A. Knudsen u.a. (Hrsg.): Lebanon after the Cedar Revolution

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Titel
Lebanon. After the Cedar Revolution


Herausgeber
Knudsen, Are; Kerr, Michael
Erschienen
London 2012: Hurst & Co.
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 22,45
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Thuselt, Universität Erlangen-Nürnberg

Die Notwendigkeit zu diesem Sammelband ergibt sich aus zwei auf der Hand liegenden Gründen. Zum einen aus dem, angesichts der Fülle Libanon-spezifischer Literatur, geradezu erstaunlichen Mangel an synoptischen Bänden, deren Anliegen es sein sollte, analog zu den alten Bänden von Hudson und Binder1, einen aktuellen Gesamtüberblick über das Land und sein politisches System zu bieten. Zum anderen jedoch aus einem Aspekt, der in der Tat unbedingt eine neue Synopse erfordern müsste: Wenn Are Kerr feststellt, dass der Libanon nach 2005 libanesischer als je zuvor sei (S. 31), so umreißt dies sehr präzise die wichtigste Veränderung des Landes in den letzten Jahren. Allerdings gelingt es dem vorliegenden Band keinesfalls einen solchen hohen Anspruch einzulösen. Die Ursache hierfür muss eindeutig in der stark schwankenden Qualität der Beiträge gesucht werden: So fehlt etwa im ersten analytischen Beitrag Kerrs vollkommen die in der These über das besondere Konfliktpotential eines Identitätskonfliktes enthaltene Anbindung an hierzu in reichem Maße vorhandene Fachliteratur. Der Autor zitiert im Wesentlichen einen eigenen Beitrag.

Grundsätzlich ist der Band in vier Teile gegliedert, deren genaue Gliederung jedoch schon anhand ihrer unpräzisen Überschriften eher vage bleibt: „Foreign Intervention, Hegemony, and Consocationalism“ ist weniger eine konzise Überschrift, denn vielmehr je ein Schlagwort zu jedem der drei unter dem ersten Abschnitt subsummierten Beiträge. Hierzu gehört eine grundlegende historische Einleitung, welche die Zeit nach 2005 behandelt, ein – wie bereits moniert – kaum theoretisch fundierter Beitrag Kerrs zur Zeit vor der Revolution und schließlich eine Analyse Amal Hamdans zu Repräsentation und Partizipation im Konkordanzsystem. Unter Rückgriff auf diese Unterscheidung Brendan O’Learys führt die Autorin aus, dass die schiitische Konfession an letzterem bei weitem nicht ausreichend teilhabe. Ein Umstand, der auch 1989 in Ta’if nicht beseitigt worden sei. Daraus ergebe sich ein andauernder Konflikt um Macht, der oberflächlich als Interpretationsfrage daherkomme, de facto aber grundlegende Machtfragen stelle. Das einzige Manko dieses Aufsatzes bleibt sein unverständliches Zögern das genaue Erscheinungsbild einer verstärkten schiitischen Partizipation anstelle eines bloß korporatistischen Konkordanzmodells zu benennen. Hier bleibt der Eindruck zurück, dass letztlich der konfessionelle Proporz abgeschafft werden solle. Dies mag in Teilen der akademischen Landschaft des Libanon recht populär sein, nimmt aber gerade die noch zuvor beschriebenen Ängste nicht wirklich ernst.

Der nächste Abschnitt des Bandes ist mit „Sovereingty, Security, and Violence“ betitelt. Marie-Joëlle Zahar versucht in ihrem Beitrag zur Schwäche (bzw. Stärke) des libanesischen Staates einen impliziten Teil dieses Proporzes, die indirekte Beteiligung auswärtiger Akteure, theoriegeleitet zu beleuchten. Mit ihrer Unterscheidung zwischen zwei Dimensionen einer möglichen Stärke-Schwäche-Dichotomie (1. Machtbalance zwischen Staat und Gesellschaft; 2. die Frage, inwieweit diese Beziehungen auch transnationale Charakteristika widerspiegeln) erweist sie der oftmals recht flach geführten Debatte um die berühmten „Stellvertreterkriege“ und die konfessionelle Natur des libanesischen Staates einen großen Dienst. Am Beispiel der christlichen Lobby verdeutlicht sie die Bedeutung von Marginalisierungsängsten für diese „Nebenaußenpolitik“ gesellschaftlicher Akteure. Ihre Schlussfolgerung muss dabei alarmieren: Wäre es vor dem Bürgerkrieg von 1975 noch um Marginalisierung gegangen, so dominiere nunmehr die Angst vor vollkommener Exklusion aus den politischen Prozessen (S. 80).

Elizabteh Picard, verzichtet zwar auf eine theoretische Basis, liefert jedoch einen mit Informationen reich gesättigten Streifzug durch die libanesische Sicherheitslandschaft und zeigt dabei die Zusammenhänge zwischen Konkordanzsystem und militärischer Schwäche des Landes nach Ta’if auf. Da Oren Baraks Buch zu den libanesischen Streitkräften2 die Wiederaufbauphase des Militärs eher oberflächlich streift, kann dieser Aufsatz als notwendiges Korrektiv verstanden werden. Picard zeigt das Scheitern des Aufbaus einer glaubwürdigen Landesverteidigung auf, indem sie dies als Ergebnis verschiedener politischer Konflikte deutet.

