabschnitt zur visuellen Kommunikation behandelt. Im vierten, gesellschaftsbezogenen Kapitel sind die Stadt, Wissenschaftskommunikation, politische Kommunikation, Kommunikation und Medien der Arbeiterbewegung, Kriegsberichterstattung, Genderfragen, „Race“ und die Geschichte der Organisationskommunikation die Themen. Medienökonomie fehlt. Der fünfte Teil verfolgt einen geografisch-kulturellen Zugriff: zu Latein-Amerika, Indien und China, Afrika, zum islamischen Kulturkreis, zu jüdischen Medien, zu Ostasien. Nordamerika und Europa werden nicht nochmals behandelt. Die 28 Beiträge sind gerahmt durch eine Einführung und einen essayistischen Ausblick auf die Zukunft der Kommunikation – nicht der Kommunikationsgeschichte.

Um die eingangs formulierte Kritik einzuordnen, sei, bevor die Kritik mit Argumenten unterfüttert wird, vorab ein großes, allerdings auch etwas ambivalentes Lob ausgesprochen: Obwohl der Rezensent sich eine durchaus profunde Literaturkenntnis zugutehält, sind in diesem Handbuch so viele ihm unbekannte oder wieder vergessene Titel genannt, dass er in seinem akademischen (und wohl auch physischen) Leben nicht dazu kommen dürfte, die Liste abzuarbeiten.

Ein erster Kritikpunkt dürfte die Herausgeber nicht überraschen, denn in ihrer Einführung bekunden sie selbst das Defizit, einen zu starken Bias Richtung amerikanischer und europäischer Forschung zu verfolgen (S. 15). Einen deutschen aktuellen kommunikationshistorischen Schwerpunkt, der behauptet wird (ebd.), kann ich aber nicht erkennen: Denn betrachtet man die neuere deutsche kommunikationshistorische Forschung, so sind fast ausschließlich Leerstellen zu benennen.1 Außer auf Jürgen Wilke und Knut Hickethier wird auf fast niemanden rekurriert. Die immens fruchtbare Forschung der Bremer oder Dortmunder Presseforschung oder der Berliner oder Leipziger oder Münchner Kommunikationswissenschaft aus den vergangenen Jahrzehnten wird komplett ignoriert. Weder fallen Stichworte wie „Intelligenzblätter“ oder „Volksaufklärung“, noch werden die Arbeiten von Elger Blühm und Else Bogel, Holger Böning, Hans Bohrmann, Astrid Blome, Ansgar Diller, Gabriele Toepser-Ziegert, Martin Welke, Johannes Weber – um nur einige zu nennen – herangezogen. Auch Medienwissenschaftler wie Werner Faulstich und Filmwissenschaftler wie Hans Helmut Prinzler, Anton Kaes, Hans Jürgen Wulff oder Harro Segeberg tauchen nicht auf. Im Beitrag zu den jüdischen Medien fehlen die Arbeiten von Michael Nagel, im Wissenschaftsjournalismus die von Böning oder Reinhard Siegert; im Rhetorik-Kapitel wird nicht einmal das große Lexikon von Gert Ueding angegeben. Von den vielfältigen Arbeiten zur Professionalisierungsforschung und Wissenschaftsgeschichte von Arnulf Kutsch, zur nationalsozialistischen Propaganda von Bernd Sösemann, zu etlichen Feldern kommunikationshistorischer Forschung von Michael Meyen wird keine Notiz genommen. Von Wolfgang Behringer fand ich zwar ein älteres Werk behandelt, nicht aber sein großes zu Reichspost und frühen Zeitungen.2 Wo bleibt eine Referenz auf die neuere, großartige Studie von Cornel Zwierlein zum Zusammenhang von Diplomatenkorrespondenz und Nachrichtenwesen in der Renaissance3? Und warum fehlt der Name des mutmaßlichen „Erfinders“ der Zeitung, des Straßburger Buchdruckers und Avisenschreibers Johann Carolus?

