T. Weidner: Die unpolitische Profession

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Titel
Die unpolitische Profession. Deutsche Mediziner im langen 19. Jahrhundert


Autor(en)
Weidner, Tobias
Reihe
Historische Politikforschung 20
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Weinert, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Verhältnis von Medizin und Politik ist bis heute vom Gegensatz zwischen der scheinbar unpolitischen Wissenschaft auf der einen und den politischen Implikationen medizinischer Praktiken auf der anderen Seite geprägt. Nichts zeigt dies besser als die aktuellen Debatten über bioethische Probleme. In diesen wird die wechselseitige Beziehung zwischen medizinischen Deutungsansprüchen, gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen besonders offensichtlich. Die Mediziner selbst vertreten dabei immer wieder das Argument, ihre Tätigkeit sei im Kern unpolitisch und objektiv; ein Argument, das Tobias Weidner in seiner an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommenen Untersuchung aufschlussreich historisiert.

Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich seit geraumer Zeit intensiv mit der Beziehung zwischen Medizin und Politik. Dabei verfolgt sie im Wesentlichen zwei Fragekomplexe. Erstens fragt sie nach dem Verhältnis von Medizin und Nationalsozialismus. Ein zweiter Strang von Untersuchungen konzentriert sich auf den Prozess der Professionalisierung der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert, an dessen Ende die Mediziner zu einer der Deutungseliten des Deutschen Reichs avanciert waren. Weidners Studie lässt sich dem zweiten Fragekomplex zuordnen. Er leistet damit gleichzeitig einen Beitrag zur Geschichte der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael), die das Gesicht des 20. Jahrhunderts so sehr prägte. Weidner wählt dafür einen begriffsgeschichtlichen Zugang. Indem er die sprachlichen „Konstruktionen des Politischen durch das ‚lange‘ 19. Jahrhundert verfolgt, systematisch historisiert und kontextualisiert“ (S. 10), möchte er die sich im Laufe des Untersuchungszeitraums verändernden Politikverständnisse der Mediziner offen legen. Deutlich werden soll dadurch, mit Hilfe welcher Sprachstrategien sich die Ärzte und Gesundheitswissenschaftler eine politische Deutungsmacht zu sichern versuchten.

Dieser Fragestellung geht Weidner in insgesamt acht chronologisch aufgebauten Kapiteln nach. Nach einer knapp gehaltenen Einleitung behandelt er zunächst den Zeitraum zwischen 1789 und 1848 (Kapitel 2). Das Kapitel beginnt mit einer – auch für den Leser nachvollziehbaren – „Suche“ nach politischen Bezügen in der medizinischen Publizistik der ersten Jahrhunderthälfte. Sie mündet in den Befund, dass der Politikbegriff in der ärztlichen Kommunikation zu diesem Zeitpunkt noch keine nennenswerte Rolle spielte. Wenn man auf den Politikbegriff rekurrierte, dann meistens in einer negativen oder distanzierenden Art und Weise. Besonders deutlich wird dies an der häufigen Kopplung von Politik mit übersteigerter Emotionalität und letztlich Wahnsinn, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit der Französischen Revolution zu beobachten war.

Die Revolution von 1848/49 (Kapitel 3) brachte eine deutliche Zunahme politischer Themen in der medizinischen Publizistik mit sich. Sie führte aber, wie Weidner herausarbeitet, nicht zu einem völligen Verschwinden früherer, distanzierter Politiksemantiken. Rudolf Virchows berühmtes Diktum von der Politik als „Medicin im Großen“, die sich aus einer Verschränkung von Politik und Sozialem speiste, war eine zeitgenössische Ausnahmeerscheinung. Eine Breitenwirksamkeit sollten Virchows Entwürfe erst um 1900 entfalten, als die neu aufgekommene Sozialhygiene emphatisch darauf Bezug nahm. Es dominierten weiterhin pejorative Politiksemantiken wie die Betonung negativer Auswirkungen politischer Ereignisse auf die ärztliche Praxis oder die Kopplung von Politik und „Geisteskrankheit“. Darüber hinaus verstärkte sich während der Revolutionszeit der Trend innerhalb der Ärzteschaft, Medizin als naturwissenschaftlich, objektive Wissenschaft zu begreifen und Bezüge auf Politik bewusst zu vermeiden.

Dieses Muster prägte auch die medizinische Kommunikation in der Reaktionszeit (Kapitel 4). In diesem Zeitraum behandelten die Mediziner Politik ausschließlich im Zusammenhang mit „politischem Wahnsinn“. Das Politische stand nun mehr und mehr „neben Parteilichkeit für Unkontrollierbarkeit, Aufregung, Fanatismus und Exaltation“ (S. 175). Die in den beiden Revolutionen von 1789 und 1848 angelegten negativen Stereotype von Politik hatten sich damit in der Reaktion verfestigt. Politik wurde von den Ärzten pathologisiert, bedeutete Streit und Unzurechenbarkeit.

