Cover
Titel
Balkan Smoke. Tobacco and the Making of Modern Bulgaria


Autor(en)
Neuburger, Mary C.
Erschienen
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 31,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig

„Tabak“ (Tjutjun) lautete der Titel des 1951 erschienenen Roman des bulgarischen Schriftstellers Dimităr Dimov (1909-1966), den der DDR-Verlag Volk und Welt 1975 für seine Reihe „Bibliothek des Sieges“, ein „Gemeinschaftsunternehmen sozialistischer Länder“, als Beitrag Bulgariens auswählte. Das war einerseits eine nahe liegende Wahl, da das Bulgarien des Zweiten Weltkriegs hier als eine Kolonie des „Dritten Reiches“ und der Bremer Tabakfirma Reemtsma porträtiert wird, in der jedoch bereits die Arbeiterklasse mit der Kommunistischen Partei an der Spitze als Widerlager deutlich wird. Andererseits aber war Dimov unter harsche Kritik von Stalinisten geraten, die ihm mangelnde Berücksichtigung des Postulats des Sozialistischen Realismus, „Sinnlichkeit“, gar „reaktionäre Philosophie“ vorwarfen. Zwar erhielt er 1952 den nach dem „Helden von Leipzig“ benannten bulgarischen Dimitrov-Staatspreis, ja wurde 1964 Vorsitzender des Schriftstellerverbandes, doch musste er seinen Roman auf Weisung der Partei für eine zweite Auflage 1954 deutlich überarbeiten.1

Dimovs Roman mit seinen bulgarisch-deutschen Politik- und Wirtschaftsbezügen dient Mary Neuburger als roter Faden durch ihre ebenso originelle wie tiefschürfende Darstellung des nationalstaatlichen Abschnitts der Geschichte des 1878 gegründeten Staates Bulgarien, wobei sie den Fokus auf Kultivierung, Verarbeitung, Verschickung, Vermarktung und Konsum der Nikotinpflanze in Form von Nargileh-, Pfeifen-, Zigarren- und Zigarettentabak legt. Überdies flicht sie gekonnt eine Kulturgeschichte des kommunikativen Rauchens und seiner sozialen Orte, eine teils religiös, teils sozialistisch unterfütterte Protestgeschichte der Rauchfreiheit, eine Verflechtungsgeschichte von Tabak- und Alkoholkonsum, eine Sozialgeschichte des Tabakindustrieproletariats sowie der (zumeist muslimischen) Tabakproduzenten und der (ganz überwiegend weiblichen) Tabakpflücker, weiter die Unternehmensgeschichte eines von sephardischen Juden dominierten boomenden Wirtschaftszweiges, die Diplomatiegeschichte eines autoritären revisionistischen Kleinstaates im Zeitalter der Weltkriege sowie die auf dem Zigarettensektor ausnahmsweise erfolgreiche transnationale ökonomische Integration im Zeichen sowjetischer Hegemonie und staatssozialistischer Planwirtschaft ein. Die Autorin knüpft damit an ihr 2004 erschienenes Buch The Orient Within. Muslim Minorities and the Negotiation of Nationhood in Modern Bulgaria an, in dem sie den Tabak als wichtigstes Agrarprodukt der beiden Siedlungsgebiete der großen Minderheit der Türken im Südosten und Nordosten des Landes identifiziert hat.