Schließlich analysiert Sari Hanafi die palästinensischen Flüchtlingslager des Landes als „Ausnahmezonen“. Leider kann dieser Beitrag nicht ganz überzeugen. Die Zitation Agambens vermag leider auch nicht aufzuhellen, worin genau eine Parallele zwischen dem Lager Guantanamo, einem palästinensischen Flüchtlingslager und einem Viertel wie Bab al-Tabbanah liegt. Die These dies geschähe, damit die „Zivilisierten“ ungestörter am Störenden vorbeizirkulieren könnten, erschließt sich nicht ganz. Leider sind es überdosierte Thesen wie diese, die einem an sich überaus wichtigen Ansinnen des Autor Schaden zufügen: Den Klischees der allgegenwärtigen Latenz islamistischer Gewalt in den Lagern (und den angrenzenden Vierteln) eine fundiertere Analyse entgegenzuhalten. Hanafi stellt fest, dass die meisten islamistischen Gruppen sich exklusiv auf die Palästinenser und Palästina selbst fokussieren und keine libanesische Agenda aufweisen. Darüber hinaus, dass der Abzug der PLO 1982 zu einem Vakuum führte, welches mit unpopulären pro-syrischen Splittergruppen und einer totalen Fragmentierung der Lagerautoritäten gefüllt wurde. Ausgehend davon schlägt er eine palästinensische politische Repräsentanz im Lande vor und argumentiert, dass kompetentere palästinensische Sicherheitskräfte vom libanesischen Staat zugelassen werden müssten. Ein Vorschlag, der unbedingt bedenkenswert wäre. Allerdings bleibt die Frage offen, inwieweit palästinensische Sicherheitskräfte die Menschenwürde besser respektierten würden und wie garantiert werden könnte, dass dieselben nicht abermals angesichts der Schwäche des libanesischen Staates als weiterer bewaffneter Patron libanesischer Akteure auftreten.

Im dritten Teil des Bandes sollen „Entrepreneurs, Statesmen, and Martyrs“ behandelt werden, wobei der Plural täuscht: Es geht fast nur um Hariri. Hannes Baumann widmet sich in seinem Beitrag eingehend den Verschiebungen im sunnitischen Sektor des Libanon. Aufbauend auf eine glücklicherweise um die Variable des sozialen Kapitals erweiterte Klassenanalyse beschreibt er eine „New Contractor Bourgeoisie“. Dabei baut er einen interessanten Vergleich zwischen Hariri, dem ungleich lokaler verorteten Najib Miqati sowie dem christlichen ʾIssam Fares auf. Im Ergebnis unterstreicht dieses die Bedeutung zweier Faktoren: Die Verfügbarkeit überlokalen finanziellen Kapitals zum einen, zum anderen jedoch auch die Relevanz sozialen Kapitals, also des Aufbaus einer Legitimation, die eine gewisse Mobilisierung zu tragen vermag.

Ward Vloebergh wiederum zeichnet den Prozess der „Märtyrerwerdung“ Rafiq al-Hariris nach. Er beginnt dies mit einem Verweis auf die internationale Konfliktkonstellation, die eine Voraussetzung hierfür gewesen sei und begeht dann – was besonders lobenswert ist – nicht den Fehler alle politischen Prozesse und Phänomene des Libanon zu Füßen regionaler oder gar globaler Konflikte allein abzuladen. Mit seiner Analyse der Hagiographie Hariris zeigt er deutlich auf, wie sehr hier der persönliche Machtanspruch der Hariri-Familie mit dem sunnitischen Anspruch in Beirut Hand in Hand ging.

Im Gegensatz hierzu vermag der Beitrag Fabrice Balanches keinesfalls zu überzeugen. So sehr wir dem Autor gerne glaube wollen, dass ihm der „Neoliberalismus“ hinreichend unsympathisch ist, sollte er doch davon Abstand nehmen, solche Beweggründe des eigenen Engagements zur alleinigen Einteilungskategorie des politischen Libanon zu wählen (vor allem S. 158ff.). Der „8. März“ beinhaltet keine „re-apropriation“ des neoliberal-feudalisierten Zentralbeiruts durch die überkonfessionellen Befürworter eines starken Staates und der „14. März“ ist keine neoliberale Sammlung. Beide Lager zeichnen sich eben nicht durch eine einheitliche wirtschaftspolitische Zielsetzung aus, geschweige denn, dass die Hizb-Allah und ihre Verbündeten unhinterfragt als Vertreter eines „dawlah qadirah“, eines handlungsfähigen Staates gesehen werden dürften. Gerade diese Partei gehört auch zu den Profiteuren seiner Schwäche und sie ist mit einigen der vom Autor beklagten „Fromagistes“ verbündet (ʾArslan, Frangié, Miqati, zeitweise auch Skaff). Vereint diese Akteure wirklich ihre Gegnerschaft zu einem von den USA vorangetriebenen Globalisierungsprojekt (S. 160)? Die Trennlinien der christlichen Parteien können so ebenfalls unter gar keinen Umständen erklärt werden.

