C. Soboth u.a. (Hrsg.): Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus

Cover
Titel
"Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget". Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009


Herausgeber
Soboth, Christian; Sträter, Udo
Reihe
Hallesche Forschungen 33
Erschienen
Anzahl Seiten
933 S.
Preis
€ 124,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Albrecht, Institut für Kirchen- und Dogmengeschichte, Universität Hamburg

Der erste Pietismuskongress im Jahr 2001 markierte in aller wünschenswerten Deutlichkeit, dass die Pietismusforschung sich in internationalen und interdisziplinären Dimensionen vollzieht. Eines weiteren Beweises bedarf dieser Umstand nicht mehr. Die beiden folgenden Kongresse, die 2005 und 2009 jeweils in Halle an der Saale stattfanden, wandten sich Themen zu, die einer vielschichtigen Betrachtung bedürfen. Die jetzt vorliegende Dokumentation der 2009 gehaltenen Referate umfasst 64 Beiträge, die von 36 Autoren und 30 Autorinnen vorgestellt wurden. Der zeitliche Horizont erstreckt sich vom 16. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert, beispielsweise mit Ausblicken zu Werner Heisenberg und Hans-Georg Gadamer. Der Schwerpunkt liegt auf dem 18. Jahrhundert; der Pietismus in seiner Verortung zwischen lutherischer Orthodoxie und Aufklärung wird differenzierten Analysen ausgesetzt. Dazu kommt der Blick – auch das ohne ideologiebefrachtete Auseinandersetzungen – auf vorlaufende Traditionen und Auswirkungen weit über die klassische Zeit hinaus. Die normativen Repräsentanten und Institutionen des Pietismus stehen teilweise mit innovativen Frageansätzen im Fokus von etlichen Beiträgen. Ebenso werden klassische Texte einer erneuten und veränderten Fragestellung unterworfen sowie auch neue herangezogen. Die große Mehrheit der Aufsätze ist auf Deutsch abgefasst, einige auf Englisch, der Umfang reicht von 7 bis zu 20 Seiten. Die schriftliche Dokumentation wird bei einigen Aufsätzen durch die Beigabe von Darstellungen ergänzt. Die Referentinnen und Referenten repräsentieren die Interdisziplinarität des inzwischen erreichten Diskurses, indem historische, theologische, literatur-, musik- und kunstwissenschaftliche Perspektiven in diesen Bänden ihren Niederschlag finden. Den Pietismuskongressen gelingt es, neben etablierten Forschern und Forscherinnen den jüngeren Wissenschaftlergenerationen eine Plattform zur Darstellung ihrer Projekte und Ergebnisse zu bieten. Neben den klassischen personengeschichtlichen Aufsätzen, bei denen Martin Luther, Jakob Böhme, August Hermann Francke, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Friedrich Michael Ziegenhagen, Immanuel Kant, Christian Fürchtegott Gellert oder Friedrich Gottlieb Klopstock im Fokus stehen, finden sich Bibliotheken, Archive, Kirchen und Landschaftsparks als Untersuchungsobjekte, die nach ihrer Widerspiegelung der Auffassung von Erfahrung befragt werden. Insgesamt fällt auf, dass das Forschungszentrum Halle für viele Beiträge den Ausgangspunkt oder Bezugsrahmen darstellt. Hierin spiegelt sich zum einen die wissenschaftliche Bedeutung dieses Ortes, zum anderen aber auch die Komplexität der in Halle entstandenen bzw. mit diesem Ort verbundenen Dimensionen des Pietismus. August Hermann Francke spielt zwar nach wie vor eine bedeutende Rolle, aber auch seine Person wird in die Kontexte eingebunden; ähnliches gilt für Herrnhut und Graf Zinzendorf.

