J. Arndt: Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit

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Titel
Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750


Autor(en)
Arndt, Johannes
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 224
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
610 S.
Preis
€ 99,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Bellingradt, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Was Johannes Arndt vorliegend in monographische Form gegossen hat, ist das vorläufige Endergebnis eines Forschungsprojektes, welches 2001 als „Sachmittelbeihilfe“ der DFG startete. Die dem Projekt zugrundeliegende Idee ist weder als spektakulär noch als originell zu bezeichnen, sondern vielmehr als eine feinsinnige Synthese zu charakterisieren, die der Autor selber als „eine historiographische Rekonstruktion“ (S. 30) bezeichnet. Arndts Leistung besteht darin, dass er Forschungsströmungen der historischen Presse- und Kommunikationsforschung zum frühneuzeitlichen gedruckten Medienensemble mit Luhmannscher Systemtheorie verknüpft.1 Das Ergebnis ist ein von Eigenlogik angetriebenes „Mediensystem der politischen Druckpublizistik“, das die Sammlung von Informationen mit deren textlicher Fertigung und der typographischen Umsetzung samt Distribution und Rezeption in einen kommunikativen Zusammenhang stellt.2

Zwar setzte sich die Geschichtswissenschaft durchaus mit den Auswirkungen, Dynamiken und Implikationen eines gemäß Luhmanns Systemtheorie als selbstreferenziell und reflexiv zu bezeichnenden Mediensystems auseinander, doch fehlte bis zur Publikation der ersten Ergebnisse aus Arndts Projekt der Transfer zur frühneuzeitlichen Kommunikations- und Mediengeschichte. In diesen Forschungsströmungen war nicht mehr zu übersehen, dass das „Preßwesen“ besonders zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert strukturell von Momenten der Intertextualität, Interdependenz und Intermedialität geprägt war. Dass nahezu Alles – kopierend, adaptierend, kompilierend, kommentierend, variierend – ‚recyclet‘ werden konnte und wurde, was an (mündlichen, handschriftlichen und gedruckten) Vorlagen und Inspirationen innerhalb des frühneuzeitlichen Medienverbundes verfügbar war oder zirkulierte, war als Phänomen unübersehbar.3 Johannes Arndt kommt das Verdienst zu, als Erster die Dynamik des Weiterverarbeitens von Themen, Texten und Graphiken systematisch in den Fokus gestellt und diese mit Luhmannschem „Sinnprozessieren“ aufgeladen und ummantelt zu haben. Im Arndtschen Modell, kurz „Mediensystem“ genannt, wird die Eigenlogik des entworfenen Systems auf zwei grundlegende Dynamiken heruntergebrochen: Ökonomie und Eigeninteresse.

In der Einleitung, auf die zwei Hauptteile und ein Schlusswort samt umfangreichem Anhang folgen, formuliert der Autor das Ziel seiner Studie. Mittels eines Zugangs über „Öffentlichkeit“ beabsichtigt er, Reichs- und Mediengeschichtsschreibung zusammenzuführen. Ein medien- und kommunikationshistorischer Blick soll ausloten, welche Rolle und Funktion der druckpublizistischen „Berichterstattung“ über Innenpolitik während des anvisierten Zeitfensters (1648–1750) im Alten Reich zukam. Unter „Berichterstattung“ versteht Arndt diejenigen Informationen, die textlich verfertigt und typographisch umgesetzt innerhalb seines Mediensystems an diversen Stellen, das heißt in unterschiedlichen Druckmedienformaten, auftauchen. Um dies nicht als schlichte Gegebenheit von Publizität zu deuten, richtet Arndt sein Interesse auf die Phase vor diesem Auftauchen. Ihm geht es um das Verständnis der „Prozesse der Nachrichtengewinnung, -verarbeitung und -verbreitung“ (S. 12). An diesem Punkt breitet er seine Konzeption des „Mediensystems“ erneut aus, die variiert bereits 2004 und 2010 von ihm vorgetragen worden ist. In verkürzter und abstrahierender Form ausgedrückt, koppelt Arndt ausgewählte, für ihn brauchbare Aspekte aus dem Luhmannschen Kosmos der Systemtheorie aus, um die konstatierte „Eigendynamik der politischen Berichterstattung“ (S. 15) erklärbar machen zu können.