Wenn Balanche schreibt, seit der Übernahme der Macht durch die Allianz aus „8. März“, FPM und PSP unter Miqati würden nunmehr die „businessmen“ aus dem Wiederaufbau des Staates verbannt werden, fühlt man sich angesichts des Milliardenvermögens Miqatis einigermaßen verunsichert, ob es wohl sinnvoll sein könne, mehr als ein cleavage in Betracht zu ziehen.

Im letzten Teil des Buches soll es um „Truth, Coexistence, and Justice“ gehen. In Sune Haugbolles Beitrag wirkt der Einschub über die Erinnerungskultur rund um das für den Libanon schicksalhafte Jahr 1982 zunächst deplatziert. Allerdings verfolgt auch er ein Ziel, welches sich jedoch erst zum Ende des Artikels hin erschließt. Der Autor stellt zunächst fest, dass die mittlerweile fast überbordende Beschäftigung mit der Erinnerung an den libanesischen Bürgerkrieg durch eine „creative class“ (S. 185) dabei die historiographische Beschäftigung verdrängen würde. Die Strategie, immer nur verschiedene Narrative zur Sprache bringen zu lassen, habe – angesichts der Amnesie des offiziellen libanesischen Staates – zu einer Fülle dezentralisierter, von politischen Parteien dominierter und konfessionalistischer Narrative geführt. Er schlägt deshalb das systematische Anlegen „emotionaler Archive“ vor, um weniger offensichtlich machtpolitisch motivierten, individuellen Narrativen in all ihren Facetten Raum zu verschaffen. Dafür müsse man also die zwischengeschalteten „tribalen oder konfessionalistischen“ Identitäten (S. 201f.) durch eine radikale Hinwendung zum als modern deklarierten Individuum, ausschalten. Allerdings muss dieser einseitig normative Modernitätsdiskurs Haugbolles durchaus auch kritisch gesehen werden.

Nasser Yassin knüpft am Punkt der „Re-Tribalisierung“3 an. Sein Augenmerk liegt auf der Konstruktion konfessioneller Räume. Yassin beobachtet eine „Co-existence Without Empathy“ unter den von ihm und seinen Mitarbeitern Befragten. Angst kann dabei als maßgebliche Determinante dieser Einteilung gelten. Dabei muss die Stadt in „banal places“ und „exclusionary places“ eingeteilt werden, also Bereiche in denen keine konfessionell-politische Aufladung erwartet wird (etwa am Arbeitsplatz) und solche in denen dieselbe nachgerade als Schutzversprechen für den Einzelnen fungiert (S. 212). Damit grenzt sich Yassin vorteilhaft von jenen Ansätzen ab, die nur die Dichotomie Koexistenz oder Teilung annehmen.

Der Band wird beschlossen von Are Knudsen, einem der beiden Herausgeber. Sein Beitrag befasst sich mit dem Sondertribunal zum Mord an Rafiq al-Hariri. Der Autor schlussfolgert, dass der begrenzte Auftrag des Gerichtes maßgeblich zu seinem Scheitern beigetragen hätte. Da seine Arbeit lediglich auf der Basis libanesischen, nicht internationalen, Rechtes erfolge, sei auch keine wirkliche Aufklärung zu erwarten, da etwa Syrien nicht kooperieren müsse. Libanesische Akteure wiederum würden das Tribunal in ihre innenpolitischen Zielsetzungen einbinden. Der Versuch, zum ersten Mal nicht das Geschehene im Ungefähren zu lassen, so lässt der Autor durchblicken, sei auch vor dem Hintergrund der Politisierung des Gerichtes zu verstehen. Es ist Knudsen anzurechnen, dass er auf jenen demagogischen Überschuss verzichtet, dem etwa INAMO4 nicht zu widerstehen vermochte. Etwas mehr Licht auf die fragwürdigen Strategien aller Beteiligten hätte allerdings der über einige Zeilen zu langatmigen historischen Bestandsaufnahme gut getan.

Insgesamt betrachtet gelingt es dem Band dabei zwar einen großen Bogen zu schlagen, er kann jedoch nicht für sich behaupten, der neue Überblicksband zum Libanon zu sein. Hierzu differenzieren seine Beiträge zu stark, in Qualität wie Inhalt, ebenso erscheint auch die Gesamtkonzeption des Buches zu wenig stringent.

Anmerkungen:
1 Michael C. Hudson, The Precarious Republic, New York 1968; Leonard Binder (Hrsg.), Politics in Lebanon, New York 1966.
2 Oren Oren Barak, The Lebanese Army. A National Institution in a Divided Society, Albany 2009.
3 Samir Khalaf, Civil and Uncivil Violence in Lebanon, A History of the Internationalization of Communal Conflict, New York 2004, S. 262–272.
4 Jörg Tiedjen / Norbert Mattes: Wer ermordete „Mr. Lebanon“?, in: INAMO 66 (2001) S. 4–46.

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