G. Paul u.a. (Hrsg.): Sound des Jahrhunderts

Cover
Titel
Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute


Herausgeber
Paul, Gerhard; Schock, Ralph
Anzahl Seiten
630 S.
Preis
€ 7,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Hilgert, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Kaum sind sie einmal verstummt, haben sich die Klänge, Töne, Melodien, Stimmen und Geräusche der Vergangenheit größtenteils auch schon aus dem historischen Bewusstsein verflüchtigt. Entsprechend gering ist das Wissen über die auditiven Eigenschaften und Eigenheiten zurückliegender Zeiten. Erst jüngst hat die (deutsche) Geschichtswissenschaft die akustische Welt als bedeutsames Forschungsfeld für sich entdeckt.1 Der zu besprechende Sammelband zeigt eindrucksvoll, wie lohnend die Beschäftigung mit den Spezifika verklungener Klangwelten, mit der geschichtsgestaltenden Kraft bestimmter Schallereignisse und mit der „Ikonenhaftigkeit“ akustischer Erinnerungsorte ist. Herausgeber sind der Flensburger Historiker und engagierte Wegbereiter einer „Visual History“, Gerhard Paul, und der Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks, Ralph Schock.

Der Band will entgegen seinem programmatischen Titel „keine in sich geschlossene Sound History des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts“ sein, sondern „allenfalls Aspekte und Facetten“ eines im Wesentlichen ja erst noch zu bestellenden Arbeits- und Forschungsfelds aufzeigen (S. 15). Insgesamt 83 Autorinnen und Autoren – Historiker/innen, Sprach-, Medien- und Musikwissenschaftler/innen, Soziolog/innen und Journalist/innen – konnten für dieses Unterfangen gewonnen werden. Entsprechend heterogen sind die Artikel, die hier schlechterdings nicht im Detail gewürdigt werden können.2 Untersuchungsgegenstände, Erkenntnisziele und Fragestellungen variieren ebenso wie Begrifflichkeiten und darstellerische Stringenz. Neben Beiträgen zur akustischen Zusammensetzung ganzer Klanglandschaften, etwa der Großstadt zur Jahrhundertwende, finden sich Artikel zu epochalen Musikstilen oder zu berühmt gewordenen Ausrufen, wie John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“. Und neben technikbezogenen Erörterungen stehen Beiträge zu sozialen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen oder geschlechterspezifischen Aspekten einzelner Klanggeschichten. All dies unterstreicht Pauls Credo, dass eine „Sound History“ aufgrund ihrer methodischen und theoretischen Herausforderungen nur als interdisziplinäres Projekt denkbar sei (ebd.). Und es verdeutlicht, wie groß hier der Nachhol- und Beratungsbedarf der Geschichtswissenschaft ist, die traditionell auf schriftliche und bisweilen vielleicht auch auf „bildliche“ Quellen zurückgreift, aber akustischen Traditionen und Überresten vielfach noch ratlos gegenübersteht.

Der in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung erschienene Sammelband3 richtet sich an eine breite Leserschaft, was unter anderem an der auf Verständlichkeit abzielenden Sprache und der besonderen Berücksichtigung „vertrauter“ und populärer „Sound-Ikonen“ vor allem aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich wird. Gleichwohl knüpfen die Beiträge an wissenschaftliche Diskussionen an und bieten diesbezüglich weiterführende Literaturhinweise. Bei manchen Zitaten und Darlegungen wären aus Gründen der Transparenz und der besseren Nachvollziehbarkeit freilich noch Herkunftsnachweise hilfreich gewesen. Ein Clou des Sammelbands ist zweifelsohne die beigefügte DVD. Darauf ist zunächst noch einmal das gesamte Buch im PDF-Format enthalten, was die Durchsuchbarkeit des Bandes erheblich erleichtert. Vor allem befinden sich darauf aber 82, größtenteils von Gerhard Paul ausgesuchte Tonbeispiele, welche einzelne in den Artikeln beschriebene und analysierte Klangphänomene nachhörbar machen und zur individuellen Auseinandersetzung einladen.

