F. Rogger u. a.: Inszeniertes Leben

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Titel
Inszeniertes Leben. Die entzauberte Biografie des Selbstdarstellers Dr. Tomarkin


Autor(en)
Rogger, Franziska; Herren, Madeleine
Erschienen
Wien u.a. 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Barth, Historisches Institut, Universität zu Köln

Leander Tomarkin führte ein bewegtes Leben. Seine Biografie ist spannend, widersprüchlich, international und zumindest teilweise auch öffentlich. Denn dieser „Selbstdarsteller“, wie er bereits im Untertitel des hier anzuzeigenden Bandes charakterisiert wird, lebte letzten Endes davon, dass seine Zeitgenossen sich für ihn interessierten, seine Erzählungen glaubten und seine vielfältigen Vorhaben finanzierten. Aus historischer Sicht besonders interessant sind Tomarkins andauernde, mit viel Fleiß und Talent unternommene Versuche, beständig falsche Fährten zu legen, welche die Rekonstruktion seines Lebens und das Überprüfen der von ihm behaupteten Fakten erheblich erschweren. Tomarkin betrieb systematisch eine „eigene Geschichtenerfindung“ (S. 9). Franziska Rogger und Madeleine Herren verbringen daher einen Großteil der 300 Seiten langen Darstellung damit, Ereignisse perspektivisch zu rekonstruieren und die Widersprüchlichkeit der zur Verfügung stehenden Informationen aufzuzeigen. Dafür haben Sie eine beeindruckende Anzahl von Archiven auf beiden Seiten des Atlantiks konsultiert. Trotzdem bleibt Tomarkins Existenz in Vielem rätselhaft.

Die Autorinnen teilen ihre Darstellung in vier unterschiedlich lange Kapitel auf, mit denen sie vier verschiedene Leben des angeblichen „Dr.“ Tomarkin beschreiben. Zunächst ist da der „Star“ und „geniale Erfinder“, die nach außen gekehrte Seite des Leander Tomarkin. Anschließend – und ihm wird der meiste Platz eingeräumt – der „traumwandlerische Hochstapler“ und damit die teilweise traurige, teilweise auch schäbige Wahrheit hinter der schillernden Fassade. In einem dritten Teil wird die Familie des Protagonisten thematisiert, wobei Rogger/Herren der Versuchung, beide Leben „psychologisch auch einmal gleichzusetzen“ (S. 12), ausdrücklich nicht widerstehen. Abschließend geht es um die öffentliche Wirkung Tomarkins.

Tomarkins Stern ging zu Beginn des Jahres 1922 auf, als er der Öffentlichkeit sein Wundermittel „Antimicrobum“ zur Rettung des an einer Lungenentzündung leidenden Papstes anbot. Benedikt XV. starb zwar, ohne in den Genuss der Arznei gekommen zu sein, doch ab jetzt wurden Tomarkins angebliche Künste in der Presse diskutiert, und ein Jahr später durfte er den Cousin des italienischen Königs behandeln. Fortan flossen Gelder und Anerkennung. Tomarkin suchte sein Glück in New York, überzeugte mehrere schwerreiche Financiers und eröffnete 1927 den amerikanischen Zweig der Tomarkin-Foundation, dem drei Jahre später im schweizerischen Locarno ein europäischer folgte. Eigentlich sollte Tomarkin hier chemische Experimente leiten. Einen Namen machte er sich im folgenden Jahrzehnt jedoch vor allem mit luxuriösen Fortbildungskursen an schicken Orten, zu denen er namhafte Wissenschaftler aus aller Welt einlud und sie nach allen Regeln der Kunst hofierte. Einer dieser Kurse wurde – wenn auch in absentia – sogar von Albert Einstein präsidiert. Tomarkins Stern leuchtete ein letztes Mal 1938, als er in Paris die erste internationale Krebswoche im Palais de la Découverte organisierte, bevor er vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA flüchtete. Dort wurde es still um ihn; seine Suche nach künstlichen Diamanten und wasserabweisende Farben blieb letztlich erfolglos.

Soweit der schöne Schein. Denn der angebliche Dr. med. hatte nie eine ordentliche Ausbildung absolviert, geschweige denn sein Studium abgeschlossen. Stattdessen sympathisierte er halbherzig mit dem Kommunismus – 15 Jahre später folgte eine noch kürzere faschistische Episode – und gründete, von der Hoffnung auf bahnbrechende Erfindungen beseelt, bald seine erste Firma. Diese ging ebenso schnell Pleite, wie seine neu gegründete Familie auseinanderbrach. Tomarkin besaß großes Talent, sich die Medienöffentlichkeit für seine Zwecke nutzbar zu machen. Als der angebliche Forscher jedoch dank des Papsttodes an die Öffentlichkeit trat, hatte er lediglich ein „finanzielles Desaster“ und ein „familiäres Trümmerfeld“ (S. 82) produziert.

