O. Hansmann: Rousseaus Anthropologie, Pädagogik und Staatsphilosophie

Cover
Titel
Vom Menschen über Erziehung zum Bürger. Vorlesungen zu Rousseaus Anthropologie, Pädagogik und Staatsphilosophie


Autor(en)
Hansmann, Otto
Erschienen
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tim Zumhof, Institut für Erziehungswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Dass in dem Jahr, in dem Jean-Jacques Rousseau seinen 300. Geburtstag gefeiert hätte, eine ganze Reihe neuer Veröffentlichungen zu seinem Leben und Werk erschienen sind, war zu erwarten.1 Auch Otto Hansmann, der 1996 den zweibändigen Sammelband „Seminar: Der pädagogische Rousseau“ herausgab2, 2002 die Reihe „Basiswissen Pädagogik“ mit einem Band zu Rousseau eröffnete3 und sich aus bildungstheoretischer Perspektive zweifellos als Rousseau-Kenner bezeichnen lässt, legt im Jubiläumsjahr einen Beitrag vor: Seine bei Königshausen und Neumann erschienene Untersuchung „Vom Menschen über Erziehung zum Bürger“ sei, wie er selber schreibt, das Kondensat einer dreißigjährigen Vorlesungstätigkeit an den Universitäten zu Bayreuth und Karlsruhe (vgl. S. 11). Hansmann legt hiermit keine gewöhnliche Einführung vor, noch fällt er der Versuchung anheim, reine Klassikerpflege zu betreiben.

Hansmann setzt sich in sechs Kapiteln zur „Biographie“, zur „Gesellschafts- und Kulturkritik“, zur „Negative[n] und natürliche[n] Erziehung“ sowie zur „Begründung der Willensfreiheit“, zur „Politischen Ökonomie“ und zu „Staat und Zivilreligion“ mit den zentralen (und üblicherweise behandelten) Werken Rousseaus auseinander und legt hiermit den internen und systematischen Zusammenhang von Rousseaus anthropologischen, pädagogischen und staatsphilosophischen Schriften frei – den er bereits im Titel „Vom Menschen. Über Erziehung. Zum Bürger.“ (S. 11) andeutet. Sein Durchgang durch die Rousseauschen Bekenntnisse lässt ihn im ersten Kapitel resümieren, dass es fünf Problemkomplexe waren, mit denen sich Rousseau sowohl in seinem Leben, als auch in seinen Schriften auseinandersetzte: Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Erziehung, Willensfreiheit sowie die Idee einer gerechten Gesellschaft. Hansmann arbeitet aus den Bekenntnissen eine biographische Einstiegshilfe heraus, die den Problemkreis des Rousseauschen Oeuvres vorführt.

Im zweiten Kapitel zeigt Hansmann, wie Rousseau durch die hypothetische Konstruktion des Naturzustandes des Menschen (‚homme naturel‘) – sowie den Vergleich mit dem Menschen im vergesellschafteten Zustand (‚bourgeois‘) – zum einen antike Naturteleologien (Aristoteles) und zeitgenössische Naturrechtstheorien (Hobbes) negiert sowie zum anderen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse kritisiert. Das zentrale Theorem der hierdurch begründeten „hypothetischen Anthropologie“ (S. 65) ist die Perfektibilität des Menschen, das heißt die „naturteleologisch nicht finalisierte Fähigkeit, sich selbst zu befähigen“ (S. 80). Diese individual- und gattungsgeschichtliche Eigenschaft der menschlichen Natur, erst in Abhängigkeit zur Um- und Mitwelt bestimmte Fähigkeiten auszubilden, macht den Menschen von Natur aus „pluripotent“ (S. 19), wie es Hansmann treffend formuliert. Diese hypothetische Pluripotenz des Menschen ermögliche dem Menschen nicht bloß in einem anthropologischen Sinne eine humane Existenz, sie sei gleichermaßen auch in einem soziologischen Sinne Ermöglichungsbedingung eines politischen Gemeinwesens. Sie begründe daher sowohl Rousseaus Erziehungstheorie als auch seine Demokratietheorie.

Im Anschluss an die gesellschafts- und kulturkritische Diagnose des 18. Jahrhunderts – die den vergesellschaften Menschen als einen von seiner Natur entfremdeten beschreibt – sowie vor dem Hintergrund des spekulativen Entwurfs jener verlustig gegangenen Natur entfalte Rousseau eine negative Erziehungstheorie, die sich den Reproduktionsinteressen der bürgerlichen Ständegesellschaft entzieht und sich der individuellen Entwicklung des Zöglings widmet. Diese Entwicklung dürfe aber nicht naturteleologisch missverstanden werden – „[d]as Ziel ist nicht ‚die Natur selbst‘“ (S. 102) – sondern müsse als eine „[p]rozesstheoretisch begründete Dialektik von Bedürfnissen und Kräften“ (S. 117) des jeweiligen Individuums begriffen werden. Der erzieherische Einfluss auf diese Dialektik erfolge bloß indirekt durch das Arrangieren und Inszenieren von Lernumgebungen, das Hansmann anhand des Stock- und Gartenbeispiels sowie an Émiles ‚Bildungsreise’ und der Diskussion des didaktischen Prinzips der Nützlichkeit verdeutlicht (vgl. S. 123–136). Zentral wird bei Hansmanns Darstellung immer wieder das zweite Buch des Émile, in dem die „Bildung der Sinne“ (S. 118) erläutert wird. Hansmann zeigt, dass Rousseau sich hier kritisch mit den erkenntnistheoretischen Strömungen des Sensualismus (Condillac), Empirismus (Locke) und Rationalismus (Descartes) auseinandergesetzt hat und sie in seiner Theorie der Urteilsbildung sowie seinem – mit Manfred Frank gesprochen, den Hansmann hier anführt – Konzept des „Ichgefühl[s]“ (S. 118) aufgreift.

