T. Schwager: Militärtheorie im Späthumanismus

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Titel
Militärtheorie im Späthumanismus. Kulturtransfer taktischer und strategischer Theorien in den Niederlanden und Frankreich (1590–1660)


Autor(en)
Schwager, Therese
Reihe
Frühe Neuzeit 160
Erschienen
Berlin 2012: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIV, 824 S.
Preis
€ 149,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Marco Sawilla, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Gerhard Oestreichs Beobachtung, dass „die militärische Reform der Nassau-Oranier […] wesentlich getragen von der römisch-stoischen Weltanschauung, ja – ich möchte sagen – durch sie erst ermöglicht“ worden sei, ist allen bekannt, die sich mit frühneuzeitlicher Ideen- oder Militärgeschichte befasst haben.1 Diese Formel verdankt ihre Wirkung sicherlich nicht der Präzision, mit der Oestreich sie erarbeitet hatte. Vielmehr profitierte sie von der Evidenz, die sie erzeugte, indem Oestreich auf scheinbar schlagende Weise die intuitiv getrennten Bereiche der hohen Ideen und des (Spät-)Humanismus mit der Reorganisation des Wehrwesens verschaltete. Das sich professionalisierende Kriegswesen trat aus seiner Perspektive als Nukleus moderner Vergemeinschaftung in Erscheinung, indem weniger die Äußerlichkeit des Drills als vielmehr ein ethisch determinierter Prozess der Fremd- und Selbstdisziplinierung dazu beigetragen habe, ständische Werte zu modifizieren und Entscheidungskompetenzen funktional zu staffeln.

Vor diesem Hintergrund greift Therese Schwagers Studie zur Militärtheorie im Späthumanismus, die aus einer 2008 an der Universität Potsdam eingereichten Dissertation hervorgegangen ist, auf komplexe Weise in aktuelle Forschungslagen ein. Sie verfolgt die Frage, welche Bedeutung die Aktualisierung antiker Kenntnisse für die Formierung militärtheoretischen Wissens in den Vereinigten Provinzen und in Frankreich zwischen 1590 und 1660 besaß. Auf der einen Seite grenzt sich Schwager von der im Kontext der Debatten um die Military Revolution zu beobachtenden Tendenz ab, Veränderungen des Wehrwesens vor allem organisations- und effizienztheoretisch zu erklären.2 Auf der anderen Seite distanziert sie sich von den an Oestreich und seine Rezeption anschließenden Versuchen, militärische und soziale Disziplinierung zu verkoppeln und modernisierungstheoretisch nutzbar zu machen. Worin liegt die Eigenart ihres Zugriffs?

Vereinfacht gesagt sucht sie, im Rückgriff auf die Ansätze der Cambridge School und die Kulturtransferforschung, den Zusammenhang neu zu evaluieren, der zwischen der Konstituierung gelehrten und politischen Wissens und den materiellen Voraussetzungen der militärischen Reformen bestand. Näherhin arbeitet sie sich an zwei fundamentalen zeitgenössischen Problemzusammenhängen ab, die sich von Schwagers Ergebnissen her gedacht folgendermaßen konkretisieren lassen:

1. In einer Zeit, in der Krieg nicht mehr (nur) als Ausnahmezustand oder defensives Unterfangen denkmöglich war, begann sich eine Epistemologie des Politischen abzuzeichnen, die von der militia als einer der Ermöglichungsbedingungen politischer Gemeinwesen kaum mehr absehen konnte. Von da an war politische ohne militärische Theorie kaum mehr zu schreiben.

2. In diesem Prozess des sich seit um 1600 beschleunigenden Umbaus der normativen Grundlagen frühneuzeitlicher Vergemeinschaftung spielten die antiken Traditionen sowohl als Informationsträger als auch als Medien militär- und staatstheoretischer Selbstreflexion eine grundlegende Rolle. Sie gestatteten es, die Autorität des alten für die Beschäftigung mit neuem Wissen zu nutzen, um den Komplex der Militärtheorie in eine sozial akzeptierte sowie der Interaktion und didaktischen Vermittlung zugängliche Form zu überführen.

Schwagers Studie ist chronologisch angelegt und in zwei Hauptteile untergliedert. Der erste Teil (S. 91–289) behandelt die sich mit dem Spanisch-Niederländischen Krieg assoziierende Phase einer ersten Systematisierung militärtheoretischen Schrift- und Gedankenguts (ca. 1590 bis 1610) sowie die folgende Zeit, in der die erarbeiteten Kenntnisse geordnet und evaluiert sowie in einen ersten Kanon militärtheoretischer Handbücher überführt wurden (ca. 1610 bis 1620/22). Schwager, die sich in ihrer Gliederung an den Schriften gelehrter oder politischer „Leitfiguren“ (S. 85) orientiert, konzentriert sich zunächst auf Justus Lipsius. Sie zeigt, wie dieser als „Mittler taciteisch-stoischer prudentieller Kultur und polybianisch-militärischer Kompendienliteratur […] zwei im Späthumanismus auseinanderstrebende Autoritäten“ zusammengeführt (S. 92) und zugleich die Gewichte zwischen Polybios und Vegetius als den seit Machiavelli zentralen Bezugsgrößen in Fragen des antiken Militärwesens auf altertumskundlicher Basis neu verteilt habe. In Lipsius’ Konzeption einer den Herrscher auszeichnenden prudentia militaris beobachtet Schwager die entscheidende Differenz zu Machiavelli. Als Teil eines auf virtus und prudentia gründenden Tugendkatalogs wurde mit Hilfe der prudentia militaris nicht nur kluges Handeln im Krieg, sondern auch das dieses vor- und nachbereitende Agieren in Friedenszeiten sowie die Sorge um die ethische und disziplinare Integrität der Soldaten in das Spektrum obrigkeitlicher Qualitäten integriert.

