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Titel
Holocaust als Thema für Grundschulkinder?. Ethnographische Feldforschung zur Holocaust Eduacation am Beispiel einer Fallstudie aus dem amerikanischen Grundschulunterricht und ihre Relevanz für die Grundschulpädagogik in Deutschland


Autor(en)
Deckert-Peaceman, Heike
Reihe
Europäische Hochschulschriften, Reihe XI Pädagogik Bd. 862
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
€ 50,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Enzenbach, Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin

Der Begriff Holocaust Education hat längst auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung gefunden, ist aber inhaltlich unbestimmt geblieben. Wodurch sich Holocaust Education vom obligatorischen Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus unterscheidet, lässt sich bestenfalls erahnen. Die Diskussion um Holocaust Education in der Grundschule hatte in Deutschland Ende der 90er Jahre mit einigen Publikationen und einer internationalen Konferenz 1 einen kleinen Höhepunkt gefunden. Analysen der Unterrichtspraxis stehen hierzulande jedoch noch aus.

Ein in den USA verbreitetes Konzept von Holocaust Education und dessen Umsetzung im Grundschulunterricht beschreibt Heike Deckert-Peaceman in ihrem Buch. Wesentliches Merkmal des von ihr untersuchten Konzeptes ist es, die nationalsozialistischen Massen- und Völkermorde direkt mit einer allgemeinen Moralerziehung zu verknüpfen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Grundschulen in dieses Konzept einbezogen werden. Doch gerade der Unterricht in der Altersgruppe der 6-12jährigen fordert zu kontroversen Diskussionen über dessen Ziele und Methoden heraus. Ist es möglich und nötig, Kinder in diesem Alter mit dem Holocaust oder anderen Völkermorden zu konfrontieren? Wird durch Holocaust Education, die der Moralerziehung dienen soll, nicht per se der Mord an den europäischen Juden als Lückenbüßer für die in den zunehmend säkularen Gesellschaften oft ungeklärte Frage der pädagogischen Vermittlung ethischer Werte instrumentalisiert? Zu diesen Fragen liefert die vorliegenden Studie reichhaltiges Material.

Der erste Teil der Arbeit - einer Dissertation an der Universität Frankfurt - gibt einen Überblick über die deutsche Debatte zum Thema. Deckert-Peaceman zeichnet die Entwicklung chronologisch und im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach. Das Spektrum dessen, was unter Holocaust Education an der Grundschule verhandelt wird, reicht von allgemeiner Werte- und Toleranzerziehung, die ohne den Verweis auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik auskommt, bis zum Lesen von Kinderbüchern, die es sich zur Aufgabe machen, mit eindrücklichen Bildern nicht nur Verfolgung und Ausgrenzung, sondern auch die Vernichtungslager darzustellen. Geprägt ist die Diskussion von zwei schwer gleichzeitig zu erfüllenden Ansprüchen: einerseits Empathie mit Einzelschicksalen zu ermöglichen; andererseits nicht eine Geschichte des Überlebens (dank nicht-jüdischer Identifikationsfiguren) zu erzählen, sondern, den historischen Ereignissen verpflichtet, den Prozess der Massenvernichtung zu vermitteln. Dazu kommt häufig die Absicht, mit historischer Aufklärung Präventionsarbeit gegen antisemitische bzw. rechtsextreme Einstellungen zu leisten. Dem Überblickscharakter dieses Kapitels ist es geschuldet, dass grundlegende Streitpunkte nur angerissen werden, etwa die Frage, ob die Vermittlung des Holocaust in der Grundschule nicht zwangsläufig eine Trivialisierung und die Missachtung der Grenzen der Darstellbarkeit bedeutet.

Überblicksartig wie das erste ist auch das zweite Kapitel, in dem sich Heike Deckert-Peaceman den didaktisch-methodischen Diskussionen widmet. Der schulischen Praxis entsprechend, in der meist das Kinderbuch über den Nationalsozialismus das zentrale Medium ist, wählt sie dabei den Schwerpunkt „Erzählende Literatur als Zugang zum Thema Holocaust“. Sie betont die Vorzüge der historical fiction, die einen Zugang zum historischen Lernen schaffen und gleichzeitig sachliche Informationen adäquat vermitteln könne. Im Anschluss an Hayden Whites Analyse der Bedeutung von Narrativen sieht sie in diesen eine „Brücke zwischen den vergangenen Ereignissen und der Gegenwart, indem sie die Ereignisse so verändern, dass sie für die aktuelle Kultur eine Bedeutung haben.“(S.62) Im vorliegenden Fall muss dieses Konzept allerdings eine Balance zwischen der Banalisierung des Holocausts und der Traumatisierung von Kindern finden. Wiederholt beklagt Heike Deckert-Peaceman dabei das Forschungsdefizit zu den emotionalen und kognitiven Voraussetzungen von Grundschulkindern. Vielleicht hätte hier die Suche nach weiteren theoretischen Anknüpfungspunkten gelohnt, z.B. in den vorhandenen Arbeiten zu den Grundlagen historischen Lernens und zu den Modellen der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein 2. Diese wurden zwar nicht für Grundschüler und das Thema Holocaust entwickelt, bieten aber Interpretationsmodelle.

