F. Braudel: Geschichte als Schlüssel zur Welt

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Titel
Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941. Aus dem Französischen von Peter Schöttler und Jochen Grube, herausgegeben von Peter Schöttler


Autor(en)
Braudel, Fernand
Erschienen
Stuttgart 2013: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Moisel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Als Kommentar zum Hauptwerk Fernand Braudels will der Herausgeber und Übersetzer Peter Schöttler, als Spezialist für die Geschichte der „Annales“ mit zahlreichen Publikationen einschlägig ausgewiesen, die Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft verstanden wissen, die lange als verschollen galten, nun aber mustergültig übersetzt auch in deutscher Sprache vorliegen. Fernand Braudel (1902–1985), hierzulande besonders als Autor einer fulminanten Studie über das Mittelmeer zur Zeit Philipps II. ein Begriff, avancierte nach dem Zweiten Weltkrieg zur zentralen Gestalt der einflussreichen französischen sozialgeschichtlichen Zeitschrift „Annales“. Dass sein Hauptwerk der Geschichte eines geographischen Raumes gewidmet war und der politischen Ereignisgeschichte eine klare Absage erteilte, wurde beim Erscheinen der Habilitationsschrift 1949 als Fanal gewertet, und es bedurfte langer Jahre, bevor seine Studie 1990 in deutscher Übersetzung erscheinen konnte.

Jetzt sind also auch die theoretischen Überlegungen auf Deutsch erschienen, die Braudel in deutscher Kriegsgefangenschaft und parallel zum Mittelmeerbuch in den Jahren des Zweiten Weltkriegs verfasst hat. Ausgehend vom Befund einer „aktuellen schweren Krise der Geschichtswissenschaft“ in Frankreich (S. 45) formuliert er den Anspruch einer neuen Geschichtsschreibung, die als interdisziplinäres Projekt angelegt und weit umfassender sein sollte als traditionelle Politikgeschichte: „Wir aber wollen alle Lampen gleichzeitig anschalten.“ (S. 46) Nicht mehr und nicht weniger. Mit einem feinen Gespür für den unaufhaltsamen Aufschwung der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen ausgestattet, glaubt Braudel dennoch das Alleinstellungsmerkmal der Geschichtswissenschaften ausfindig gemacht zu haben. Während die Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler den Blick auf die jeweils gegenwärtigen Ereignisse und Problemlagen richten würden, seien die Historiker für den übergreifenden Blick in die Vergangenheit zuständig: „Als Historiker müssen wir unsere eigenen Geographen, Ökonomen und Juristen sein. Für die Gesellschaften von gestern müssen wir uns um alles kümmern […].“ (S. 47) Diese Definition mag rückblickend naiv erscheinen, dauern die Debatten über das Verhältnis der Geschichte (besonders der Zeitgeschichte) zu ihren sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen doch bis heute an.1

Was Braudel indes vor allem fordert, ist ein Umdenken im eigenen Fach. Viele Ereignisse, so wichtig sie dem Zeitgenossen erscheinen mögen, seien nicht mehr als „unvollkommene Momentaufnahmen“, und erst in der Rückschau könne das Besondere vom Unwichtigen geschieden werden: „Die Geschichte ist keine bloße Erzählung von Ereignissen“, so Braudel in seinem einleitenden Kapitel (S. 32). Die Zukunft gehöre einer „tiefgreifenden Geschichte“, die neben einem Bericht über die Ereignisse auch eine Erklärung anzubieten habe; einer Geschichte, die neben der Erzählung über herausragende Persönlichkeiten vor allem auch ganze Gruppen betrachten müsse. Diese „kollektiven Geschichten“ seien dem Zufall viel weniger unterworfen, als die herkömmliche Geschichtsschreibung uns glauben machen wolle.

Worin aber unterscheiden sich Braudels Vorlesungen von der Einführung Marc Blochs (1886–1944), der zusammen mit Lucien Febvre wenige Jahre zuvor die „Annales“ begründet hatte und zur gleichen Zeit und im Widerstand unter wohl vergleichbar schwierigen Bedingungen seine Einführung in Theorie und Methode der Geschichte konzipierte?2 Es ist dies zum einen die souveräne Weltläufigkeit des Autors. Während die Ausführungen Blochs eine tiefe Vertrautheit mit den Kulturlandschaften Frankreichs atmen, kennt Braudel auch Nordafrika und Brasilien aus eigener Anschauung; diese Erfahrungen haben seinen Blick auf die Geschichte geprägt. Den Mittelmeerraum hat Braudel nicht nur beschrieben und archivalisch erforscht, er hat ihn bewohnt und seine Landschaften genau beobachtet. Dass Braudel dem Raum, genauer: der „géohistoire“ seiner Untersuchungsräume eine besondere Bedeutung zuweist, mag daher auch aus seiner Biographie zu erklären sein. Die Geographie eines Untersuchungsraumes und die Wechselwirkungen mit den Menschen in diesen Landschaften werden bei Braudel zum Programm: „Es gibt wirklich kein soziales Problem, das man nicht in einen geographischen Rahmen stellen, also räumlich ausbreiten und mit dem Raum konfrontieren müsste. Und es gibt auch keine soziale Realität, die nicht einen Ort auf dieser Erde hätte […].“ (S. 93) Dass er diese Thesen schließlich am Beispiel der im Zweiten Weltkrieg besetzten Grenzregion Lothringen erläutert, der er eine Schlüsselrolle in der Französischen Revolution zuweist, ist als feinsinnige und zugleich unmissverständliche Kritik des in einem ostfranzösischen Dorf geborenen Braudel an der deutschen Besatzungspolitik zu lesen.