Im Gegensatz etwa zu August Langen1 unternimmt der Internationale Kongress nicht den Versuch, Erfahrung in einem oder auch mehreren Sätzen zu definieren. In sieben Abteilungen wird der Frage nach dem Verständnis von Erfahrungen nachgegangen: Theologische und philosophische Erfahrungskonzepte und ihre Kritik (9 Beiträge); Phänomene religiöser Erfahrung (6 Beiträge); Angewandte Erfahrung in Homiletik, Pädagogik und Medizin (9 Beiträge); Schreiben und Geschriebenes aus und mit Erfahrung (9 Beiträge); ästhetische und künstlerische Formulierungen von Erfahrung (12 Beiträge); Erfahrungen in und mit Gemeinschaften und Institutionen (8 Beiträge); Erfahrene Räume und Zeiten (10). Das kundige Vorwort wurde in Namen der Herausgeber von Christian Soboth verfasst.

Die in Abteilung I abgedruckten Beiträge spannen den zeitlichen Bogen von Martin Luther bis zu Immanuel Kant. Die Traditionslinien der Ausformung pietistischer Neuakzentuierungen werden vor dem Hintergrund lutherischer Konzepte des 16. und 17. Jahrhunderts erkennbar. Die Breite und Unterschiedlichkeit der pietistischen Denkansätze markieren etwa die Beiträge zu Francke, Zinzendorf, Albrecht Bengel und Johann Conrad Dippel. Johann Christian Edelmann, Johann Jakob Semler und Kant stehen für die Konvergenzen von pietistischem und aufklärerischem Denkansatz bzw. für eine Weiterentwicklung und Überwindung pietistischer Denkfiguren. Beispielhaft für diese erste Sektion sei Ernst Koch genannt, der anhand von akademischen Disputationen ausführt, in welcher Weise Fragen zu einem Neuansatz in der Erfahrungslehre von verschiedenen Seiten aus angesprochen und ausgeführt wurden. Die pietistischen Anregungen blieben auch für lutherische Entwürfe nicht ohne Folgen. Gottfried Arnold, dessen Werk „Theologia experimentalis“ von 1714 von Soboth im Vorwort eigens angeführt wird, erfährt leider keine eigene Betrachtung. Dies ist auf der einen Seite bedauerlich – auf der anderen Seite bietet die hier vorliegende Dokumentation die Möglichkeit, Arnolds postum erschienene Zusammenfassung seines Denkens der letzten Lebensperiode weiteren Analysen zu unterziehen und dessen Ergebnisse in die Debatte um den pietistischen Erfahrungsbegriff einzuspeisen.

In Abteilung II werden unter anderem Hallische Bekehrungsberichte, das Beten von Kindern in der schlesischen Kindererweckung sowie die Erfahrungen pietistischer Handwerker thematisiert. Hans-Jürgen Schrader verfolgt die literarische Gestaltung eines Bibelverses von Georg Büchner über Schiller bis zu Thomas Mann. Es geht um die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31) – ein mehrere Epochen übergreifender Blick auf eine heute auch in theologischen Zusammenhängen eher befremdlich anmutende neutestamentliche Aussage. Unter diese zweite Kategorie des Kongresses hätten sich auch viele der anderen Beiträge einordnen lassen.

Die Mehrzahl der unter III zusammengefassten Aufsätze widmet sich pädagogischen Themenfeldern, unter anderem kommen hierbei hallische Autoren und Niederländer zur Sprache. Predigttheorie und -praxis stehen im Mittelpunkt von zwei Beiträgen, während sich Rita Wöbkemeier der Frage der Vermittlung des Wortes Gottes an Gehörlose zuwendet. Jürgen Helm widmet sich Fallgeschichten in der Medizin und hebt hervor: „In der medizinischen Forschung ist die Bedeutung der Fallgeschichte für die Medizin des 18. Jahrhunderts bislang nur unzureichend gewürdigt worden“ (S. 363). Den Analysegegenstand bilden Materialsammlungen der beiden hallischen Ärzte Christian Friedrich Richter und Friedrich Hoffmann. Die legendäre, aber auch umstrittene essentia dulcis, steht im Mittelpunkt einiger der gesammelten Fallgeschichten. Helm versteht diese hallischen Veröffentlichungen als ein Beispiel für „Kulturmuster der Aufklärung“. Nicht die Fallgeschichten an sich bezeichnen das Neue, sondern deren gezielter Einsatz, sie dienten „der Werbung für bestimmte Therapieverfahren und der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen“ (S. 373).

