O. Trede: Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration

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Titel
Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration. Gewerkschaften und Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1960er und 70er Jahren


Autor(en)
Trede, Oliver
Reihe
Studien zur historischen Migrationsforschung 28
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Hordt, SFB 923 – Bedrohte Ordnungen, Universität Tübingen

Migration und Integration sind die prägenden Themen unserer Zeit. Seit den 1990er-Jahren diskutiert die deutsche Öffentlichkeit, ob ‚wir‘ ein Einwanderungsland seien und was genau das bedeutet.1 Ungefähr im gleichen Zeitraum hat sich die historische Migrationsforschung im deutschen Sprachraum als eigenständiges Feld etabliert.2 In Oliver Tredes Studie geht es nun um den Umgang „der Gewerkschaften“ mit Arbeitsmigration in den 1960er- und 1970er-Jahren in Westdeutschland und Großbritannien.

Die Forschungsleistung ist immer solide, in vielen Abschnitten exzellent – es dauert aber zu lange, bis der Autor zum Punkt kommt. Das liegt am Zuschnitt der Untersuchung. Trede kann sich im ersten Teil des Buches nicht von einem abstrakten Ziel (und einer sperrigen Sprache) lösen: Stets geht es um „die Gewerkschaften“ und „Arbeitsmigration“ als solche, wo die zitierten Quellen eher begrenzte Aussagen nahe legen würden. Schließlich hat Trede zwei gewerkschaftliche Dachverbände, DGB und Trades Union Congress (TUC), sowie zwei Einzelgewerkschaften, IG Metall und Transport and General Workers Union (TGWU), untersucht und nicht „die Gewerkschaften“. Folgerichtig korrigiert der Verfasser den abstrakten Einschlag im Laufe des Buches: Die empirischen Kapitel vollziehen anschaulich nach, welche konkreten Debatten im DGB und im TUC geführt wurden und welchen praktischen Herausforderungen sich die gewerkschaftliche „Ausländerarbeit“ stellen musste. Mit der Schlussbetrachtung gelingt Trede schließlich ein exzellenter Vergleich zum Thema Gewerkschaften und Migrationspolitik in Westdeutschland und Großbritannien.

Trede zeigt, dass die Gewerkschaften und ihre Dachverbände „on the ground“ weder eindeutig für, noch eindeutig gegen die Integration von Arbeitsmigranten gewesen sind. Gleichwohl geriet die gewerkschaftliche Interessenvertretung der un- und angelernten Industriearbeiter durch die Masseneinwanderung unter Druck. Am unteren Ende der Lohnskala herrschte wegen der Einwanderer schlicht ein größeres Angebot an Arbeitskräften als zuvor. Und dieses Angebot konnte nur teilweise durch Unterschichtung, also den Aufstieg einheimischer Arbeitskräfte, aufgefangen werden.

Die Dachverbände der Gewerkschaften und die zwei Einzelgewerkschaften IG Metall und TGWU begegneten dem Zuzug von Arbeitskräften daher zuerst mit Misstrauen. Von einer eigenständigen Politik für Arbeitsmigranten konnte Mitte der 1960er-Jahre keine Rede sein. Die Stärke der Arbeiterschaft war oberstes Ziel. Verhandlungspositionen der einheimischen Arbeitnehmer sollten nicht geschwächt werden – das und nicht prinzipieller Antirassismus stand hinter den ersten Forderungen nach Integration: „People cannot live in this country for the rest of their lives being regarded as immigrants. […] If coloured immigrants are unwilling to integrate or unable to secure acceptance as they are, we shall have, […], permanent and weakening division among workpeople.“ (Victor Feather, TUC-Vorsitzender, 1968, S. 149)

Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre setzte ein Wandel ein. Früher als andere Organisationen erkannten die Gewerkschaften, dass sie konstruktiv mit den Zuwanderern umgehen müssten, die schon da waren. Aber Arbeitsmigranten blieben weiterhin die „Anderen“. So warnte der Abteilungsleiter beim IG Metall-Hauptvorstand, Max Diamant, der – nebenbei – selbst aus Polen stammte, bereits vor dem Ford-Streik in Köln mit drastischen Worten vor einer Welle von „Gastarbeiterstreiks“ (S. 218 ff.). Trotz der ersten Anfänge einer Integrationspolitik bestand also ein Konsens darüber, dass – auch angesichts der abkühlenden Konjunktur Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre – nicht noch mehr „ausländische“ Arbeiter kommen sollten.

In den 1970er-Jahren begann auf der Führungsebene der Dachverbände ein zaghaftes Umdenken. Die Integration von Migranten wurde erstmals als eigenständiges Ziel gewerkschaftlicher Politik aufgefasst, obwohl in den Einzelgewerkschaften immer noch starke Beharrungskräfte wirkten. In Großbritannien war es vor allem eine parlamentarische Untersuchung, die 1973/74 offenlegte, wie die Gewerkschaften selbst im closed-shop-System der britischen Industrie ‚rassisch‘ (racially) diskriminierten. In der Bundesrepublik und in Großbritannien trat die Frage nach dem Status der „Ausländer“ bzw. „immigrants“ in den Vordergrund. Nach dem westdeutschen Anwerbestopp und dem Ende des freien Zuzugs von Commonwealth-Immigranten musste der Nachzug von Familienangehörigen neu geregelt werden. Die Frage war: Wie sollte das geschehen? Wer durfte seine Angehörigen nachholen? Und was bedeutete die dauerhafte Ansiedlung von Ausländern für die eigene Gesellschaft?