Die vorliegenden Passagen sind mustergültig übersetzt und immer anregend. Während Bloch den Leser aber mit einer Fülle an konkreten Beispielen unterhalten kann, sind die Ausführungen Braudels vergleichsweise knapp gefasst – es ist dies vielleicht der wichtigste Hinweis darauf, dass es sich bei den Vorlesungstexten der „Lageruniversität“ um ein Fragment handelt, das vom Autor selbst für die Veröffentlichung nie abschließend bearbeitet worden ist. Und während Braudel ausnehmend ernsthaft und überaus kämpferisch für seine Sache eintritt, mit Seitenhieben auf Kollegen nicht spart, hat Bloch eines nie aus den Augen verloren – dass die Beschäftigung mit der Geschichte ihm eine Berufung war, vielleicht nicht immer nützlich, aber in jedem Fall außerordentlich unterhaltsam.

Die jetzige Ausgabe von Braudels Texten ist ein wichtiges Werk, das nicht nur die Geschichte der „Annales“ und ihrer Rezeption, sondern auch die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen um ein wichtiges Kapitel ergänzen kann. Dass intellektuelle Leitfiguren der französischen Nachkriegszeit wie Braudel ihre prägenden Deutschland-Erfahrungen in Kriegsgefangenenlagern des Deutschen Reichs gemacht haben, ist erst in jüngster Zeit ausführlich dokumentiert und in seiner Wirkung auf die Geschichte der beiden Nachbarländern noch längst nicht hinreichend erforscht worden (vgl. dazu Schöttlers Nachwort im vorliegenden Band, S. 187–211).

Es bleibt das befremdete Erstaunen darüber, wie vieler Jahre es nach dem Zweiten Weltkrieg bedurfte, bevor die von Braudel und seinen französischen Kollegen konzipierten Ideen auch in Deutschland auf offene Ohren stießen. Sie alle – Bloch, Braudel und manche andere – kannten Theodor Mommsen, Karl Brandi, Jacob Burckhardt (vgl. S. 39). Wer aber hierzulande war mit den „Annales“ hinreichend vertraut? „Jedenfalls gibt es, soweit ich sehe, in der geschichtswissenschaftlichen Literatur der Bundesrepublik bis heute keine Übersetzungen von Veröffentlichungen in der Zeitschrift ‚Annales’“, konstatierte Friedrich Lucas 1974 anlässlich des erstmaligen Erscheinens von Blochs „Apologie“ in deutscher Sprache.3

Wieder einmal ist es Peter Schöttler, der mit seinem vorzüglich annotierten Nachwort den deutschen Leser in die verwickelte, mit den deutschen Zuständen so vielfältig verbundene Geschichte der „Annales“ entführt. Dass Braudel sein Mittelmeerbuch in deutscher Kriegsgefangenschaft und ohne Rückgriff auf sein Archiv konzipiert hat, gehört heute zum kanonischen Wissen historischer Proseminare. Dass aber ein nicht unbeträchtlicher Teil der intellektuellen Elite Frankreichs den Zweiten Weltkrieg in deutschen Offizierslagern verbrachte – insgesamt fünf lange Jahre Gefangenschaft sind es für Braudel am Ende gewesen –, hat im kollektiven Gedächtnis und in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik keinen Ort gefunden. Selbst wenn Braudel bei der Abfassung seiner Habilitationsschrift im Oflag (Offizierslager) in der Nähe von Lübeck, anders als die Legende es will, Zugriff auf die mehrere tausend Bände umfassende Lagerbibliothek hatte (und es schmälert seine intellektuelle Leistung keineswegs, wenn wir das heute erfahren), entstanden in diesen Jahren eben keine Netzwerke, die für eine rasche Rezeption seiner Ideen in Deutschland nach dem Krieg Voraussetzung gewesen wären.

Tiefenschärfe schließlich erhalten die vorliegenden Aufzeichnungen in der Gesamtschau und nach der Lektüre der hier in neuer Übersetzung vorliegenden autobiographischen Aufzeichnungen „Wie ich Historiker wurde“, die Braudel Anfang der 1970er-Jahre für das „Journal of Modern History“ verfasst hat. Wenn Braudel darin mit größter Bescheidenheit von herausragenden Studienleistungen berichtet und von seiner eigenen Begeisterung für Ereignisgeschichte in den ersten Jahren als Lehrer für Geschichte an französischen Gymnasien in Constantine und Algier, dann lässt sich die ungeheure Wegstrecke ermessen, die bis zur radikalen Neukonzeption historischer Theorie und Methode auch für ihn zu bewältigen war.

Anmerkungen:
1 Siehe zuletzt etwa Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508, und Bernhard Dietz / Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293–304.
2 Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. Nach der von Étienne Bloch edierten französischen Ausgabe hrsg. von Peter Schöttler, Stuttgart 2002, 2. Aufl. 2008.
3 Ders., Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Ins Deutsche übertragen von Siegfried Furtenbach, Stuttgart 1974, S. 9 (Die in Anm. 1 genannte Neuausgabe ist heute unbedingt vorzuziehen.).