Die Polarisierung von subjektiver Politik und objektiver Medizin prägte auch die folgenden Jahrzehnte zwischen Reaktion und Kaiserreich. Im fünften Kapitel arbeitet Weidner heraus, wie das Politische damit sukzessive zum Gegenpol der medizinischen Wissenschaft wurde. Insbesondere die Gruppe der Berufspolitiker gerieten dabei zunehmend als partikularistisch und egoistisch in den Blick der Ärzte, die sich demgegenüber als überparteilich und selbstlos begriffen. Auf der anderen Seite häuften sich seit den 1870er-Jahren die institutionellen Berührungspunkte zwischen der Politik und den aufkommenden Gesundheitswissenschaften wie der experimentellen Hygiene. Gerade diese inhaltliche Nähe zu wichtigen politischen Themen der Zeit führte zu einem verstärkten Abgrenzungsbedürfnis auf Seiten der Ärzteschaft.

Hier bildete sich ein Argumentationsmuster heraus, das Weidner als die kommunikative Schlüsselstrategie der Mediziner in den kommenden Jahrzehnten analysiert: Sie bezogen ihr pejoratives Politikverständnis auf Parteipolitik sowie politische Institutionen und beanspruchten im gleichen Zug die Deutungskompetenz über bestimmte Themen etwa aus dem Bereich der Sozialpolitik. Auf der anderen Seite, dies kann Weidner vor allem anhand der Bakteriologen zeigen, hielten die Mediziner ihren Anspruch auf Distanz zur Politik, der sich aus ihrer naturwissenschaftlichen Objektivität speiste, weiterhin aufrecht.

Diese legitimierte in der „Klassischen Moderne“ (Kapitel 6) den Anspruch namentlich der Sozial- sowie Rassenhygieniker auf weitreichende Kompetenzen als wissenschaftliche Experten. Dabei gingen „die Zuspitzung medizinischer und ärztlicher Polemik gegenüber der ‚Parteipolitik‘ und eine spezifische Tendenz zur Politisierung des Ärztestandes um 1900 Hand in Hand (…)“ (S. 267). Gerade weil die politischen Parteien als zerstritten und egoistisch galten, leiteten die Ärzte für sich die Richtlinienkompetenz in gesundheitlichen Fragen, Sozial- wie Rassenhygieniker sogar für beinahe alle gesellschaftlichen Fragen ab. Damit trieben sie die Prozesse der Verwissenschaftlichung und Biologisierung des Sozialen weiter voran. Gleichzeitig behielten die Mediziner und Gesundheitswissenschaftler die pejorative Wertung von Politik bei, differenzierten sie aber durch die Verwendung von Komposita wie „Parteipolitik“, „Sozialpolitik“ oder „Bevölkerungspolitik“ aus. Letztere Begriffe eigneten sich Sozial- oder Rassenhygieniker aktiv an und begründeten damit ihre eigenen Gestaltungsansprüche.

Der Erste Weltkrieg (Kapitel 7) führte zu einer beispiellosen Aufwertung medizinischer Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten, hatte aber kaum Auswirkungen auf deren Sprachstrategien. Einzig die unmittelbare Nachkriegszeit 1918/1919 macht hier eine Ausnahme: Dies ist die einzige Phase, in der Weidner in weiten Teilen der Ärzteschaft eine positive Bezugnahme auf politische Partizipation ausmacht. Gleichwohl beharrten die Mediziner auf ihre inzwischen schon traditionellen Vorbehalte gegenüber jeder Form von Parteilichkeit. Die klassischen, abwertenden Politiksemantiken blieben stets aktualisierbar. Das politische Engagement der Ärzte sollte primär außerhalb der Parteien stattfinden, selbst wenn individuelles parteipolitisches Engagement kaum noch Kritik hervorrief.

Diese sprachstrategische „Gegenpolitik“ der Ärzte prägte auch deren Verhalten in der Weimarer Republik. Aus der Position einer expliziten Abgrenzung heraus forderten die Mediziner eine Ausrichtung der Politik an wissenschaftlichen Handlungsmaximen. Sich selbst als überparteilich und objektiv begreifend versprachen sie, durch ihr szientokratisches „Social Engineering“ die parteipolitischen Verwerfungen der Gegenwart zu überwinden. Die strategische Abgrenzung der Ärzte von der Politik wurde auf diese Weise, so das Fazit am Ende der Untersuchung, zu einem wirksamen Mittel politischer Kommunikation.

Tobias Weidner ist eine ansprechende Studie gelungen, in der er bemerkenswert konsequent seine anfangs aufgeworfene Fragestellung nach den Sprachstrategien der Ärzte im „langen“ 19. Jahrhundert verfolgt. Diese starke Fokussierung wirkt sich allerdings phasenweise etwas nachteilig auf den Lesefluss aus, wenn sich etwa einzelne Untersuchungsbefunde mehrfach wiederholen. Dies ist freilich dem Autor nicht anzulasten. Um der Arbeit eine zusätzliche Dimension zu geben, wäre es gleichwohl wünschenswert gewesen, wenn Weidner die öffentliche Reaktion auf die ärztlichen Sprachstrategien oder die Interaktion zwischen Medizinern, Vertretern anderer wissenschaftlichen Disziplinen und Politikern etwas intensiver in den Blick genommen hätte. Denn der „Erfolg“ der ärztlichen Sprachstrategien lässt sich erst im Vergleich mit anderen Akteuren adäquat erfassen. Dem ungeachtet bleibt „Die unpolitische Profession“ ein anregendes Buch, das auch im Hinblick auf aktuelle Debatten lesenswert ist.