S. U. Tjarks: Das "Venezianische" Stadtrecht Paduas von 1420

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Titel
Das "Venezianische" Stadtrecht Paduas von 1420. Zugleich eine Untersuchung zum statutaren Zivilprozess im 15. Jahrhundert


Autor(en)
Tjarks, Sven Ufe
Reihe
Studi. Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig - Centro tedesco di Studi Veneziani N.F. 7
Erschienen
Berlin 2013: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
XX, 497 S.
Preis
€ 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Schlinker, Institut für Rechtsgeschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Die hier vorzustellende Arbeit von Sven Ufe Tjarks zum Stadtrecht Paduas von 1420 ist im Jahr 2012 von der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen worden. Die Handschrift der Statuten aus dem Jahre 1420 mit dem lateinischen Originaltext befindet sich im dortigen Stadtarchiv, der Biblioteca Civica (S. 6, 12). Hergestellt wurde die Handschrift, nachdem Padua von der Republik Venedig erobert worden war und aufgrund der neuen politischen Verhältnisse Anpassungen an das städtische Recht erforderlich wurden. Von den insgesamt circa 750 Manuskriptseiten entfallen circa 230 Seiten auf das zweite Buch des Stadtrechts, das dem Zivilprozessrecht gewidmet ist (S. 4f.). Bis zum Jahr 1806 sind diese Regelungen in Geltung und von praktischer Bedeutung geblieben (S. 426ff.). Die übrigen Bücher des Stadtrechts handeln von der städtischen Verfassung, dem Straf- und Strafprozessrecht, den Beziehungen der Stadt zum Klerus sowie von Steuern und Abgaben. Angesichts des Gesamtumfangs des Stadtrechts hat Tjarks mit der Konzentration auf den Zivilprozess eine sinnvolle Auswahl getroffen, noch dazu deshalb, weil seine juristische Ausbildung das Verständnis des spätmittelalterlichen Prozessrechts sicher erheblich gefördert hat.

Nach einer kurzen Geschichte der Textüberlieferung (S. 19ff.) und der Stadt Padua (S. 39ff.) widmet sich Tjarks zunächst den Verhandlungen über die Statutenreform (S. 65ff.), die er dank umfangreicher Archivstudien lebendig und anschaulich schildern kann. Hier werden die beteiligten Personen vorgestellt, ihre Interessenlagen herausgearbeitet sowie die Rechtsgrundlagen für die Reform erörtert. Aufgezeigt werden die Einflüsse des römisch-kanonischen Rechts einerseits und des venezianischen Rechts andererseits. Die inhaltlichen Veränderungen des Stadtrechts im Zuge der Reform finden ihre Darstellung sodann jeweils bei den einzelnen Rechtsinstituten (S. 373ff.).

Der Hauptteil der Analyse ist dem Prozessrecht von 1420 gewidmet, insbesondere dem Erkenntnisverfahren in erster Instanz und der Appellation, während das Vollstreckungsverfahren nur soweit berücksichtigt wird, als es in zeitgenössischer Systematik im Rahmen der Säumnis von Belang ist (S. 127ff.). Zunächst wird die Gerichtsverfassung von Padua dargestellt (S. 129ff.), danach kommen die in den Statuten enthaltenen Verfahrensgrundsätze, insbesondere die Gleichheit der Parteien vor Gericht und der Anspruch auf rechtliches Gehör zur Sprache (S. 139f.). Im Rahmen der Rechtsquellenlehre, die sich in Padua nach dem Vorbild der Statutentheorie richtet (S. 141ff.), geht Tjarks dankenswerterweise auch auf die Sonderstellung Venedigs ein. Auch dort hatten die städtischen Statuten Vorrang, soweit sie eine Regelung für den Streitfall enthielten. Bei Lücken in den Statuten sollten die Richter aber zunächst in Analogie zum Stadtrecht urteilen und, wenn das nicht möglich war, nach der Gewohnheit. Eine subsidiäre Anwendung des ius commune wurde daher in den venezianischen Gerichten möglichst vermieden. Die von Tjarks kurz diskutierte Frage, inwieweit römisches Recht überhaupt in Venedig Geltung beanspruchte, bedarf aber wohl noch weiterer Forschungen. Insofern ist auch zu überlegen, ob das ius commune für Kaufleute wirklich so attraktiv war, wie Tjarks meint (S. 143). Denn die Kaufleute der Republik Venedig hatten ein erhebliches Interesse daran, einerseits die Rechtsprechung in der eigenen Hand zu behalten und andererseits den Einfluss der Träger des ius commune, die kirchlichen Gerichte und die gelehrten Juristen, zurückzudrängen.

Zu Beginn der Analyse des Prozessverlaufs weist Tjarks zu Recht darauf hin, dass der Aufbau der Statuten nicht unseren modernen systematischen Vorstellungen folgt, sondern aus der Perspektive des Rechtsanwenders in der jeweiligen prozessualen Situation entworfen und geordnet ist (S. 156). So folgen die Bestimmungen weitgehend dem Ablauf eines Prozesses und den dabei möglicherweise auftretenden Problemen (S. 155ff.). Entscheidend war stets der jeweilige Gerichtsgebrauch (stylus curiae), worauf Tjarks zu Recht hinweist (S. 155ff., 438). Als Regelfall schildern die Statuten den ordentlichen Prozess (S. 280ff.), als Ausnahme das summarische Verfahren, obwohl es gerade das summarische Verfahren war, nach dessen Bestimmungen der weitaus größte Teil der Alltagsstreitigkeiten verhandelt wurde und der somit die Praxis prägte (S. 265ff.). Das Stadtrecht hat hier im Wesentlichen die Clementine 5.11.2 umgesetzt, die ihrerseits aber – wie man wohl sagen muss - auf die Gerichtspraxis reagiert hat.

