H. Renders u.a. (Hrsg.): Theoretical Discussions of Biography

Cover
Titel
Theoretical Discussions of Biography. Approaches from History, Microhistory, and Life Writing


Herausgeber
Renders, Hans; de Haan, Binne
Reihe
hors série
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 433 S.
Preis
$ 169.95 / £ 109.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg

Diese Aufsatzsammlung hinterlässt bei mir einen etwas zwiespältigen Eindruck. Die Herausgeber, Direktor bzw. Mitarbeiter des „Biografie Instituut“ an der niederländischen Universität Groningen, verstehen ihren Band einerseits als einen aktuellen Kommentar zum Genre Biografie, zugleich als Handbuch, „in which one can learn what microhistory and Life Writing are“ (S. 11). Die Beiträge sind zwischen 1989 und 2011 erschienen und werden durch ein Vorwort sowie eine „Keynote Address“ des Biografen und Biografiehistorikers Nigel Hamilton gerahmt. Sechs kürzere Artikel aus den Jahren 1856 und 1932 sowie von 2006 bis 2012 sind in einen Appendix ausgelagert. Richtig aktuell sind die Kommentare also nicht, und für ein Handbuch werden zu viele Themen gar nicht erst angesprochen.1

Der erste Teil gibt Einblicke in die Geschichte der Biografie, der zweite verbindet Biografie und Geschichtsschreibung, der dritte führt in die Mikrogeschichte ein, der vierte und letzte Teil differenziert zwischen „Biography“ und „Life Writing“. Und diese Differenz bestimmt das Thema des gesamten Buches: Die Biografie soll gegen eine Hegemonie des „Life Writing“ verteidigt werden, die Erstere zu vereinnahmen suche. Letzteres wird deshalb in einer ganzen Reihe von Beiträgen eher polemisch behandelt. „Life Writers“, so lautet der zentrale Vorwurf, würden das „exceptional typical“ (Hans Renders, S. 200) unkritisch als Repräsentation ganzer sozialer Gruppen nehmen: „So a diary of a disabled person or a gay person according to Life writers [sic] tells us something about all people with disabilities and homosexuals, regardless of their historical context.“ (S. 201) Aber es seien bewusst nur unschuldige Opfer sozialer Umstände, die sie in den Blick nähmen, nicht etwa südafrikanische Rassisten oder Wehrmachtssoldaten an der Ostfront. Sie läsen nur Ego-Dokumente und versuchten „to correct history from an ideological view of how the world should look like“ (S. 208). Der „Life Writer“ erkläre das Subjekt als „sacred and infallible“: „Every bit of information that the Life Writer obtains from the subject is considered exciting and worthwhile.“ (S. 262)

Die Biografie dagegen wird den historischen Wissenschaften zugeordnet – deshalb auch der lange Abschnitt zur Mikrogeschichte, der für Historiker kaum Neues bietet. Die Autoren sehen eine Konvergenz der Mikrogeschichte mit der „New Biography“ im Interesse an nichtlinearen Erzählungen, Montagen, multiplen Perspektiven und Brüchen. Anders als „Life Writers“ setzten sich sowohl Biografen wie auch Historiker intensiv und kritisch mit ihren Quellen auseinander. Sie beschrieben Individuen, „using actually all the resources they can find, in order to gain better insight with regard to general issues“ (S. 202f.). Deshalb sei es der Wahrheitsanspruch, der Biografie und „Life Writing“ letztlich trenne; wenig überraschend wird Letzteres dann als eine Art „Creative Writing“ disqualifiziert. (Nur eine Autorin, Marlene Kadar, darf am Ende des Bandes das „Life Writing“ als kritische Praxis persönlicher Emanzipation verteidigen.)