Trotz aufwendiger und langwieriger Recherchen bleibt vieles an dieser Geschichte verworren. Woraus sein „Antimicrobum“ tatsächlich bestand und ob es eine ernst zu nehmende medizinische Wirkung besaß, bleibt letzen Endes ungeklärt. Obwohl viele Kontakte und Netzwerke nachgezeichnet werden können, lernt der Leser keine echten Freunde von Leander kennen. Seine Zeit während des Zweiten Weltkrieges, als er sich freiwillig bei der US-Armee meldete, bleibt blass, seine finanzielle Situation unklar. Als Organisator seiner Fortbildungskurse schien Tomarkin tatsächlich täglich und seriös zu arbeiten. Ob er jemals als Arzt praktizierte, ist hingegen nicht eindeutig zu klären.

Der Abschnitt zu Tomarkins Familie ist deutlich der schwächste des Buches. Hier geht der Bezug zum Vorhaben, verschiedene Lebensbeschreibungen zu rekonstruieren und sie als Exempel für die kritische Selbstbetrachtung historischen Arbeitens zu benutzen, weitgehend verloren. Der Leser erfährt stattdessen viele, letzten Endes überflüssige Informationen: Kosewörter aus Liebesbriefen an Leanders Bruder, die studentische Freundschaft zwischen seinem Vater Eli und Frank Wedekind, und so weiter. Nicht nur in diesem Teil stört die oft ungenaue, durch ein fehlendes Lektorat offensichtlich verschlimmerte Sprache. Rogger/Herren bemühen sich mittels eingesprengter, grafisch abgehobener Passagen immer wieder, neue Perspektiven aufzuzeigen und vor allem die Sicht des Historikers auf Tomarkins Leben zu dekonstruieren. So sinnvoll dieses Unterfangen ohne Zweifel ist, trägt es nur selten zum tieferen Verständnis bei. Der Versuch der Autorinnen, ihre eigene Freude an den in der Tat detektivischen und überraschenden Recherchen an die Leser zu vermitteln, schlägt fehl. „Wir Forscherinnen sahen uns von Zweifeln aufgefressen. Trotzdem gaben wir noch nicht ganz auf und mühten uns, klaren Kopf zu bewahren“ (S. 119). An der ein oder anderen Stelle lassen sie sich sogar zu überflüssigen Spekulationen hinreißen, die ihr Anliegen untergraben (vgl. S. 179).

Der abschließende Teil zum Publikum, ein Begriff, der eigentlich durch den der Öffentlichkeit zu ersetzen wäre, ist der gelungenste der Arbeit. Hier bemühen sich Rogger/Herren, Tomarkins Biografie systematisch in ihrem historischen Kontext zu verorten und so die Einzigartigkeit dieser sich überlagernden Leben zu hinterfragen. Während der naheliegende Begriff des Hochstaplers weniger in der historischen als in der psychatrischen Forschung verankert wird, erfährt der Leser viele interessante Informationen zum internationalen Kongresswesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder auch zu den amerikanischen Geldgebern, die Tomarkins öffentliche Selbstzurschaustellung finanzierten. Diese sahen in der „Durchsetzung des dynamischen Individuums trotz fehlender Schulabschlüsse“ (S. 260) keine europäische Lügengeschichte, sondern die klassisch amerikanische Erzählung vom selfmademan. Es wird sehr deutlich, wie Tomarkins Erfolg weniger auf einer erfolgreichen Täuschung der Öffentlichkeit, als vielmehr auf gezielt mobilisierten öffentlichen Bedürfnissen beruhte. In Tomarkins Glanzzeit wurden Wissenschaftler immer mehr zu internationalen Medienstars, und die nach ihm benannte Foundation befriedigte das wachsende Interesse an transnationalen Kontakten.

Am Ende fragt man sich, wie unterschiedlich diese von Rogger/Herren so deutlich getrennten Leben tatsächlich gewesen sind. Denn einerseits entstanden bereits während der Zeit von Tomarkins Erfolgen große Zweifel an seinen – von ihm immer wieder narzisstisch vorgeführten – Verdiensten. Sein Doktortitel und einige zweifelhafte Erfindungen wurden schon früh massiv hinterfragt; einige Rückschläge ließen Teile seiner amerikanischen Geldgeber schnell aus den gemeinsamen Projekten aussteigen. Die Neue Züricher Zeitung bezeichnete Tomarkins wissenschaftliche Vorhaben 1934 als „hochfliegende Träume eines erneuerungsbessessenen Wirrkopfs“ (S. 142). Die internationale Krebswoche wurde trotz hochrangigen Teilnehmern selbst in der Pariser Presse kaum beachtet. Andererseits verdeutlicht insbesondere der vierte Teil, dass Tomarkins Biografie doch nicht so einzigartig war, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. In mancher Hinsicht waren, vor allem in der Zwischenkriegszeit, die „Tomarkins sogar in der Überzahl“ (S. 254).

Dr. Leander Tomarkin bauschte seine wenigen Erfolge gnadenlos auf, spielte geschickt mit den Medien und bezirzte immer wieder potente Geldgeber. Aus seinen schlechten Voraussetzungen versuchte er – ohne Scheu vor Lügen oder Gesetzesübertretungen – das Beste zu machen. Er konstruierte sich systematisch seine eigenen Wirklichkeiten, ohne dabei die Realität automatisch aus dem Auge zu verlieren. Als er sich 1940 freiwillig zur Armee meldete, war es mit den Schwindeln und den falschen Angaben schlagartig vorbei. Letzten Endes hat diese „entzauberte Biografie“ nichts von ihrem Zauber verloren.

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