Im Rahmen der Bestimmungen zur Säumnis wird präzise die Besitzeinweisung erörtert, die auch im gelehrten römisch-kanonischen Prozessrecht eine wichtige Rolle spielt. In Padua findet sich daneben noch eine eigenständige Rechtsfigur, die tenuta (S. 177ff.), die wahrscheinlich angewandt wurde, wenn der völlig überschuldete Beklagte aus der Stadt geflohen war, dort aber Vermögen zurückgelassen hatte, das dem Kläger gerichtlich zugewiesen werden konnte. Ausführlich beschäftigt sich Tjarks sodann mit dem Ehegüter- und dem Erbrecht der Frau (S. 202ff.) und kann hier schöne Erkenntnisse zu Tage fördern, etwa zur Weiterentwicklung des Stadtrechts im Rahmen konkreter Streitfälle zur weiblichen Erbfolge und zur Mitgift. Nicht eindeutig positioniert er sich dagegen zur freien Beweiswürdigung des Richters. Die Meinungen in der Forschung sind hier durchaus kontrovers. Gegenwärtig hat sich aber meines Erachtens zu Recht die Ansicht durchgesetzt, dass der Richter im gemeinen Prozessrecht in der Bewertung einer Zeugenaussage und hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Beweismitteln einen nicht unerheblichen Entscheidungsspielraum hatte. Hinsichtlich des Urteils zeigt sich in Padua die verbreitete Praxis, dass der Richter zwar das Urteil selbst fällen und verkünden konnte, aber auch einem Rechtsgelehrten den Auftrag erteilen durfte, ein Gutachten über den Streitfall zu erstellen, an das der Richter nach den Statuten gebunden war und das daher vom Richter als Urteil verkündet werden musste (S. 348ff., 365f.). Hier weist Tjarks zu Recht auf den Hintergrund der podestá-Verfassung und die Gefahr einer Anklage im Syndikatsprozess hin (S. 361ff.). Naheliegend ist, dass die Regelung der Appellation konfliktträchtig gewesen ist (S. 388ff.). Hier musste Venedig aus Gründen der Territorialstaatsbildung auf der Verhandlung vor einem venezianischen Gericht bestehen.

Zusammenfassend kann Tjarks festhalten, dass sich das Stadtrecht in seiner Terminologie, den leitenden Grundsätzen und Instituten sowie im Ablauf weitgehend am römisch-kanonischen Prozessrecht orientiert hat (S. 435, 441). Allerdings sind Elemente der Mündlichkeit in Padua stärker ausgeprägt als allgemein für den gelehrten Prozess behauptet wird, etwa in Form mündlicher Stellungnahmen zum positionierten Vorbringen des Prozessgegners (S. 435f.). Hier trägt die Arbeit von Tjarks dazu bei, das Bild der Forschung zu korrigieren. Bernhard Diestelkamp hat im Übrigen für das Reichskammergericht nachweisen können, dass auch dort trotz des grundsätzlich schriftlichen Verfahrens partiell mündlich verhandelt wurde.

Angesichts dieser im höchsten Maße lobenswerten Quellenarbeit und Stoffbeherrschung ist es erstaunlich, dass die neuere deutschsprachige Forschungsliteratur von Tjarks kaum zur Kenntnis genommen wird. Die zahlreichen Arbeiten von Knut Wolfgang Nörr zum gelehrten Prozessrecht1 werden ebenso wenig herangezogen wie die Studien von Peter Landau2 oder die Arbeit des Rezensenten zur litis contestatio.3 Das hätte sich für das Institut der Besitzeinweisung, für die Säumnis, das summarische Verfahren und insbesondere die litis contestatio selbst angeboten, um deren Sinn und Funktion in der spätmittelalterlichen Lebenswelt zu erläutern (dort S. 202ff., 265ff., 645ff.).

Abschließend ist jedoch zu unterstreichen, dass Tjarks ein sehr anspruchsvolles Dissertationsthema souverän gemeistert hat. Er hat eine tiefgründige und methodisch sorgfältige Arbeit vorgelegt, die auf eigenen umfassenden Archivstudien und der Auswertung der italienischen Literatur beruht. Das Buch ist im Übrigen, auch das muss lobend hervorgehoben werden, gut lesbar geschrieben und zeichnet sich durch eine präzise und terminologisch sichere Sprache aus, so dass der Rezensent nur mit einer Gratulation schließen kann.

Anmerkungen:
1 Zuletzt: Knut Wolfgang Nörr, Romanisch-kanonisches Prozessrecht, Heidelberg 2012.
2 Peter Landau, Die Anfänge der Prozessrechtswissenschaft in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts, in: Orazio Condorelli / Franck Roumy / Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. 1, Köln 2009, S. 7–24.
3 Steffen Schlinker, Litis Contestatio. Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008.