M. v. Albrecht: Geschichte der römischen Literatur (3. Aufl.)

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Titel
Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken


Autor(en)
Albrecht, Michael von
Erschienen
Berlin 2012: de Gruyter
Anzahl Seiten
XXXVIII, 1605 S.
Preis
€ 199,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin

Den Heidelberger Emeritus Michael von Albrecht muss man kaum vorstellen. Seine Klassiker „Meister römischer Prosa von Cato bis Apuleius“ (Heidelberg 1971, 4. Aufl. Darmstadt 2012) und „Römische Poesie. Texte und Interpretationen“ (Heidelberg 1977, 2. Aufl. Tübingen 1995) lehrten ganze Generationen von Lateinstudierenden das Handwerk präziser Textanalyse. Neben Monographien zu Cicero, Lukrez, Seneca oder Silius Italicus, etlichen Studien zur Rezeptionsgeschichte und exquisiten Übersetzungen (insbesondere Vergils und Ovids) zeichnet er auch verantwortlich für eine vorzügliche Rom-Anthologie.1 Doch spätestens mit seiner monumentalen „Geschichte der römischen Literatur“ (zuerst 1992; 2. Aufl. 1994), die in nicht weniger als sieben Sprachen übersetzt wurde und es sogar zu den Ehren einer dtv-Ausgabe brachte, wurde er jedem zum Begriff, der sich heute ernsthaft mit antiker Literatur befasst. In unseren Breiten ist seine Literaturgeschichte – wie auch die gerade erschienene dritte Auflage eindrucksvoll unterstreicht – die wohl erfolgreichste latinistische Publikation der letzten fünfzig Jahre.

Das hat gute Gründe. Literaturgeschichten aus einer Hand neigen gerne zur Kürze2, während hinter größeren Formaten in aller Regel ein Kollektiv steht, wie (um in Rom zu bleiben) bei Fuhrmanns „Römischer Literatur“ (1974), der „Cambridge History of Classical Literature 2: Latin Literature“ (1982) oder dem stattlichen „Handbuch der lateinischen Literatur der Antike“, von dessen sechs Bänden erst drei erschienen sind.3 Vergleichen ließe sich von Albrechts Unternehmen am ehesten mit Albin Leskys „Geschichte der griechischen Literatur“ (zuerst Bern 1957/58, 3. Aufl. 1971), die ebenfalls drei Auflagen erlebte und bis heute für ihre feinsinnige Gesamtschau des antiken hellenischen Schrifttums Lob erfährt – auch wenn sie die Kaiserzeit, aus der sich die meisten Texte erhalten haben, im Vergleich zur archaischen, klassischen, hellenistischen Epoche ein wenig stiefmütterlich abhandelt.

Doch von Albrechts Unterfangen ist, bei allem Respekt gegenüber Leskys Leistung, ungleich eindrucksvoller (und erinnert mit seinem epischen Atem an Nordens Monolith „Die antike Kunstprosa“).4 Das liegt nicht allein am doppelten Umfang, der ein deutlich schmaleres Textcorpus entsprechend gründlich beleuchtet (mehrere hundert Seiten widmet Band zwei den beiden Stiefkindern traditioneller Literaturgeschichten: Spätantike und christlicher Literatur)5, sondern auch an der wohldurchdachten Konzeption des Werks. Gleichsam als Brückenköpfe fungieren zwei umfassende Kapitel am Anfang und am Ende des Werks, die Auskunft zu den ‚Entwicklungs-‘ bzw. den ‚Überlieferungsbedingungen‘ der römischen Literatur erteilen. Gleich vier ausgedehnte Querschnitte vermitteln einen Überblick zu den Epochen ‚Republik‘, ‚Augusteische Zeit‘, ‚Frühe Kaiserzeit‘ sowie ‚Mittlere und späte Kaiserzeit‘. Und insgesamt 19 diachrone Längsschnitte stellen die großen wie kleinen Gattungen der römischen Literatur vor, also etwa Epos, Drama, Historio- und Biographie, Lehrgedicht und Lyrik, Epigramm und Elegie, Rhetorik und Roman. Wie viel Arbeit zudem in den erschöpfenden Bibliographien steckt, die sowohl Übersichts- wie Autorenkapitel jeweils beschließen, mag man sich gar nicht ausmalen.6

Allein schon diese Übersichtskapitel, die auf Schritt und Tritt von Albrechts souveräne Vertrautheit mit dem Sujet, seinen eigenständigen Blick auf den Stoff, sein Talent für eine klar strukturierte Darstellung und nicht zuletzt seinen flüssigen, verständlichen Stil belegen, lohnen die Anschaffung der zwei Bände. Ein kleines Beispiel: Man dürfte lange suchen, bis man den kreativen Umgang römischer Autoren mit ihren griechischen Vorbildern (spätestens seit augusteischer Zeit auch mit der eigenen römischen Tradition), kurzum: die imitatio als ‚Prinzip der literarischen Nachfolge‘, so konzise wie hier erklärt findet (S. 11f.). Immer wieder finden sich auch prägnante Ein- oder Zweizeiler (ein Römer spräche von sententiae), die Essentielles zur Maxime verdichten und dem Leser lange im Ohr bleiben (zum Beispiel S. 9: „Die Komödie, die späteste Frucht am Baume der griechischen Poesie, kommt in Rom als erste zur Reife; das Epos, Griechenlands ältestes Genos, zuletzt.“).