Abteilung IV bietet unter anderem Einblicke in Gespenster-Gutachten, briefliche Kommunikationsnetzwerke, die Rolle des Trostbriefes, Herrnhutische Lebensläufe sowie Konflikte in Herrnhut über die Selbständigkeit der ledigen Frauen. Susanne Schuster analysiert ein Trost- und Gebetbuch, das von einer Frau für Frauen in von ihr erlebten Lebensituationen gedacht war: der „Geistlice Weiber=Aqua=Vit“ der Gräfin Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt von 1683. Schwangerschaften, Geburten und Erkrankungen der Kinder stehen im Zentrum dieser Erbauungsschrift, die der Hausmütterliteratur zugewiesen werden kann. „Im Vergleich zu anderen schreibenden Frauen im Umfeld des Pietismus weist Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt ihr Schreiben nicht als prophetische Beauftragung und Begabung aus. Ihre Legitimation beruht vielmehr in ihrer Rolle als Landesmutter“ (S. 401). Ulf Lückel greift zwei für die Forschungen zum radikalen Pietismus wichtige Aspekte auf: zum einen das Ideal und die Praxis der philadelphischen Gemeinde, zum anderen ein bisher unveröffentlichtes Tagebuch eines radikalpietistischen Grafen. Casimir zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg steht für die experimentierfreudigen Grafenhöfe, an denen pietistische Realutopien zeitweise umgesetzt wurden. Das der Forschung bisher nur auszugsweise bekannte Diarium des Grafen beleuchtet das Berleburger Experiment der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden.

In Abteilung V thematisieren jeweils zwei Beiträge die Schriftsteller Friedrich Gottlieb Klopstock und Adam Bernd sowie die in Halle erschienenen Gesangbücher von Johann Anastasius Freylinghausen. Außerdem werden unter anderem die Schelfkirche in Schwerin, eine Schrift Christian Hoburgs sowie der Roman „Anton Reiser“ zu Gegenständen der wissenschaftlichen Betrachtung. Das autobiografische Werk des Theologen Adam Bernd bietet Anlass zu unterschiedlichen Fragestellungen: Cornelia Bogen wendet sich seinen Überlegungen zum Suizid zu, die sie in den zeitgenössischen Melancholie-Diskurs einordnet. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie Bernd durch die Beschreibung seiner eigenen Tendenzen zur Selbsttötung an der Schwelle zu einer geänderten Auffassung über den Selbstmord steht. Katrin Löffler fragt anhand desselben Textes nach anthropologischen Konzepten, die den Autor prägten. Sie verortet ihn, wie auch die weitere Bernd-Forschung, zwischen Pietismus und Frühaufklärung und verdeutlicht dies mit Hilfe der von Bernd verwendeten Parameter für seine Körper- und Seelenerfahrungen.

Bei den in Abteilung VI abgedruckten Aufsätzen dominieren auf Halle bezogene Analysen ganz unterschiedlicher Art. Die in Halle aufbewahrte Privatbibliothek Carl Hildebrand von Cansteins, das Verhältnis des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. zu den Hallensern, ein hallischen Arzt und Chemiker sowie Halle als Knotenpunkt der Vermittlung zwischen Alter und Neuer Welt stellen die untersuchten Themenfelder dar. Herrnhut bzw. die Brüdergemeine mit ihrer Geschichte und ihren Institutionen steht in zwei Beiträgen im Mittelpunkt, dazu kommen Erfahrungsberichte jüdischer Konvertiten und der Vergleich zwischen Francke und Carl Mez, mithin der Vergleich zwischen 18. und 19. Jahrhundert. Paul Peucker richtet seinen Blick anhand des Herrnhuter Archivs auf die Frage nach der Konzeptualisierung von Erinnerung. „Das Archiv war eine Fortführung der Bibel, die die Geschichte der Kinder Gottes dokumentierte. Das Archiv sollte der Nachwelt als Quelle dienen, aus der sie erkennen sollte, dass die Brüdergemeine des 18. Jahrhunderts ‚ein Volk Gottes‘ gewesen war“ (S. 704 f.). Das Sammelgut, das heißt auch die Lebensläufe, bildet Dokumente „der Geschichtsauffassung der Herrnhuter und einer pietistischen Theologie“ (S. 705).