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, die sich erstaunlich eng und ohne weitere Begründung an die Zäsuren der politischen Ereignisgeschichte Deutschlands anlehnen: Der erste Abschnitt versammelt Beiträge zu Klanggeschichten zwischen der Etablierung erster Techniken zur Tonaufzeichnung im späten 19. Jahrhundert und dem Ende des Ersten Weltkriegs (1899–1919). Es folgen Kapitel zu klanggeschichtlichen Facetten der Weimarer Republik (1919–1933), zum „Sound“ des „Dritten Reichs“ (1933–1945), des alliierten Interregnums (1945–1949) sowie zur Akustik der langen und auch im Buch besonders umfangreich behandelten Zeitspanne zwischen 1949 und 1989, die Klanggeschichten der beiden deutschen Staaten bis zum Mauerfall behandelt. Das sechste und letzte Kapitel widmet sich dann der Zeit seit der Wiedervereinigung „bis heute“.

Zunächst werden vor allem die kulturellen und mentalen Auswirkungen der Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Techniken zur Aufzeichnung, Aufbewahrung und Wiedergabe von Schallereignissen behandelt. In dieser „soundgeschichtlichen Gründerzeit“ (Gerhard Paul, S. 20), die auch vom „Heavy-Metal der aufkommenden Schwerindustrie“ (Jan-Friedrich Missfelder, S. 28) und dem wachsenden Gedränge und Getöse der Großstädte geprägt war, veränderte sich die Wahrnehmung der akustischen Umwelt erheblich. Dem Faszinosum der technischen Klangkonservierung durch Phonograph und Grammophon, die eine raumzeitliche Entkoppelung vom Original-Schallereignis ermöglichte und insbesondere das Feld der Musik nachhaltig beeinflusste, standen derweil unter anderem Bemühungen zur Lärmverhütung oder -abwehr und eine neue Wertschätzung der Stille entgegen. Die Kakophonie der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs bildet gewissermaßen den dramaturgischen Höhepunkt dieses Kapitels.

Der zweite Abschnitt beleuchtet die akustischen Dimensionen der „roaring twenties“ samt ihrer Sport- und Vergnügungskultur sowie ihrer aufgeheizten politischen Situation. Besonderes Augenmerk liegt auf dem damals aufblühenden Hörfunk. Aber auch der keineswegs unumstrittene Wandel vom Stumm- zum Tonfilm und das gelegentlich unterschätzte Phänomen der politischen Kampflieder werden hier eindrücklich nachgezeichnet.

Beiträge zur Bedeutung von Lautsprechersystemen und des Hörfunks für die politische Propaganda, zur „Vernichtungsrhetorik“ eines Roland Freisler, zu Lärmwaffen wie der „Jericho-Trompete“ an den „Stukas“, zu akustischen Ortungsverfahren wie dem Echolot, zu Überlebensmitteln wie der Luftschutzsirene, zur „Swingjugend“ oder zum „Lili Marleen“-Mythos thematisieren im nachfolgenden Kapitel wiederum eindrucksvolle akustische Besonderheiten des „Dritten Reichs“ und des Zweiten Weltkriegs. Überdies werden die Hintergründe berühmter Radioereignisse, wie der Reportage vom Absturz des Luftschiffs Hindenburg oder des Hörspiels „War of Worlds“ betrachtet, wobei manch hartnäckiges aber irreführendes Klischee geradegerückt wird.

Im vierten Abschnitt geht es um charakteristische Klänge und Hörerlebnisse aus der Besatzungszeit – nicht zuletzt am Beispiel des American Forces Networks. Darüber, ob sich der Sound des Kalten Krieges auf einen Nenner bringen lässt, wie es Bernd Stöver versucht, mag man streiten. Nicht nur mentalitätsgeschichtlich aufschlussreich ist die zerklüftete Klanglandschaft zwischen Atombombenexplosion – deren spektakuläre Pilzwolke freilich meist eher erinnert wird –, Jazz und Neuer Musik, welche etablierte Harmonieempfindungen aufmischten, allemal.

Die Übergänge zur im fünften Abschnitt thematisierten Zeitspanne 1949–1989 sind erwartungsgemäß vielfältig. Auch hier wird vor allem den akustischen Signaturen des Ost-West-Konflikts und den musikgeschichtlichen Umwälzungen nachgespürt. Zahlreiche Soundikonen vom Herbert Zimmermann’schen „Tor, Toor, Toor, Tooooor“ anlässlich des „Wunders von Bern“ über das „Ho Ho Ho Chi Minh!“ der 1968er bis hin zu John Williams’ Musik für das Filmepos „Krieg der Sterne“ werden hier untersucht. Verblüffende Einsichten liefern auch die Beiträge von Karin Hartewig zum „erotische[n] Klang der Stöckelschuhe“ (S. 414) und von Axel Doßmann über die Parolen und die „Ruf-, Sprech- und Hörsituationen“ (S. 518) während der Revolution in der DDR 1989.