In der Auseinandersetzung mit den Korrespondenzen Lipsius’ (Casaubon, Scaliger) und der Verbreitung seiner Schriften kann Schwager zeigen, dass zwischen der politischen Praxis und der – von den Fürsten von Nassau und Oranien angeregten – gelehrten Theorie ein komplexes Wechselverhältnis bestand. Eine Quelle wie das Kriegsbuch Johanns VII. gilt ihr daher gerade aufgrund seiner eklektischen Anlage als Teil eines experimentellen Tableaus. Dieses war auf der einen Seite pragmatisch grundiert. Auf der anderen produzierte es zahlreiche szientistische Überschüsse, um die Gesamtheit der die militia möglicherweise betreffenden institutionellen, taktischen und strategischen Aspekte in den Blick zu bekommen.

Die aus diesen Prozessen hervorgehenden Strukturen sollten, so Schwager, erst mit dem französischen Engagement im Dreißigjährigen Krieg revidiert werden. Diesem Komplex widmet sie den zweiten, ungleich umfangreicheren Teil ihrer Studie (S. 293–755). Sie untersucht zunächst (Teil 2, Kap. I), wie Henri Duc de Rohan in den frühen 1630er-Jahren – angeregt durch die italienische Staatsraisonliteratur und im Rückgriff auf das militärische und politische Gewalten vereinigende Modell Caesars – das Wehrwesen als Konstituens einer auf Expansion zugeschnittenen Politik des eigenstaatlichen intérêt beschrieb (S. 293–349). Das Hauptgewicht des zweiten Teils liegt allerdings auf Claude Saumaises offenbar 1634 oder 16353 von Friedrich Heinrich von Oranien in Auftrag gegebenem Abrégé de la Milice des Romains und Gabriel Naudés 1637 gedrucktem Syntagma de studio militari (Teil 2, Kap. II). Schwager widmet sich hier auf gut 400 Seiten, einen finalen Abschnitt zu Richelieus Politischem Testament eingeschlossen, den politischen und gelehrten, den materiellen und intellektuellen Zusammenhängen, in denen diese Werke verfasst und rezipiert wurden. Sie zeigt auf, wie sich das Kabinett der Brüder Dupuy zu einem „‚Umschlagplatz‘ für theoretische Kriegsbegründung und Kriegskompetenz“ (S. 367) entwickelte und wie die antiquarischen Aktivitäten Nicolas Claude Fabri de Peirescs die Vermittlung solcher Handschriften einschlossen, die bei der von Saumaise und Naudé (auch) angestrebten Revision der empirischen Grundlagen antiker Militärtheorie von Bedeutung waren.

Insgesamt hat Schwager eine materialreiche und komplizierte Arbeit vorgelegt. Neben gedruckten Werken hat sie eine Vielzahl handschriftlicher Materialien ausgewertet, die Präsenz militärtheoretischer Bücher in gelehrten und höfischen Bibliotheken geprüft, Annotationen und Glossen verfolgt, Korrespondenzen gesichtet und aus der Gesamtschau heraus zahlreiche Gewichte neu verteilt, was den Transfer antiken Wissens in die frühneuzeitliche Militär- und Staatstheorie anbelangt. Ein synthetisches Bild, was die Entwicklung des taktischen und strategischen Denkens betrifft, lässt sich aus der Studie allerdings nur mit Mühe gewinnen. Die an Autoren und Werken ausgerichtete Rekonstruktion kleinteiliger, inhaltlich vergleichsweise homogener und sich vielfach auf kompilatorischen Wegen fortpflanzender Versatzstücke scheint den Ansatz der Intellectual history an seine Grenzen zu führen.4 Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen bietet die Arbeit dennoch in großer Zahl: Welche Rolle spielte militärisches Wissen als Arkanwissen in den besagten Transferprozessen? Wie genau lässt sich die Beziehung zwischen (neuen) Techniken und (alten) Ideen beschreiben, was die Position des Festungsbaus anbelangt?5 Ein Personen- oder Sachregister wäre von Vorteil gewesen, um das in der Studie liegende Potenzial besser nutzen zu können.

Anmerkungen:
1 Gerhard Oestreich, Der römische Stoizismus und die oranische Heeresreform (1953), in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 11–34, hier S. 15.
2 In diese Richtung weist die grundlegende Studie von Olaf van Nimwegen, The Dutch Army and the Military Revolutions, 1588–1688, Woodbridge 2010 (niederl. 2006).
3 Schwager äußert sich nicht eindeutig: S. 351, 364, 388.
4 Insgesamt übersichtlicher angelegt ist die vergleichbare Arbeit von David R. Lawrence, The Complete Soldier. Military Books and Military Culture in Early Stuart England, 1603–1645, Leiden 2009.
5 Vgl. jetzt Bettina Marten / Ulrich Reinisch / Michael Korey (Hrsg.), Festungsbau. Geometrie – Technologie – Sublimierung, Berlin 2012; Stefan Bürger, Architectura Militaris. Festungsbautraktate des 17. Jahrhunderts von Specklin bis Sturm, Berlin 2013.

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