Wenn deutsche Wissenschaftler und deren Arbeiten genannt werden, dann vor allem zwei: Friedrich Kittler und Jürgen Habermas. Diese beiden Autoren tauchen fast in jedem Betrag auf. Bei aller Wertschätzung für das große Werk des kritischen Sozialphilosophen und Leitintellektuellen Habermas und in vollem Bewusstsein dessen, dass das Habermas-Bashing in kommunikationshistorischen und allgemein historischen Kreisen ebenso à la mode wie wohlfeil ist: Als historischer Empiriker hat sich Habermas keine bleibenden Verdienste erworben. Und zum sicherlich zu früh verstorbenen und sicherlich – da provokant – auch anregenden Kittler nur ein kritisches Zitat aus dem Handbuch: Andreas Fickers schreibt, Kittler und die „Kittler-school“ seien „mainly interested in an a-historical, constructivist analysis of past media practices and discourses“ (S. 242). So ist es. Ansonsten wird Kittler für ein kommunikationshistorisches Handbuch geradezu panegyrisch überhöht.

Ebenso unverständlich ist die Fortschreibung älterer Literatur. Rolf Engelsing und Rudolf Schenda (vgl. S. 186) stehen zwar immer noch im Diskurs, aber Schendas „Volk ohne Buch“ ist durch neuere Forschungen, unter anderem von Böning, in zentralen Punkten widerlegt. Und Engelsings Trend vom intensiven zum extensiven Lesen ist ebenso plausibel wie – jenseits von Einzelzeugnissen – schwer generalisierbar.

Liest man das Handbuch gegen den Strich, macht man somit eine erstaunliche Beobachtung: Ausgerechnet die akademische Teildisziplin, die in Deutschland „Kommunikationsgeschichte“ genannt wird – und für die ein eigenes Jahrbuch herausgegeben wird –, liegt im blinden Fleck des Handbuchs.4 Allenfalls deren ältere Vorstufe, die Zeitungswissenschaft, findet Erwähnung. Der Fokus der Miszellen liegt entweder auf der sozialwissenschaftlich-kommunikationswissenschaftlichen Publizistikforschung (angefangen mit Paul Lazarsfeld, Elihu Katz, George Gerbner, Robert K. Merton und anderen sozialwissenschaftlichen Heroen) oder ist zentriert auf die Ansätze der „cultural studies“ und der Medienwissenschaften. Vielfältig redundante Verweise auf Kittler, Marshall McLuhan, Harold Innis, aber auch Jacques Derrida, Michel Foucault, die kritische Frankfurter Schule, angefangen mit Max Horkheimer und Theodor Adorno bis hin zu postmodernen Kulturkritikern wie Neil Postman und Joshua Meyrowitz, ziehen sich durch das Buch.

Dazu passt, dass Kritik nur im Sinne der kulturkritischen Theorie von Adorno über Walter Benjamin bis Habermas verwendet wird. Kritik im Sinne des kritischen Rationalismus oder gar der historischen Quellenkritik wird nicht behandelt. Ein Beispiel, um zu illustrieren, was diese soll, sei auf David Sarnoffs berühmtes Zitat verwiesen, in dem er für sich den one-to-all-Modus des Radios als „musical box“ reklamierte. Das Zitat darf auch hier nicht fehlen (S. 69), allerdings spricht alles dafür, dass es vom späteren Präsidenten der Radio Corporation of America einige, und zwar entscheidende Jahre zurückdatiert wurde. Damit wollte er die geistige Urheberschaft für ein innovatives Kommunikationskonzept beanspruchen. Zur Kommunikationsgeschichte würde daher die quellenkritische Kontextualisierung und Relativierung gehören. Aber auch diese Kritik dürfte die Herausgeber nicht ganz unvorbereitet treffen, denn sie notieren: „communication history still rarely meets the standards of professional historians“ (S. 40). Der einzige Beitrag, der in dieser Beziehung die entscheidenden Fragen, Methoden und Autoren nennt, ist wieder der von Fickers. Nur dort werden Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey erwähnt, welche die Standards der Quellenkritik entwickelten (S. 245). Nur Fickers reflektiert Quellen, deren Zugänglichkeit, die Fragestellung und die Methoden historischer Quellenkritik (S. 239f.)