Für Arndt liegt der attraktivste Aspekt einer systemtheoretisch inspirierten Interpretation in der Idee der Zirkularität. So gelingt es ihm, die „fortdauernde Dynamik“ (S. 34), die das „Mediensystem“ auf eigenlogischem Trab hielt, genauer zu hinterfragen. Der „Modus der ständigen Rückkopplung“ (S. 39) zwischen den Ebenen der materiellen und immateriellen Produktion von Druckpublizistik auf der einen und den Konsumenten auf der anderen Seite vollzieht sich in einem ökonomischen Rahmen: Arndts „Mediensystem“ ist geprägt von einer ökonomischen Grunddynamik, die von einer potentiellen Lukrativität von Nachrichten für deren Produzenten, Distribuenten und Konsumenten ausgeht. Indem Nachrichten als immaterielles Gut mit temporaler Attraktivität bzw. monetärer Wertigkeit gekennzeichnet werden, baut Arndt auf Überlegungen zum ökonomischen Nachrichtenwert von Jürgen Wilke auf. Die Gefahr der Vergänglichkeit bzw. des Wertigkeitsverlustes von Nachrichten beschleunigte die Berichterstattung insbesondere über politische Themen, so der Tenor der Einleitung. Indem Arndt am Faktor des Nachrichtenwerts ansetzt, positioniert er diesen an den Beginn eines medialen Prozesses, der einen „Nachrichtendurchlauf“ (S. 35) auslöste, der wiederum nichts anderes war als eine dynamische Weiterverarbeitung und -verbreitung in unterschiedlichen Formen und Formaten des gedruckten Medienensembles.

Im ersten Hauptteil „Das Frühmoderne Mediensystem“ rekurriert Arndt auf den einschlägigen Forschungsstand. Die Zirkularität des frühneuzeitlichen Nachrichtensystems, die Ausdifferenzierung und Diversifizierung des gedruckten Medienensembles während des Jahrhunderts zwischen ca. 1648 und 1750, die Entwicklungsphasen und zeitgenössischen Phänomenen der Produktion, Distribution und Konsumption finden hier thematische Erwähnung. Auffällig ist jedoch ihre nur geringe Anbindung an die vorab formulierten Thesen und die Gesamttheorie.

Der zweite Hauptteil („Das Reichssystem und die Fallstudien“) ist empirisch geprägt und widmet sich den „politischen Berichtsmedien“ im konkreten Konfliktfall. Dass Konflikte zwischen Reichsständen nahezu zum Regelfall gehörten – und auch mediales Getöse in Form von Druckpublizistik zu den zeitgenössischen Spielregeln und Strategien zu rechnen war –, hat die Forschung in den letzten Jahren wiederholt betont. Arndt kennzeichnet diese Konfliktanfälligkeit als Konsequenz einer „horizontalen Konkurrenz“ (S. 243), die im Konfliktfall zu einer allmählichen Durchlöcherung des arkanen Herrschaftsbereichs führte. Wie und warum dies geschah, thematisieren die im Mittelpunkt dieses Hauptteiles stehenden fünf Fallbeispiele. Sie widmen sich dem Aufkommen, Volumen und Einsatz von Varianten der Druckpublizistik während der politischen Konfliktfälle um das Reichsvikariat zwischen Kurbayern und Kurpfalz von 1657/58–1745, der Errichtung der neunten Kurwürde für den Herzog von Braunschweig-Lüneburg 1692–1714, nehmen sich der Reichsacht gegen Kurfürst Max Emanuel von Bayern 1701–1714, des Konfessionskonflikts im Fürstentum Nassau-Siegen 1702–1743 und schließlich des Ständekonflikts im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin 1708–1755 an. Deutlich erkennbar ist die jüngst von Volker Bauer betonte gegenseitige mediale Beobachtung der Obrigkeiten4, die noch ergänzt wurde durch die Beobachtungsleistungen („Vertextungen“) des Mediensystems. Eine Konsequenz des gegenseitigen Beobachtens scheint es gewesen zu sein, dass man im Konfliktfall versuchte, opportune Deutungen – durch gezielte Indiskretionen und Veröffentlichungen – „reichs-kündig“ werden zu lassen. Und was einmal „reichs-kündig“ war, das wurde fortan recyclet, ergo nach- und weitergedruckt in den Zeitungsperiodika, den Varianten der Flugpublizistik, selbst in Historienschriften.