Als wahre Schatzkammern erweisen sich aber vor allem die ungezählten kleinen wie großen Kapitel zu den einzelnen Autoren, namhaften wie nahezu unbekannten, die sich stets nach gleichem Muster in sieben Abschnitte gliedern: „Leben, Datierung“ (oft gefolgt von einer Werkübersicht), „Quellen, Vorbilder, Gattungen“, „Literarische Technik“, „Sprache und Stil“, „Gedankenwelt“ (als separater Unterpunkt erscheint das Stichwort „literarische Reflexion“) und schließlich die „Überlieferung“ der Texte sowie ihr „Fortwirken“ bis in die Gegenwart.

Ein stellvertretender Blick auf den republikanischen ‚Satiriker‘ Lucilius mag dieses Arrangement verdeutlichen (S. 214–227).7 Da dieser Großonkel des Pompeius gesellschaftlich und ökonomisch so gut gestellt war, dass er seinen Freund Scipio finanziell unterstützen konnte, „feiert[e]“ die Poesie in ihm „gewissermaßen ihre Erhebung in den Ritterstand“ (S. 214). Nach einer kurzen Übersicht über das nur in zahlreichen Fragmenten erhaltene Werk8 geht von Albrecht auf Vorbilder und Quellen des eminent belesenen Lucilius ein: so auf Ennius, der sich wohl als erster Römer mit der satura befasste, die kynisch-stoische Diatribe, aber auch die Philosophie allgemein und – wie von Albrecht überzeugend herausarbeitet – Kallimachos (die beiden letzten Punkte kehren im Kapitel „Gedankenwelt“ zentral wieder). Der Abschnitt „Literarische Technik“ macht aus der Not der fragmentarischen Überlieferung eine Tugend und analysiert meisterlich Lucilius’ 13 Verse umfassende Ekphrasis der virtus; „Sprache und Stil“ würdigen unter anderem Lucilius’ sprachschöpferische Ader. Der Schlusspart zum „Fortwirken“ beschränkt sich unvermeidlich auf antike Autoren9, wobei Horaz und Persius im Zentrum stehen, und gerät unter der Hand zur Würdigung „dieses vielleicht originellsten und ‚römischsten‘ der römischen Dichter“, des „eigentlichen Begründer[s] der römischen satura […], ja der europäischen Satire überhaupt“ (S. 225).10

Wie der Abschnitt zu Lucilius gut vor Augen führt, liegt eine besondere Stärke des Werks in den so material- wie lehrreichen Ausführungen zu den ‚minores‘, die im Universitätsbetrieb kaum eine Rolle spielen und selbst für umtriebige Philologen mitunter ‚terra incognita‘ darstellen. Mit umso größerem Vergnügen geht man in diesen exotischen Gefilden auf Entdeckungsfahrt; von Albrecht weckt die Neugier auf Cassiodor oder Marius Victorinus, auf christliche Übersetzer wie Rufinus („ihre Wirkung ist größer als ihr Ruhm“, S. 1429), auf die juristische Fachliteratur (ein gerade für Historiker ergiebiges Kapitel, S. 515–535, 747–750, 1086f. u. 1289–1312) oder auf lateinische Dichter jenseits der großen Namen, wie Calpurnius oder Domitius Marsus, die Priapea oder die Poetae novelli, Rutilius Namatianus oder Sedulius. Hier findet sich auch die einzige ernsthafte Lücke des Werkes: Selbst im Register sucht man vergebens die so wirkmächtige Anthologia Latina.

Eine zweite Stärke, die von Albrechts Unternehmen aus den typischen antiken Literaturgeschichten heraushebt, ist sein Stichwort „Fortwirken“, das als besonderer Schwerpunkt der Autorenkapitel höchst sachkundig die Rezeption der Autoren von der zeitgenössischen Literatur bis in die Gegenwart beleuchtet. Hier belegt jede Seite von Albrechts stupende Belesenheit, die (um von den mittelalterlichen Zeugen zu schweigen) Blok und Broch ebenso umfasst wie Chaucer und Corneille, Klopstock und Kleist, Milton und Montesquieu, Pope und Puschkin, Swift und Smollett, Tasso und Tolstoj.11 Doch gehen die Ausführungen weit über die Auflistung relevanter Texte hinaus. Gerade dem Weg großer Namen folgt von Albrecht durch die antike, mittelalterliche, neuzeitliche Kulturgeschichte. Auf den fünf Seiten zu Ovids Nachleben (S. 683–688) skizziert er etwa die prägende Wirkung des Augusteers im 12. Jahrhundert, der so genannten aetas Ovidiana, in der auch die ersten modernen Übersetzungen entstehen. Auf die Legenden um den ‚Magier‘ und ‚Bischof‘ Ovid geht er ebenso ein wie auf die moralische Kritik an seiner ‚Sinnlichkeit‘ – die seiner Karriere als viel gelesener Schulautor nicht hinderlich war. Dantes Hochschätzung wird zum Stichwort für Ovids Einfluss auf Autoren seit der frühen Renaissance; aber auch die fruchtbare Auseinandersetzung der bildenden Künste und der Musik mit den Metamorphosen rückt in den Blick.