Abteilung VII versammelt Räume und Zeiten, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten – jedoch alle über sehr direkte oder eher indirekte Bezüge zum Pietismus miteinander verbunden sind: Böhmen, Mähren, England, Indien, Nordamerika, Württemberg und Buchwald in Schlesien sowie das 18. bis 20. Jahrhundert. Gräfin Friederike von Reden gestaltete, wie der Aufsatz von Urszula Bończuk-Dawidziuk zeigt, in ihrer Umgebung um das Schloss Buchwald in den Niedersudeten ein eindrucksvolles Ensemble erwecklicher Aktivitäten in den üblichen Formaten. Zu den unüblichen Praktiken gehört, dass sie Präsidentin der regionalen Bibelgesellschaft wurde. Alexander Schunka stellt dar, wie die Kontakte der Pietisten nach England sich in Halle niederschlugen unter anderem in Büchersammlungen, Englischunterricht, Räumen und Kontaktnetzen. Die in Halle konzentrierte Englandkompetenz erstreckte sich nur über eine kurze Periode, war jedoch für das frühe 18. Jahrhundert bemerkenswert und kann als einzigartig bezeichnet werden. Der letzte Beitrag dieser Abteilung von Stefan Mühr greift noch einmal die Frage nach der Kategorie der Erfahrung auf und verfolgt diese mit kurzen Streifzügen von Luther, über Arnold, Goethe und Brockes hin zu Heisenberg. Damit rundet sich der der Veranstaltung von 2009 zum Ausgangspunkt dienende Fragehorizont in seiner zeitlichen Erstreckung noch einmal ab.

Gelegentlich führt die dem Kongress aufgegebene, relativ unspezifische Frage nach Erfahrung dazu, dass die Beiträge zwar Neues und Wichtiges zur pietistischen Debatte beitragen, aber nicht unbedingt differenzierte Erkenntnisse hinsichtlich der Auffassung und Verwendung der Kategorie Erfahrung ergeben. Die pietistische Betonung der praktischen Ebene des Glaubens kann dazu (ver-)führen, schließlich jeden Aspekt des Pietismus als Beitrag zum Erfahrungs-Diskurs zu sehen. Genderaspekte werden in nur wenigen Beiträgen prominent diskutiert, sie sind jedoch aus dem Pietismus-Diskurs nicht mehr wegzudenken und -zuschreiben. Eine entsprechende Fokussierung hätte diese beiden umfangreichen Bände noch um eine weitere neuere Perspektive bereichern können.

Während die Bände insgesamt sorgfältig redigiert sind, weist der Text des vorderen Umschlags eine Differenz zur Titelei im Inneren des Buches auf. Der Aufzählung von Glauben, Erkennen und Handeln dürfte jedoch der Vorzug zu geben sein – statt des Dreiklangs von Glauben, Erkennen und Gestalten. Ein Personen- und ein Ortsregister erleichtern die Erschließung der umfangreichen Dokumentation. Auch wenn das Verständnis und die Verwendung des Begriffs der Erfahrung in pietistischen Kontexten mit dieser Veröffentlichung entscheidend vorangetrieben worden ist, so bleiben noch genauso viele Themenfelder unausgeleuchtet. An diese Basis kann jedoch die weitere Forschungsdebatte gut anschließen, um die Erfahrungskategorie sowohl in ihren historischen Traditionslinien als auch in ihren Neuakzentuierungen in den Aufbrüchen des 18. Jahrhunderts noch besser zu verstehen.

Anmerkung:
1 August Langen, Der Wortschatz des Deutschen Pietismus, 2. Aufl., Tübingen 1968, verweist zum Begriff Erfahrung auf den biblischen Hintergrund: „Allgemein betont dann das Luthertum die Bedeutung der inneren Erfahrung, d.i. des persönlichen Erlebens Gottes. Der Pietismus nimmt diesen Begriff auf.“ (S. 248) Insbesondere verweist Langen noch auf ein Werk Gottfried Arnolds.

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