Zu dieser zentralen Kritik sei aber sogleich eine Einschränkung gemacht: Da zumindest einige Beiträger durchaus dafür bekannt sind, quellenkritisch gearbeitet zu haben (nicht zuletzt Burke, Fickers, Seethaler und andere mehr), muss diese Fehlstelle wohl entweder auf eine Entscheidung der Herausgeber oder gar des Verlags zurückgehen. Wie dem auch sei: Die methodischen Defizite sind mehr als bedauerlich.

Titel sind Versprechen. Wie eingangs schon zugestanden wurde, sind sie bei einem internationalen Handbuch für Kommunikationsgeschichte so groß, dass man ihre Einlösung nicht erwarten darf. Was man allerdings hätte erwarten dürfen, ist angesichts der selbstgestellten Ansprüche der Herausgeber, dass eine nicht ganz ungewichtige nationale Kommunikationsgeschichte wie die deutsche auch mit ihren neueren empirischen Ergebnissen berücksichtigt wird. Ob das hinsichtlich anderer nationaler Kommunikationsgeschichten jenseits der anglophonen Welt ebenso lückenhaft geschehen ist, konnte hier nicht geprüft werden. Was man ebenfalls hätte erwarten müssen, ist eine angemessene Erörterung methodischer und quellentheoretischer Fragen. Hier ist die augenfälligste Leerstelle. Worauf ich hätte verzichten können, ist die redundante Referenz auf mediengeschichtlich-philosophische, teils hochspekulative Literatur. Nicht dass die nicht anregend wäre, aber sie bedarf der Erdung durch Empirie. Die aber ist nur zu leisten, wenn Überlieferungschancen und Belastbarkeit der Quellen sowie die verschiedenen Ansätze der historischen Beschäftigung mit Medien, Öffentlichkeit und Kommunikation erörtert werden.

So bleibt als Fazit: Eine verdienstvolle miszellenartige Zusammenstellung der Literatur? Ja. Der Rezensent hat mehr Lesestoff genannt bekommen, als er bis an sein Lebensende wird bewältigen können. Ein komplettes kommunikationshistorisches Handbuch? Nein. Das Titel-Versprechen bleibt uneingelöst und hat nicht nur verzeihliche Erwartungen geweckt.

Anmerkungen:
1 Stellvertretend für Unmengen nicht berücksichtigter Literatur der Hinweis auf einige Festschriften und Sammelbände: Otfried Jarren / Gerd G. Kopper / Gabriele Toepser-Ziegert (Hrsg.), Zeitung. Medium mit Vergangenheit und Zukunft. Eine Bestandsaufnahme. Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstages von Hans Bohrmann, München 2000; Stefanie Averbeck-Lietz / Petra Klein / Michael Meyen (Hrsg.), Historische und systematische Kommunikationswissenschaft. Festschrift für Arnulf Kutsch, Bremen 2009; Carsten Reinemann / Rudolf Stöber (Hrsg.), Wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft. Festschrift für Jürgen Wilke, Köln 2010; Patrick Merziger et. al. (Hrsg.): Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2010; Martin Welke / Jürgen Wilke (Hrsg.): 400 Jahre Zeitungen. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext, Bremen 2007; vgl. die Rezension von Thomas Birkner, in: H-Soz-u-Kult, 25.04.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-069> (17.09.2013).
2 Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur: Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003.
3 Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, Göttingen 2006; vgl. die Rezension von Susan Boettcher, in: H-Soz-u-Kult, 29.10.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-087> (17.09.2013).
4 Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Stuttgart 1999ff.