Zur dritten, bibliographisch wie inhaltlich auf den aktuellen Stand gebrachten Auflage seines opus magnum et arduum darf man dem Heidelberger latinistischen Nestor aufrichtig gratulieren – und dem Werk den allseitigen herzlichen Zuspruch wünschen, den es wahrlich verdient.

Anmerkungen:
1 Michael von Albrecht, Rom. Spiegel Europas. Texte und Themen, Heidelberg 1988 (2. Aufl. 1998). Als Fingerübung kann seine bei Reclam herausgegebene fünfbändige Reihe „Die römische Literatur in Text und Darstellung“ gelten (Stuttgart 1985–1991).
2 Vgl. u.a. Karl Büchner, Römische Literaturgeschichte, Stuttgart 1957 (6. Aufl. 1994); Ludwig Bieler, Geschichte der römischen Literatur, Berlin 1961 (3. Aufl. 1972); Manfred Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999 (2. Aufl. 2005).
3 Manfred Fuhrmann (Hrsg.), Römische Literatur, Frankfurt am Main 1974; Edward J. Kenney / Wendell V. Clausen (Hrsg.), Cambridge History of Classical Literature, Bd. 2: Latin Literature, Cambridge 1982; Reinhart Herzog / Peter L. Schmidt (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike (bisher erschienen Bd. 5: Restauration und Erneuerung. Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n.Chr., München 1989; Bd. 4: Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur 117 bis 284 n. Chr., München 1997; Bd. 1: Die archaische Literatur. Von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von 240 bis 78 v. Chr., München 2002).
4 Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom 6. Jahrhundert von Christus bis in die Zeit der Renaissance, 2 Bde., Leipzig 1898 (zahlreiche Nachdrucke).
5 Auf rund 180 Seiten Text kommen schon die fünf ‚umfangreichsten‘ Autoren: Seneca, gefolgt von Vergil, Cicero, Ovid und Livius.
6 Nur ganz vereinzelt fehlt Zentrales, zu Ovid etwa Richard J. Tarrants maßgebliche neue met.-Ausgabe, P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, Oxford 2004.
7 Dem Autorenkapitel geht ein umsichtiger Exkurs zur satura voraus, der versucht, Charakteristika dieser urrömischen, von Lucilius, Horaz, Persius und Juvenal vertretenen Gattung zu destillieren (S. 206–214). In welchen Metamorphosen sie mitunter weiterlebt, erfahren wir zu den Briefen des Hieronymus, „der uns die großen Tugenden und die kleinen Fehler seiner geistlichen Brüder und Schwestern mit der Kraft eines geborenen Satirikers vor Augen stellt“ (S. 435).
8 Entsprechend fehlt ein Abschnitt zur Textüberlieferung.
9 Der kaum datierbare Grammatiker Nonius Marcellus (3.–5. Jh.) hatte wohl als letzter einen vollständigen Lucilius-Text zur Hand.
10 Universitätslehrer wie Studierende werden von Albrechts expliziten Hinweise auf Forschungsdesiderate zu schätzen wissen: Lucilius’ „Sprachpflege und Formkunst, seine Leistung als Lebensphilosoph, Psychologe, Kulturphysiognomiker und als Ahnherr späterer Moralisten und Essayisten harren noch der Würdigung“ (S. 226). Solche Hinweise begegnen dem Leser immer wieder, etwa zu Sallusts Historiae, zu Nepos oder zu Caesar, bei dem von Albrecht allein vier vielversprechende neue Aufgabenfelder benennt (S. 361).
11 Hier gäbe es gelegentlich Nachträge, u.a. zu Cicero (Max Brod, Armer Cicero, Berlin 1955), zu Vergil (Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt am Main 1983), zu Ovid (Ernst Fischer, Elegien aus den Nachlaß des Ovid, Leipzig 1963; Volker Ebersbach, Der Verbannte von Tomi, Berlin 1984; Helmut Heissenbüttel, Von Liebeskunst, Stuttgart 1986), zu Seneca (Seneca, Thyestes. Deutsch von Durs Grünbein, Frankfurt am Main 2002; Durs Grünbein, An Seneca, Postskriptum, Frankfurt am Main 2004), zu Lukan (Claude Simon, La Bataille de Pharsale, Paris 1985) oder zu Plinius (Wolfgang Held, 79 – ein Brief des jüngeren Plinius, Frankfurt am Main 1979).

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