Integration war damals noch eine Lösung, die nur von ganz wenigen propagiert wurde und die sich nur langsam durchsetzen konnte. Erst Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre traten regelmäßig Migranten als gewählte Delegierte bei Gewerkschaftskongressen auf. 1980 etwa war Salih Güldiken, türkischer Betriebsrat während des Ford-Streiks, unter den Delegierten. In der Bundesrepublik entzündete sich die Debatte um Integration – welch Wunder – am Ausbildungssystem. Statistiken offenbarten, dass die Kinder von Gastarbeitern fast nie eine Berufsausbildung machten, ja einige nicht einmal die Schule besuchten. Für die Gewerkschaften war dieser Befund ein Schock. Die Entstehung einer geringqualifizierten Reserve ausländischer Arbeiter drohte ihren Einsatz für ein besseres Ausbildungs-, Qualifikations- und Lohnniveau für alle Arbeitnehmer zu entwerten.

Für Großbritannien ist in den 1970er- und 1980er-Jahren eine besondere Entwicklung zu beobachten. Dort kippte die gesellschaftliche Stimmung gegenüber den Gewerkschaften. Fast alle Arbeitskämpfe wurden nun als Grundsatzkonflikte um politische und gesellschaftliche Macht gedeutet. Das führte teils dazu, dass die spezifische Diskriminierung von Migranten in der öffentlichen Diskussion keine Rolle mehr spielte. Trede kann das am Beispiel des „Grunwick-Dispute“, eines Streiks in einer Filmentwicklungsfirma, zeigen. Hier traten die Belange von Migranten hinter eine allgemeine Solidaritäts- und Empörungsrhetorik zurück.

Für die frühen 1980er-Jahre bietet Tredes Studie ein offenes Ende an: Das Misstrauen begann zu schwinden, die Regulation von Arbeitsmigranten veränderte sich und bei der Integration erfolgten die ersten, zaghaften Schritte – nicht mehr und nicht weniger.

Oder doch? Lässt sich die Integration von Arbeitsmigranten mit der Art von Diskursgeschichte, die Trede schreibt, wirklich erfassen? Es geht Trede um Wahrnehmungen historischer Akteure. Darunter versteht er im Wesentlichen Gewerkschaftsfunktionäre. Dieses Vorgehen ist zwar legitim, aber müsste beim Thema Integration nicht doch mehr über die Subjekte gewerkschaftlicher Politik zu erfahren sein? Etwa, wie die (einheimischen und zugewanderten) Arbeiterinnen und Arbeiter Misstrauen erlebten, Regulation erduldeten und schließlich – gegen alle Hindernisse – die Integration selbst gestalteten? Viele Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass es genügend Material gibt, um ‚arbeitende Subjekte‘ zum Sprechen zu bringen – und dass sich das fast immer lohnt3. Oft lag das Erleben der Arbeiter quer zu dem, was ihre gewählten Fürsprecher wollten. Trede erwähnt diesen Gegensatz zwischen Basis und Organisation mehrfach, bezieht die Basisebene dann aber kaum in seine Analyse ein.

Wie ist das Buch also einzuordnen? Trede hat eine gute Arbeit veröffentlicht. An manchen Stellen bleibt allerdings unklar, ob der Autor einer historischen Fragestellung gefolgt ist oder ob er nicht vielmehr Integrationsdefizite in der Gegenwart anmahnen möchte. Beides muss sich nicht ausschließen. Denn aus der Arbeit geht ja eines ganz klar hervor: Integration oder deren Ausbleiben kann man nur als Resultat von ökonomischen Konflikten und politischen Machtverhältnissen verstehen. Und die historischen Akteure können die Verhältnisse zwar beeinflussen, sie stehen ihnen aber nicht frei zur Verfügung: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken […].“4 Schon gar nicht die Menschen, die auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben in ein anderes Land aufbrechen.

Anmerkungen:
1 Vgl. den aktuellen Beitrag von Dirk Hoerder, Arbeitsmigration und Flucht vom 19. bis ins 20. Jahrhundert, in: Mittelweg 36, 25 (2016), Heft 1, S. 3–32.
2 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Fremdarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001; Jochen Oltmer / Axel Kreienbrink / Carlos Sanz Díaz (Hrsg.), Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2012.
3 Vgl. Lutz Raphael, Flexible Anpassungen und prekäre Sicherheiten. Industriearbeit(er) nach dem Boom, in: Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 51–64; Camilla Schofield, Enoch Powell and the Making of Postcolonial Britain, Cambridge 2013.
4 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon, 2. Aufl. Hamburg 1869 (Original 1851), S. 1.

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