Das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, mit dem sich Hansmann im vierten Kapitel befasst, rekapituliere nicht nur die Genese dieses Ichgefühls und liefere eine philosophische Begründung der Willensfreiheit, sondern weite auch die Theorie der Urteilsbildung auf die Gegenstandsbereiche der Religion und Moralität aus. Hansmann liest das Glaubensbekenntnis als „einen Versuch Rousseaus, mit Jugendlichen in ein Gespräch über metaphysische, theologisch-kosmologische Fragen einzutreten“ (S. 157). Der Vikar belehre nicht, sondern trage im Modus des Zweifelns und Bekennens die Fundamente einer natürlichen Religion vor, die Rousseau auch als „Religion des Menschen“ (S. 184) bezeichnet und von der „Religion des Bürgers“ (ebd.) und der „Priesterreligion“ (S. 185) abgrenzt.

So wie Rousseau im Émile zwischen öffentlicher und privater Erziehung unterschied, so differenzierte er bereits in seinem Artikel zur Politischen Ökonomie von 1755 zwischen einer privaten und einer öffentlichen Dimension der Ökonomie. Allerdings traute, so Hansmann, Rousseau noch nicht so sehr den „Prinzipien der Negativität“ (S. 172), wie er sie im Emile sieben Jahre später entfaltete, und griff hier auf eine positive „Tugendpädagogik“ (S. 173) zurück. Erst im Gesellschaftsvertrag gibt Rousseau diese positive Konzeption auf und ersetzt sie, so Hansmann im sechsten Kapitel, durch die Idee einer Zivilreligion oder eines rein bürgerlichen Glaubensbekenntnisses. Rousseau gehe es hierbei nicht um eine verordnete Staatsreligion. Im Gegenteil, Hansmann liest diese Passagen ganz im Sinne eines Votums für „Religionsfreiheit“ (S. 190). Rousseau interessiere sich vielmehr für die zusätzliche Bindungskraft, die die Religion der Bürgerschaft unter dem Gesellschaftsvertrag bieten könne. Hansmann zitiert Rousseau: „Heute, wo es eine ausschließliche Staatsreligion nicht mehr gibt noch geben kann, muss man alle jene tolerieren, die ihrerseits die anderen tolerieren, sofern ihre Dogmen nicht gegen die Pflichten des Bürgers verstoßen“ (S. 191). Widersetzte sich jemand also der sozialen Gesinnung des bürgerlichen Miteinanders, der „sozialpolitische[n] Kommunion“ (S. 190), so könne der Staat denjenigen verbannen – „nicht als Gottlosen, sondern als Anarchisten“ (S. 190).

Es ist kühn, angesichts der langen Tradition (reform-)pädagogisch-usurpierender und populärwissenschaftlich perpetuierter Deutungsangebote Hansmanns Rousseau-Lektüre als „Standard-Lesart“ (Tenorth 2005: S. 292) einzustufen. Treffender ist es, Hansmanns Interpretation im Gefolge der kritischen Lektüre Günther Bucks zu sehen4, die Rousseau eben nicht ‚standardmäßig‘ als „Entdecker der Kindheit“ und „Urvater der antiautoritären Bewegung“5 lediglich im Lichte seiner Rezeptionsgeschichte wiedergibt. Hansmann liefert mit seinem Beitrag zum Rousseau-Jubiläum zwar nur vereinzelt neue Deutungsaspekte – obgleich er diverse anschlussfähige Diskussionen andeutet – betreibt aber eine angebrachte und dankenswerte Ent-Pädagogisierung und Re-Theoretisierung Rousseaus, indem er den systematischen Zusammenhang und spekulativen Kern der anthropologischen, pädagogischen und staatsphilosophischen Schriften herausarbeitet. Lediglich an einigen Stellen steht dem ungehinderten Lesefluss die arg verschachtelte Textgestaltung durch viele nummerierte Aufzählungen im Weg. Aufschlussreich wäre auch ein finales Kapitel gewesen, das noch einmal ein zusammenhangstiftendes Resümee aufbietet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Michel Soëtard, Jean-Jacques Rousseau. Leben und Werk, München 2012; Christiane Landgrebe, Zurück zur Natur? Das wilde Leben des Jean-Jacques Rousseau, Weinheim 2012; Winfried Böhm / Michel Soëtard, Jean-Jacques Rousseau, der Pädagoge. Einführung mit zentralen Texten, Paderborn 2012.
2 Vgl. Seminar: Der pädagogische Rousseau, 2 Bd. Hrsg., ausgewählt, teilweise neu übersetzt und eingeleitet von Otto Hansmann, Weinheim 1996.
3 Vgl. Otto Hansmann, Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Baltmannsweiler 2002 (= Basiswissen Pädagogik 1). – Vgl. hierzu auch die Sammelrezension von Heinz-Elmar Tenorth, in: Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005) 2, S. 291–300, siehe auch <http://www.pedocs.de/volltexte/2011/4930/pdf/ZfPaed_2005_2_Tenorth_Rezension_Rousseau_D_A.pdf> (03.06.2013).
4 Vgl. Günther Buck, Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn 1984.
5 Johannes Kückens, Rousseau: Entdecker der Kindheit, in: GEOkompakt 17 (2008) 12, siehe auch <http://www.geo.de/GEO/heftreihen/geokompakt/rousseau-entdecker-der-kindheit-59129.html?p=1> (03.06.2013).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension