Cover
Titel
Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur


Herausgeber
Abel, Thomas; Deppner, Martin Roman
Reihe
Image 7
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Linda Conze, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Ein Mangel an methodischem Werkzeug für den Umgang mit Bildern ist eine in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen verbreitete Diagnose. In ihrem Umfeld positioniert sich auch der von Thomas Abel und Martin Roman Deppner herausgegebene Sammelband, der auf das 30. Bielefelder Fotosymposium zurückgeht, das im November 2009 unter dem Titel „Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur“ an der Fachhochschule Bielefeld, Fachbereich Gestaltung, veranstaltet wurde.1

Der Titel sowohl des Symposiums als auch des Sammelbandes basiert auf einem Zitat W. J. T Mitchells, der die visuelle Kultur als „Undisziplin“ bezeichnet hat, die eher eine Problematik als einen klar umrissenen Gegenstand benennt. Hier liege, so Mitchell, ihr großer Vorzug.2 Die Herausgeber leiten daraus Grundannahme und Programm ihrer Publikation ab: dass für die produktive Weiterentwicklung der Fotografieforschung vor allem der Abbau von geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplingrenzen und die Förderung eines Austauschs notwendig sei. Und das ist nicht die einzige Grenzüberschreitung, die der Band leisten möchte. Ebenso geht es um eine Annäherung von Fototheorie und -praxis sowie von Wissenschaft und Kunst – ein ambitioniertes Programm, das die Veranstalter des Fotosymposions, die Fachhochschule Bielefeld und die Bielefelder Graduate School in History and Sociology, offensiv verfochten. Denn das Symposion versteht sich nicht nur als Austragungsort für Theoriedebatten, sondern ebenso als Ausstellungsplattform für zeitgenössische Fotokünstlerinnen und Fotokünstler, die in einen Dialog mit den Theoretikerinnen und Theoretikern treten. Der Dialog ist auch erklärtes Ziel des Sammelbandes, wobei der Untertitel, „Fotografie als dialogische Struktur“, zunächst in die Irre führen mag: Zumindest programmatisch geht es weder um bildimmanente dialogische Strukturen wie etwa Blickwechsel oder den medienspezifischen Niederschlag sozialer Figurationen im Bildraum, noch um die kommunikative Kraft von Fotografie, sondern allein um den Dialog verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Kunst über Fotografie.

Der Band gliedert sich in vier Teile: der erste, umfangreichste Teil beschäftigt sich mit Fragen der Methodik. Fünf Beiträge loten hier die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns durch Fotografien aus. Sie diskutieren die Herausforderungen und Potenziale des Mediums, und zwar sowohl als Werkzeug wie auch als Untersuchungsgegenstand. Im zweiten Teil werden in drei Einzelstudien zu Phänomenen und Praktiken der visuellen Kultur unterschiedliche methodologisch-theoretische Herangehensweise exemplifiziert. Daran anschließend kommen die Praktiker zu Wort, wenn drei Fotografen ihre auch im Band abgebildeten Arbeiten kommentieren. Der letzte, vierte Teil ist einer Werkschau des Gestaltungs-Fachbereichs der Fachhochschule Bielefeld zum Thema Undiszipliniertheit gewidmet, deren spannendstes Exponat auch den Buchdeckel ziert: eine anonyme Privatfotografie, welche die Künstlerin Katharina Wilke in ein unfertiges Stickbild verwandelt hat. Hier wird die Gemachtheit des Fotos in seiner ästhetischen Dimension offengelegt.

Die Autoren des Methoden-Teils sind sich einig: Ein adäquater Umgang mit Fotos ist voraussetzungsreich, und zwar aufgrund jener beiden Eigenschaften der Fotografie, die seit Überwindung der Idee vom „Zeichenstift der Natur“ (Henry Fox Talbot) in der Fototheorie unablässlich diskutiert werden – ihre Polysemie sowie ihre unüberbrückbare mediale Differenz zur Sprache. Das ist so weit naheliegend. Auffällig ist, dass die Beiträge dieses ersten Abschnitts einheitlich aus soziologischer Perspektive verfasst sind. Das Anwendungsfeld, auf das sich ihre methodologischen Erörterungen beziehen, ist überwiegend das der empirischen Sozialforschung. Die Anschlussfähigkeit für andere Disziplinen – es sei an die Programmatik des Sammelbandes erinnert – ist unterschiedlich ausgeprägt.

Während Volker Dreier sich dem Fotoapparat als Messgerät zuwendet und die Eignung von Fotografien als empirische Daten diskutiert, geht es Ralf Bohnsack um die vorgefundene Fotografie als Forschungsgegenstand, welcher Zugang zum Erfahrungsraum von Bildproduzenten berge. Burkard Michel fokussiert weniger die Bilder selbst als vielmehr ihre Rezeption, wohingegen Jan-Hendrik Passoth die Handlungsmacht von Bildobjekten und deren Bedingtheit durch Apparate, Settings und Formate in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Matthias Vogel und Ulrich Binder verfolgen die flexible und daher als „undiszipliniert“ verstandene Beziehung zwischen Bild, Bildträger und Kontext im Bereich von Publizistik und Kunst.

Dreiers Beitrag liest sich als informierte Reflexion sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, an deren Ende die Eignung von Fotos als Werkzeuge in der empirischen Sozialforschung bejaht wird – ausgestattet mit den gleichen Gefahren und Potenzialen wie andere Formen empirischer Daten. Bohnsack zeigt praxisrelevant auf, dass ein Sich-Einlassen auf die eigengesetzliche Struktur des Bildes einen systematischen Zugang zur Eigengesetzlichkeit des Erfahrungsraums der Bildproduzenten liefert, an dem viele Disziplinen ein Interesse haben dürften. Er erarbeitet eine systematische Interpretationsmethode für Fotografien, welche er bildtheoretisch und dabei disziplinübergreifend herleitet und die, seinem Forschungsschwerpunkt entsprechend, auf die Nutzbarmachung der Dokumentarischen Methode hinausläuft. Sein Plädoyer für einen methodisch-kontrollierten Umgang mit sprachlich-textlichem Vorwissen bei der Bildinterpretation bietet konkreten Nutzen auch für eine nicht-soziologische Auseinandersetzung mit Fotoquellen. Burkard Michel liefert in seinem Beitrag vor allem zwei Auszüge aus Rezeptionsprotokollen zu einem Bild des Dokumentarfotografen Eugene Richards. Deren kursorische Analyse unter Gesichtspunkten der praktischen Sinnbildung bestätigt die Vieldeutigkeit von Fotografien, die Michel ihr bereits als Hypothese vorangestellt hatte. Jan-Hendrik Passoths von sozialwissenschaftlichem Theorievokabular getränkter Beitrag nimmt das Verhältnis zwischen medientechnischen Arrangements und Sozialität in den Blick, und zwar anhand zweier Beispiele aus der Theorie (Benjamins Kunstwerk-Aufsatz3 und Latours Gedanken zu „Clic clac, merci Kodak“4) sowie einem eigenen, empirischen Beispiel, dem Interestingness-Algorithmus der Internetplattform Flickr. Vogel und Binder verfolgen mit leicht aufklärerischem Impetus die Bedeutungsverschiebung von Bildern im Zusammenhang mit Medienwechseln.

Nach diesen fünf Perspektiven auf methodische Fragen machen sich Bernd Stiegler, Susanne Regener und Susanne Holschbach an die Anwendung. Die Autorinnen und der Autor nutzen fotosoziologische bzw. -historische Methoden zur Analyse verschiedener sozialer und epistemologischer Phänomene und Praktiken im engsten Umfeld der Fotografie. Stiegler betrachtet das sogenannte Optogramm, das heißt die Idee der Einschreibung des zuletzt Gesehenen in der Netzhaut eines Toten, und ihre Wirkmacht als wissenschaftliche Annahme in der Medizin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In einem Streifzug durch die Literatur- und Filmgeschichte arbeitet er die wissensgeschichtlichen Implikationen des Topos heraus. Regener betrachtet den Fotoautomaten als Identitätsmaschine und verfolgt die verschiedenen Nutzungs- und Aneignungsformen durch Staat, Kunst und Laien von seiner Erfindung bis zum heutigen Tag. Holschbach kommt noch einmal auf das Online-Portal Flickr zurück und fragt exemplarisch nach dort angewandten Sharing-Praktiken, die Ordnungen quer zu althergebrachten Archivierungsprinzipien und Genrevorstellungen hervorbringen würden. Keine/r der Beiträger/innen in diesem Abschnitt des Bandes versucht sich an einzelnen Fotoanalysen. Vielmehr führen sie produktiv die Verwebung von Foto- und Wissensgeschichte vor und beweisen eine forschungspraktische Leichtfüßigkeit, die der ewigen Rede von der Außergewöhnlichkeit bildhistorischer und -soziologischer Fragestellungen, auf die in gewisser Weise auch Abel und Deppner ihre editorische Programmatik gründen, den Wind aus den Segeln nimmt. En passant lösen Stiegler, Regener und Holschbach das Szenario der Eins-gegen-Eins-Situation zwischen Forscher/in und widerspenstigem Bild auf: Fotos bzw. fotografische Phänomene vermögen zu Fragen inspirieren, oder sie begegnen uns Wissenschaftler/inne/n auf der Suche nach Antworten – nicht mehr, aber auch nicht weniger bedeutet Visuelle Kultur als Forschungsgegenstand.

Als anregend konkret und in der Zusammenstellung tatsächlich ungewöhnlich erweisen sich zuletzt die beiden praxisorientierten Teile des Bandes. Wenn die Fotografen Bertien van Manen, Michael Schmidt und Olaf Unverzart unterschiedliche Präsentationsformen und deren vorauseilende Konsequenzen für die Bildproduktion reflektieren, über Alltag und Inszenierung sprechen und zur Beeinflussbarkeit von Bildrezeption befragt werden, belegt der Sammelband die gegenseitige Anschlussfähigkeit von Theorie und Praxis. Zwar stehen beide Sphären editorisch doch unverbunden nebeneinander, aber das Konzept der Publikation regt zu eigenen Verknüpfungen an.

Schlussendlich erweist sich auch mit Blick auf diesen Sammelband vor allem der Topos vom Methodendefizit angesichts fotografischer Bilder als disziplinübergreifend – bei gleichzeitiger Offenlegung seiner relativen Überholtheit. Womöglich ist es weniger die Interdisziplinarität, welche die Bildforschung herausfordert – übrigens hat sie auch Mitchell selbst nur marginal interessiert.5 Vielmehr verlangt die Auseinandersetzung mit Fotografie neue produktive Fluchtpunkte für Fragen an diese Elemente visueller Kultur – unabhängig davon, ob diese Fragen disziplinspezifischer oder -übergreifender Natur sein mögen.

Anmerkungen:
1 Siehe: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=12568> (11.12.2013).
2 Vgl. W. J. T. Mitchell, Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S. 268.
3 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1977, S. 7–44.
4 Vgl. Bruno Latour, Technology is Society made durable, in: John Law (Hrsg.), A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, London 1991, S. 103–131.
5 Mitchell, Bildtheorie, S. 265.

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