Hauptteil der Studie ist die ethnographische Feldforschung zur Vermittlung des Holocausts an Grundschulkinder in den USA. Mit der Wahl eines Fallbeispieles aus den USA beleuchtet Deckert-Peaceman einen zentralen Aspekt, der für die deutsche Diskussion relevant ist und über die Grundschulpädagogik hinausweist: die „Amerikanisierung des Holocaust“. Sie versteht darunter eine universalistische Deutung des Holocaust, der als dichotomer Gegenpart zu den amerikanischen Werten dargestellt wird. Für den Schulunterricht – und dabei insbesondere den Grundschulunterricht – bedeutet das, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zur negativen Folie für Moralerziehung wird. Heike Deckert-Peaceman hat dafür abschreckende Beispiele – gerade bei kommerziellen Anbietern von Unterrichtsmaterialien – gefunden: So wird die Lektüre eines Kinderbuches über die deutsche Besatzung in Dänemark interdisziplinär mit dem Schulgarten verwoben, denn die Besatzung lehrt uns auch den Wert von Kräutern, und in Mathematik wird sie als Aufhänger für die Einführung des metrischen Systems benutzt, da dieses damals in Dänemark in Gebrauch war. Heike Deckert-Peaceman sieht also sehr wohl die Gefahr, dass ein solcher Unterricht strukturell zu einer Trivialisierung führt. Sie benennt die Kritik an diesem Konzept, die falschen Parallelen zwischen NS-Zeit und heute, die Illusion, die Ereignisse für leicht versteh- und vermittelbar zu halten, und das Prinzip, nicht kritisches Geschichtsbewusstsein, sondern Affekte zu fördern. Daher verwundert es, dass die Autorin diese Kritikpunkte im Fallbeispiel nicht zu einem entscheidenden Kriterium für die Beurteilung des Unterrichts macht.

Nach der Entstehungsgeschichte des Amerikanisierungsparadigmas und einer Einführung in die us-amerikanische Schullandschaft und Grundschulpädagogik widmet sich Heike Deckert-Peaceman einem konkreten Beispiel von Holocaust Education an einer Grundschule. Der Bundesstaat New Jersey ist einer der wenigen, die einen Auftrag zur Holocaust Education verbindlich formulieren: “Every board of education shall include instruction on the Holocaust and genocides in an appropriate place in the curriculum of all elementary and secondary students.” (S.129) Die Konkretion schildert Deckert-Peaceman am Beispiel einer Lehrerin mit langjähriger Unterrichtspraxis in New Jersey, die seit mehreren Jahren mit ihren dritten Klassen in einer ca. dreiwöchigen Unterrichtseinheit mit jeweils unterschiedlichen Methoden und Schwerpunkten den Nationalsozialismus thematisiert. Grundlage der ethnografischen Studie von Deckert-Peaceman sind Beobachtungen im Feld, Interviews und Videoaufzeichnungen, die vor der teilnehmenden Beobachtung auf Initiative der Lehrerin aufgenommen wurden. Durch die intensive Zusammenarbeit mit der Lehrerin ist es Deckert-Peaceman möglich, die Einbettung der Unterrichtseinheit in die curriculum stories, also die narrative pädagogische Gesamtkonzeption, deutlich zu machen und den Unterricht anschaulich in seiner Entwicklung während mehrerer Jahre zu schildern.

Allerdings lässt der Forschungsansatz der Autorin keine Schlüsse auf die Rezeption des Unterrichts bei den Kindern zu. Hier können auch die Videoaufzeichnungen wenig weiterhelfen, da sie nur unvollständig und relativ zufällig das Unterrichtsgeschehen dokumentieren. Die Beschreibung des Fallbeispiels ist so eine ausführliche Dokumentation möglicher Unterrichtsansätze. Diese Ansätze werden zwar in einen gesellschaftlichen Kontext (Amerikanisierungsparadigma) gestellt, und auch hinsichtlich ihrer Bedeutung und Spezifik im schulischen Kontext verortet, doch bleibt Deckert-Peacemans Einschätzung, der beschriebene Geschichtsunterricht liefere ein differenziertes Geschichtsbild über den Holocaust, obwohl er analog zum Amerikanisierungsparadigma verlaufe, schwer nachzuvollziehen. Dabei argumentiert sie über weite Strecken mit den allgemeinen pädagogischen Qualitäten der Lehrerin, wie zum Beispiel mit dem Vertrauensverhältnis und Diskussionsklima in den jeweiligen Klassen. Natürlich ist Holocaust Education auch an ihrer allgemeinen Didaktik und im pädagogischen Kontext zu messen. Allerdings erübrigt sich damit nicht die Frage nach der Wissenschaftsorientierung von Geschichtsunterricht, also der Anspruch, dass sich der Unterricht an wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Sachthema zu messen hat. Und auch der Vorwurf einer Instrumentalisierung bzw. Banalisierung des nationalsozialistischen Massen- und Völkermordes kann nicht mit dem Verweis auf Kompetenz und Glaubwürdigkeit der Pädagogin entkräftet werden.

Die Frage, wann und wie Kinder an deutschen Schulen von den Massen- und Völkermorden des nationalsozialistischen Deutschlands erfahren sollen, ist nach wie vor ungeklärt und bedarf der Analyse von Unterrichtskonzepten. Die Beschäftigung mit den us-amerikanischen Ansätzen ist dabei unerlässlich. Für die weitere Debatte hat Heike Deckert-Peaceman daher einen wertvollen Beitrag geleistet.

Anmerkungen:
1 Einen Überblick gibt die Dokumentation der Tagung: Jürgen Moysich / Matthias Heyl (Hg.), Der Holocaust. Ein Thema für Kindergarten und Grundschule? Hamburg 1998 und das Themenheft „Holocaust als Thema in der Grundschule“, Die Grundschulzeitschrift, 10/1996/97.
2 Z.B. in: Klaus E. Müller / Jörn Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg 1977, oder in: Waltraud Schreiber, Die Entwicklung historischer Sinnbildungskompetenzen als Ziel historischen Lernens mit Grundschülern, in: Dies. (Hg.), Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens, Band 1, Neuried 1999.

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