Ungeachtet der Konzentration auf Tabak behandelt das Buch de facto zwei stark unterschiedliche Themenfelder, was sich auch in den Schwerpunkten der sieben Kapitel niederschlägt. Diese sind zum einen die sozialen und kommunikativen Funktionen des Rauchens, gar seine vergemeinschaftende Wirkung, zum anderen die Bedeutung des Agrarprodukts Tabak für die Ökonomie des bulgarischen Staates von seiner Gründung als Fürstentum 1878 bis zum Kollaps der Volksrepublik 1989. Entsprechend bedarf es bei der Lektüre der Bereitschaft, mehrfach thematisch umzuschalten. Dies gilt bereits für den Übergang des ersten Kapitels – „Coffehouse Babble: Smoking and Sociability in the Long Nineteenth Century“ – zum zweiten: „No Smoke without Fire: Tobacco and Transformation, 1878-1914“. Einer nachgerade ethnologischen dichten Beschreibung der Übernahme osmanischer Rauchgewohnheiten samt Einführung des Kaffeehauses folgt hier ein Grundkurs in Tabakkultivierung, -vermarktung und -politik unter besonderer Berücksichtigung des modernen Bulgarien. Ähnlich sind die Kontraste der Kapitel zu autoritärer Zwischenkriegszeit und kommunistischer Nachkriegszeit. Dabei wird deutlich, dass in Bulgarien als Land des Tabaks zum einen Rauchen ein gesamtgesellschaftliches, schichten-, generationen-, nationalitäten- und geschlechterübergreifendes Phänomen war und weiterhin ist, welches indes früh auf eine politisch links zu verortende Gegenbewegung stieß – mit der Folge des Entstehens eines „gesellschaftlichen Widerspruchs“ im Staatssozialismus. Da Bulgarien im Zuge des Bruchs zwischen Peking und Moskau 1966 China vom sowjetischen Tabakmarkt verdrängte hatte und dadurch zum weltweit größten Exporteur von Zigaretten – vor den USA! - aufgestiegen war, war eine Lösung dieses ideologischen Dilemmas nicht in Sicht. Denn nicht nur war Exporttabak im Kalten Krieg ein wichtiger Devisenbringer, sondern auch innerhalb des RGW waren bulgarische Exportzigarettenmarken wie die mit Filter versehenen „Stjuardesa“ (Stewardess) oder „BT“ (Abkürzung des Staatsmonopols „Bulgartabak“, in der DDR gemeinhin als „Bulgarentod“ gedeutet) wichtige Güter im Barterhandel. Hinzu kamen bulgarische Markenlizenzen der US-amerikanischen Firmen Philip Morris, R. J. Reynolds und BAT für „Marlboro“, „Winston“ und - besonders beliebt, da prestigebehaftet -„Kent“, die neben dem Inland und dem RGW auch neue Exportmärkte erschlossen, so etwa Jugoslawien, Iran und etliche afrikanische sowie mittelamerikanische Staaten.

Mary Neuburgers Darstellung ist immer dort besonders erkenntnisträchtig, wo sie dem Verhältnis von Tabak und Politik anhand von Archivquellen nachgeht. Dies gilt etwa für den Staat im Staate, den die in und gegen Jugoslawien agierende terroristische Untergrundformation Innere Makedonische Revolutionäre Organisation (IMRO) auf bulgarischem Territorium in den Jahren 1922 bis 1934 unterhielt. Denn eine Zwangsabgabe auf jedes Kilo Tabak, das im Südwesten Bulgariens produziert wurde, ging an die IMRO, die damit ihre Strukturen in Bulgarien, ihre Aktivitäten gegen Jugoslawien sowie ihr von Wien über Leipzig bis Paris reichendes Netz quasidiplomatischer Vertretungen finanzierte. Überdies war die IMRO mit großen landesweiten Tabakfirmen verflochten, wie sie außerdem reiche jüdische Tabakunternehmer zu erpressen pflegte. Den bescheidenen einschlägigen Kenntnisstand der internationalen Forschung der Vor-„Wende“-Zeit, als die relevanten bulgarischen Archive hermetisch geschlossen waren und einheimische Historiker sich von diesem als politisch heikel eingestuften Thema fernhielten 2, hat sie mittels eingehender Forschung im Zentralen Staatsarchiv in Sofija beträchtlich erweitert. Ihre Vermutung, die IMRO sei in einen kommunistischen und einen rechten Flügel gespalten gewesen, ist allerdings irreführend. Denn von Bulgarien aus operierenden makedonischen Kommunisten hatten ihre eigene, aus Moskau finanzierte Organisation, die „Vereinigte IMRO“, und nicht diese lieferte sich in verrauchten Sofijoter Cafés am helllichten Tag Feuergefechte mit den Anhängern des IMRO-Chefs Ivan Michajlov. Das waren vielmehr andere Berufskiller, nämlich diejenigen der einflussreichen IMRO-Fraktion unter General Aleksandăr Protogerov und seinem Nachfolger Pero Šandanov, die im Zweiten Weltkrieg ins kommunistische Lager wechselte und maßgeblich am Aufbau des Staatsicherheitsapparates des stalinistischen Bulgarien beteiligt war.