Anstelle eines wünschenswerten dritten Kapitels, das übergeordnete Perspektiven einnimmt und die überaus relevanten und vielen Befunde nochmals phänomenologisch verdichtend diskutiert, findet sich ein kurz geratenes Schlusswort. Hier skizziert Arndt zwar einige Konsequenzen aus den Befunden des zweiten Hauptteils, aber eine wirkliche Auseinandersetzung oder gar Verzahnung des Theorie- und Empirieteils findet nur bedingt statt. Auf drei wichtige Folgerungen sei in aller Kürze eingegangen: Plausibel – und in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Pressehistoriographie besonders zum „Zeitungswesen“ seit dem 17. Jahrhundert – argumentiert Arndt, dass von einem Bereich der Herrschaftsarkana im Konfliktfall fast nicht mehr gesprochen werden kann angesichts der „erstaunlich viele[n] politische[n] Informationen [, die] im Umlauf waren“ (S. 505). Ebenso folgerichtig erscheint Arndts Deutung bezüglich der obrigkeitlichen aktiv-initiierenden Öffentlichkeits-Strategien, aus denen sich erkennen lasse, dass das „Mediensystem“ zeitgenössisch als eigenlogisches System samt seinen Dynamiken verstanden – und manipulativ in der Innenpolitik genutzt – wurde. Wichtig erscheint auch der Hinweis auf die bremsenden und beschleunigenden Faktoren der medialen Weiterverarbeitung, denn manche Konflikte waren schlichtweg derart komplex und somit nur bedingt medial vermittelbar, dass sie nicht weiterverarbeitet wurden. Gleichzeitig durchliefen einige andere Konflikte aufgrund ihrer medialen Darstellbarkeit und aufgrund der Fülle an sukzessive verfügbaren und verwertbaren Informationen regelrechte typographische Medienkarrieren.

Mit den präsentierten Modellierungen eines „Mediensystems“ bietet Arndt genügend Sprengstoff für eine komplette Re-Interpretation des frühneuzeitlichen Publizistikwesens. Die interpretatorischen Auswirkungen, die ein eigenlogisches, beobachtendes und zum Recycling in extenso neigendes Kommunikationssystem samt produzierender „Herrschaftskontrolle“ für die Reichs- und insbesondere Politikhistoriographie der Frühen Neuzeit haben kann, sind in Konturen bereits erkennbar. Nicht zu verschweigen ist jedoch, dass der jetzige Entwurf des „Mediensystems“ noch offene Flanken bietet. Beispielsweise: Wieso sollte sich das System auf die ökonomische Weiterverarbeitung lediglich eines thematischen Segments der frühneuzeitlichen Druckpublizistik (Politik) beschränken? Welche Gewichtung kommt den intermedialen Momenten der Informationszirkulation zu? Nicht jede „Berichterstattung“ beginnt mit einem typographischen Text, sondern oftmals stehen skriptographische oder orale Quellen am Beginn der Zirkulation. Nicht zuletzt ist zu fragen, ob das auf Innenpolitik konzipierte Prozessieren des „Mediensystems“ auch im Bereich der Außenpolitik mit ökonomischer Dynamik beschrieben werden kann.

Anmerkungen:
1 Johannes Arndt, Gab es im frühmodernen Heiligen Römischen Reich ein „Mediensystem der politischen Publizistik“? Einige systemtheoretische Überlegungen, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 6 (2004), S. 74–102.
2 Das zunächst für seriell-periodische Druckpublizistik konzipierte Modell erweiterte Arndt 2010 um akzidentielle Drucktitel (Tagesschrifttum, Flugpublizistik). Johannes Arndt / Esther-Beate Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750), Göttingen 2010.
3 Siehe einleitend: Volker Bauer / Holger Böning (Hrsg.), Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, Bremen 2011; Klaus-Dieter Herbst (Hrsg.), Astronomie, Literatur, Volksaufklärung, Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben, Bremen 2012; Gerhild Scholz Williams / William Layher (Hrsg.), Consuming News. Newspapers and Print Culture in Early Modern Europe (1500–1800), Amsterdam 2008; Joad Raymond (Hrsg.), The Oxford History of Popular Print Culture, Vol. 1: Cheap Print in Britain and Ireland to 1660, Oxford 2011.
4 Volker Bauer, Nachrichtenmedien und höfische Gesellschaft, in: Arndt / Körber (Hrsg.), Mediensystem, S. 173–194.

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