Die Frontstellung der Herausgeber und der Autoren ist also klar. Doch was dies für das Problem der Biografie bedeutet, bleibt unterbelichtet. Solides Handwerk wird gefordert, das man bei den (Mikro-)Historikern lernen könne; das Missverständnis wird kritisiert, Fakten sprächen für sich selbst und bedürften keiner Theorie; und die Hindernisse auf dem Weg zu einer systematischen Biografieforschung werden beschrieben. Der Leser findet natürlich eine ganze Reihe interessanter Beobachtungen und Hinweise, was den Charakter einer Biografie ausmacht. Aber es mutet schon etwas irritierend verstaubt an, wenn in einem der Kapitel (aus dem Jahre 1989) Prosopografie, Kontextualisierung und Hermeneutik angepriesen werden als „new paths which those are traveling who are attempting to use biography as an historical instrument of knowledge and want to replace the traditional, linear and factual biography, which nevertheless continues to exist and continues to do well“ (Giovanni Levi, S. 105f.), oder wenn – 2007! – die Nutzung von Ego-Dokumenten durch Biografen begrüßt wird (Hans Renders, S. 260). In methodischer Hinsicht stellt der Sammelband ganz gewiss kein Handbuch dar.

Aber auch die theoretische Reflexion kommt zu kurz. Dass die Biografieforschung seit längerem herausgearbeitet hat, dass die Biografie ein komplexes Genre darstellt, das keine eindeutige Beziehung zwischen Individuum und Text festschreibt, ist an dem vorliegenden Band größtenteils vorbeigegangen. Für die Herausgeber und Autoren mögen Biografien als Textgattung eine Angelegenheit sein, über die man reflektieren muss; die ihnen angeblich zu Grunde liegende Entität, das Individuum, stellt für sie dagegen kein Problem dar: „An individual has clear boundaries.“ (Levi, S. 89) Es gebe zwar keine „clear-cut definition of what constitutes a good biography“ (Renders, S. 60), aber einen Grundkonsens: Sie müsse gut geschrieben sein, alle verfügbaren Quellen einbeziehen, jede Behauptung durch Quellen belegen, das öffentliche durch das Privatleben des Protagonisten erklären und kontextualisieren sowie ein Leben in Relation zum gesamten historischen Kontext begreifen. Das ist ein Ansatz, der bereits im frühen 20. Jahrhundert propagiert wurde, und nach diesem Muster werden bis heute Dutzende von Lebensbeschreibungen verfasst – mal besser, mal schlechter. Dass jedoch Texte wie David E. Nyes „Anti-Biografie“ Thomas A. Edisons (1983) oder Roland Barthes’ dekonstruierende „Autobiografie“ (1975) die Einheit des Subjekts als eindeutigen Referenzpunkt einer Biografie schon vor längerer Zeit in Frage gestellt haben, ist dem Band keine Erwähnung wert. Die Frage, wie Geschlechterdifferenzen durch biografische Strukturen (und Texte!) geprägt werden, was umgekehrt das Genre Biografie prägt, spielt ebenso wenig eine Rolle – also die Frage nach ganz konkreten Machteffekten von Biografien. Die sozialwissenschaftliche Biografieforschung, die untersucht, welche gesellschaftlichen Institutionen als „Biografiegeneratoren“ (Alois Hahn) wirken und die Lebensläufe von Menschen strukturieren (die dann biografiert werden), bleibt ausgeblendet. Wie eigentlich die Quellenkorpora entstehen, auf die Biografen ihre Studien gründen, und welchen Einfluss diese auf den biografischen Text haben, interessiert die Autoren nicht.2

Insofern ist es vermessen, wenn Nigel Hamilton im letzten Beitrag, einem Grußwort, einen Nobelpreis für Biografen fordert, um zu zeigen, „how important biography has become in our society“ (S. 353). Nobelpreise sollen für außergewöhnliche (intellektuelle) Leistungen verliehen werden, nicht für schiere Präsenz in den Regalen der Buchhandlungen. Denn die wirklich originellen, herausragenden Biografien kann man an wenigen Fingern abzählen. Und der vorliegende Sammelband ist in dieser Hinsicht auch keine überzeugende Bewerbungsschrift, sondern eher eine Kampfschrift innerhalb eines Konflikts im Feld der Biografik um Ressourcen und Deutungshoheit.

Anmerkungen:
1 Vgl. die ungleich breitere Themenpalette in: Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009 (rezensiert von Peter M. Quadflieg, 30.3.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-244> [5.7.2013]).
2 Vgl. zusammenfassend Thomas Etzemüller, Biografien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt am Main 2012, bes. S. 48–152.

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