Das letzte Kapitel widmet sich den Klangwelten des sogenannten digitalen Zeitalters. Neben Hörbüchern, aktuellen Formen des audio-brandings und der Bedeutung von Musik für die filmische Erinnerung des Holocausts steht – angesichts gegenwärtiger Entwicklungen sehr passend – neben anderem ein Beitrag über akustische Abhörpraktiken. Deutlich wird, wie vielfältig die Perspektiven auf den „Sound“ der Geschichte sein können.

Inwiefern eine andere, möglicherweise stärker klanggeschichtliche Periodisierung und Gliederung des Buchs sinnvoll gewesen wäre, ist eine naheliegende Frage. Gleich mehrere Beiträge greifen – inhaltlich völlig zu Recht – über die Zeitspanne des jeweiligen Kapitels hinaus und verweisen auf Kontinuitäten und Entwicklungen.4 Auch die Themenauswahl mag kritisiert werden, weil sie vielleicht zu sehr einem westdeutschen Klanggedächtnis-Kanon folgt, weil mancher Leser eine ihm persönlich wichtige „Soundikone“ vermisst oder weil die Herausforderungen der „Sound“-Archivierung noch hätten angesprochen werden können. Angesichts des Fülle und Vielfalt der Beiträge und der darin behandelten Themen sowie der Zielsetzung, mit dem Band auch Nicht-Historiker/innen anzusprechen, sind die Auswahl und die chronologisch „pragmatische“ Anordnung der Beiträge allerdings durchaus gerechtfertigt. Nichtsdestotrotz lohnt es, auf Basis des Buchs weiter darüber nachzudenken, welchen Stellenwert Geräusche, Töne und Stimme in der Geschichte und in der heutigen Geschichtswissenschaft eigentlich einnehmen. Wie sehr präg(t)en akustische Welt und Hörsinn den menschlichen Alltag und das historische Geschehen? Zur Beantwortung dieser Frage liefert der Band wertvolle Anregungen.

Die Potenziale „soundgeschichtlicher“ Studien liegen auf der Hand. Im Buch sind Artikel enthalten, die sich entweder als Beiträge zu einer Medien- und Kulturgeschichte des Auditiven, seiner Techniken und seiner Praktiken oder als macht- und wirkungsorientierte Klanggeschichten des Politischen beziehungsweise als Studien zu akustischen Erinnerungsorten und deren Stellenwert im kollektiven Gedächtnis verstehen. Fasst man „Soundgeschichte“ nicht primär als Subdisziplin, sondern als mögliche Bereicherung für unterschiedliche (zeit)historische Forschungsvorhaben, wird der heuristische Mehrwert dieses Zugriffs für die Geschichtswissenschaft insgesamt deutlich.

Der buchstäblich gewichtige Band von Gerhard Paul und Ralph Schock besticht durch seine bemerkenswerte Fülle und beeindruckende Vielfalt an Themen, Facetten und Perspektiven möglicher Klanggeschichte(n). Es handelt sich um ein eindrückliches Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der akustischen Dimensionen der Geschichte.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu etwa meinen Bericht zur Sektion „Sound History“ beim 49. Deutschen Historikertag in Mainz, in: H-Soz-u-Kult, 26.10.2012, <hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4457> (29.06.2014).
2 Das Inhaltsverzeichnis ist abrufbar unter: <http://www.bpb.de/shop/buecher/zeitbilder/170341/sound-des-jahrhunderts> (29.06.2014).
3 Im Oktober 2014 erscheint im Göttinger Wallstein Verlag auch eine gebundene Ausgabe.
4 So nehmen etwa Gerhard Pauls lesenswerter Beitrag zur transmedialen Diffusion von Wagners Walkürenritt, Sigrid Faltins Abhandlung zum Schlager „La Paloma“ als „Grande Dame der Popmusik“ (S. 204), Inge Marßoleks originelle Annäherung an den „Soundkosmos Eisenbahn“ (S. 214) oder Bernd Stövers Versuch, einen spezifischen „Sound des Kalten Krieges“ (S. 320) zu identifizieren, eine deutlich größere Zeitspanne in den Blick, als aufgrund ihrer Kapitelzuordnung zu erwarten wäre. Möglicherweise hätten die exzellenten, aber in unterschiedlichen Kapiteln gedruckten Artikel zum „Sound“ der Großstadt von Peter Payer, Daniel Morat und Heiner Stahl auch noch stärker in Beziehung zueinander gesetzt werden können.

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