Bestechend ist Mary Neuburgers These, die Palastrevolte gegen Partei- und Staatschef Todor Živkov im November 1989 und die anschließende langsame Erosion des kommunistischen Einparteienregimes seien durch die Krise der einheimischen Tabakproduktion ausgelöst worden. Ihr überzeugendes Argument dabei ist, dass durch die plötzliche türkenfeindliche Wende der Živkovschen Nationalitätenpolitik vom Herbst 1984 und den Massenexodus turkophoner Staatsbürger im Sommer 1989 Anbau und Verarbeitung von Tabak zum Erliegen kamen und dadurch die Steuer- und Deviseneinnahmen des Staates drastisch absackten. In den verwaisten Siedlungsgebieten der Türken kam es zum ökonomischen Kollaps, was auch durch dekretierte landesweite Arbeitszeitausweitung nicht aufgefangen werden konnte. Zum Imageverlust von „Bulgartabak“ als weltweit verlässlichem Lieferanten kam überdies der Negativeffekt der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl, das vor allem überseeische und westeuropäische Abnehmer bulgarischen Tabaks in Unkenntnis der Geographie des östlichen Europa in der Nähe der Rhodopen verorteten. „Tobacco and ethnic politics“, so das pronocierte Resümee der Autorin, „were an important component in bringing down communism in Bulgaria.“ (228) Und unter Bezug auf den wendebedingt schlagartigen Siegeszug westlicher Zigarettenimporte nach Bulgarien und die katastrophalen Auswirkungen der Bemühungen um eine Privatisierung des Staatsmonopols „Bulgartabak” urteilt sie: “The collapse of communism, in turn, brought down the tobacco industry.” (ebd.)

In den Text sind 15 mehrheitlich aufschlussreiche Abbildungen – historische Fotografien und Postkarten, Karikaturen, Werbeplakate, Zigarettenpackungsdesigns u. a. – eingestreut, allerdings ungleichmäßig und ohne dass die Autorin darauf Bezug nimmt. Die Karte „Changing borders of Bulgaria, 1878-1945“ (XII) ignoriert schwer erklärlicherweise die im Ersten Weltkrieg durch Bulgarien besetzten Gebiete Serbiens und Griechenlands sowie die im Zweiten Weltkrieg annektierten Territorien Jugoslawiens und Griechenlands, desgleichen das Ergebnis des Bulgarisch-rumänischen Abkommens von Craiova aus dem Jahr 1940, in dem Rumänien auf Druck NS-Deutschlands die Süddobrudscha an Bulgarien abtreten musste. Die Terminologie der Autorin ist mitunter schief, so etwa wenn sie beharrlich vom „German consulate in Bulgaria“ mit einem „German consul“ an der Spitze spricht und damit die deutsche Gesandtschaft samt Gesandten in Sofija meint – eine Funktion, die über rekordverdächtige 17 Jahre hinweg, von 1923 bis 1940, der Schwabe Eugen Rümelin, im Auswärtigen Amt hinter seinem Rücken als „Gesandter, aber kein geschickter“, bezeichnet, inne hatte, bevor er vom SA-Obergruppenführer und vormaligen Polizeichef von Frankfurt am Main und Łódź in Generalgouvernement Adolf Heinz Beckerle abgelöst wurde. Ärgerlich sind auch eine Reihe durchgängiger Verschreibungen. Selbst die in dem Buch eine prominente Rolle spielende Firma Reemtsma samt ihrem langjährigen Leiter Philipp Reemtsma wird hartnäckig als „Reemstma“ wiedergegeben.

Balkan Smoke ist ein hochgradig originelles, solide recherchierte und glänzend geschriebenes Buch, das indes aufgrund seiner besagten großen thematischen Bandbreite nicht einfach zu lesen, aber für eine ganze Reihe geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen horizonterweiternd ist. Dies gilt für Kultur-, Wirtschafts- und Diplomatiegeschichtsschreibung ebenso wie für Ethnologie, Agrarwissenschaft und Konsumforschung. Mary Neuburger ambitioniertes Vorhaben einer Verknüpfung osmanischer, balkanischer und sowjetischer Prägefaktoren von Alltag, Kultur und Ökonomie Bulgariens mit anderen transnationalen, vor allem okzidentaleuropäischen, überseeischen und globalen Faktoren am Beispiel von Tabak ist überzeugend gelungen. Jetzt fehlt nur noch die literarische Fortsetzung von Dimovs nikotinhaltiger Weltkriegssaga für Kalten Krieg und Postkommunismus.

Anmerkungen:
1 Dimiter Dimow, Tabak. Roman. Aus dem Bulgarischen von Josef Klein, Berlin 1975 (= Bibliothek des Sieges); vgl. dazu Dimov Slučajat, Literaturni razsledvanija [Der Fall Dimov. Literarische Nachforschungen], hrsg. von Elka Konstantinova und Marieta Ivanova-Georgieva, Sofija 2003.
2 Vgl. dazu die Übersicht zum Vor-„Wende“-Forschungsstand bei: Stefan Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922-1930. Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien, Köln 1987, S. 109-114.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/